Der CSU-Chef und die Migrationsfrage Horst Seehofer ist die Moral abhanden gekommen
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagelang schwieg er zu den Vorfällen in Chemnitz. Nun hat Horst Seehofer Worte gefunden – und in der Migration die Ursache aller Probleme im Land verortet. Das ist ebenso falsch wie gefährlich.
Horst Seehofeer ist ein Freund der Zuspitzung. Gegen Flüchtlinge, die nur des Geldes wegen nach Deutschland kämen, wollte er sich einst "bis zur letzten Patrone" wehren. Der Bundesrepublik attestierte er diktatorische Zustände, als er mit Blick auf die Zeit seit Beginn der Flüchtlingskrise von einer "Herrschaft des Unrechts" sprach.
Nun hat Seehofer erneut zu einer drastischen Zuspitzung gegriffen. Im Interview mit der "Rheinischen Post" beschreibt er Deutschland als ein gespaltenes Land und nennt als Ursache dafür die Flüchtlingspolitik. Wortwörtlich sagte der Innenminister: "Die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land."
Ein Satz, der nicht nur inhaltlich falsch ist. Er ist auch gefährlich.
"Mutter aller politischen Probleme": Denkt man diese These weiter, dann hieße dies ja, wir hätten ohne Migranten keinen Pflegenotstand, wir hätten auch keine soziale Ungleichheit, keine Wohnungsnot, keine maroden Schulen, und so weiter und so fort.
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Ohne Frage: Die Migration hat in den vergangenen Jahren neue Probleme aufgeworfen und bestehende verschärft. Sie hat die Anspannung auf den städtischen Wohnungsmärkten vor allem für Geringverdiener weiter erhöht. Sie hat Kommunen vor Herausforderungen gestellt, die sie allein kaum bewältigen können. Sie hat viele Menschen verunsichert, auch wegen Gewalttaten junger Zuwanderer. Sie hat den Druck auf die Sozialkassen und die Sicherheitsbehörden erhöht und die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft auf die Probe gestellt.
Und genau da liegt das Problem: Seehofer spricht ständig von Migration, aber das Wort Integration kommt ihm nur selten über die Lippen. Wie wichtig ihm diese Aufgabe – eine Kernverantwortung seines Innenministeriums – tatsächlich ist, machte er im Juni deutlich, als er den Integrationsgipfel bei Kanzlerin Angela Merkel schwänzte: nämlich gar nicht.
Stattdessen schürt er Ängste und überhöht das Thema Migration zur Schicksalsfrage der Nation. Werde diese nicht beantwortet, "werden wir weiter Vertrauen verlieren", so Seehofer. Heißt: Dann würde die Polarisierung in Deutschland weiter voranschreiten. Er scheint nicht müde zu werden, dem "Wir schaffen das" der Bundeskanzlerin sein "Wir schaffen das nicht" entgegensetzen zu wollen. Dieses ewige Abarbeiten an Merkel wirkt fast schon pathologisch.
Es lohnt ein Blick zurück auf die großen Themen, die die Menschen bewegten, als die Flüchtlingsfrage noch nicht das alles beherrschende Thema in der Öffentlichkeit war. Bei der Bundestagswahl 2013 waren "Angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen" sowie "Eine gute Absicherung im Alter" laut Infratest dimap die wahlentscheidenden Themen.
Seither ist hier wenig passiert.
- Die Gehaltslücke zwischen Männern und Frauen besteht unvermindert fort.
- Im Osten sind weit weniger Arbeitnehmer durch Tarifverträge abgesichert als im Westen.
- Die Hälfte der Bundesbürger empfindet ihre Nettolöhne als ungerecht, in den unteren Einkommensgruppen sind es noch weit mehr.
An diesen Problemen ist nicht die Migrationsfrage schuld.
Halten wir Horst Seehofer zugute, dass er seinen Satz einzig auf die Folgeprobleme der starken Zuwanderung in den Jahren 2015 und 2016 bezieht. Doch aus seinem Mund ist dieser Satz gefährlich. Denn Seehofer spricht wie ein CSU-Wahlkämpfer und nicht wie ein Innenminister, der Verantwortung trägt für den Kampf gegen Rechtsextremismus, für die Asylpolitik und für die Integration.
In seinem Amt dient er den Bürgern auch als moralischer Kompass. Wer aber Migration zum Urproblem erhebt, der hält auch Migranten grundsätzlich für ein Problem. Wer so spricht, dem scheint die Moral abhanden gekommen zu sein. Und bestätigt den Eindruck vieler Menschen, dass sich die Politik immer weiter von den Alltagssorgen der Bürger entfernt.
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