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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Daten an deutsche Behörden Ausgerechnet Telegram kooperiert jetzt mehr mit Ermittlern
Elon Musks Plattform X und Mark Zuckerbergs Meta-Konzern mit Facebook und Instagram stehen in der Kritik, weil sie gegen Regulierungen kämpfen. Ein anderer, einst berüchtigter Messengerdienst lenkt dagegen ein.
Für Experten galt der Messengerdienst Telegram einst als wichtigste Plattform für Verschwörungsideologien und Rechtsextremismus in Deutschland: Es war der Ort, an dem sich viele der Angeklagten kennenlernten, die in Deutschland wegen Putschplänen vor verschiedenen Gerichten stehen. Es ist das Netzwerk, das nach der Eingabe des Begriffs "Drogen" in die Suche entsprechende Angebote lieferte. Telegram galt als Ort, an dem Gesetze kaum gelten. In den vergangenen Monaten hat sich dort viel getan.
Während Elon Musk mit X und nun auch Marc Zuckerberg mit den zum Meta-Konzern gehörenden Netzwerken Facebook und Instagram die Zeit und Regulierungen möglichst zurückdrehen wollen, hat Telegram begonnen, sich stärker an Regeln zu halten. Neueste Zahlen zeigen, dass das Netzwerk seit einigen Monaten intensiv mit zahlreichen Ermittlungsbehörden kooperiert.
Die Menge herausgegebener Daten ist stark angestiegen, fast explodiert. Zeitlich fällt diese Wende mit der Inhaftierung des Gründers Pawel Durow in Frankreich zusammen. Trotzdem ist der Trend allenfalls nur teilweise eine Folge davon. Die Unterstützung bei den Ermittlungen zu möglichen Straftaten hat maßgeblich mit der europäischen Gesetzgebung zu tun, gegen die Musk und Zuckerberg gerade schießen.
Versiebzehnfachung im letzten Quartal
Im vergangenen Jahr haben deutsche Behörden in 945 Fällen erfolgreich Anfragen an Telegram gerichtet. Telegram lieferte Informationen zu Accountinhabern, also Telefonnummern und Verbindungsdaten. Benjamin Krause, Leitender Oberstaatsanwalt bei der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT), sagt t-online aus seiner Praxis: "Mittlerweile haben wir gute Erfahrungen mit entsprechenden Auskunftsersuchen an Telegram gemacht und auf unmittelbare Anfrage relativ zeitnah Auskünfte und werthaltige Ermittlungsansätze erhalten."
Die ZIT gehört zur Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt, die für viele Ermittlungen des Bundeskriminalamts zuständig ist und die sich intensiv mit anderen Verfolgungsbehörden zu Internetkriminalität austauscht. Die Zentralstelle ist auch Gründungsmitglied des Judicial Cybercrime Network, einem europäischen Netzwerk von Justizbehörden zur Bekämpfung der Internetkriminalität. Über diesen Austausch erhielt die ZIT im Spätsommer die Information: Telegram beantwortet Anfragen. Krauses Behörde testete dies und gab die positive Erfahrung auch an andere Behörden weiter.
Fast alle Daten kamen im Oktober, November und Dezember. In den neun Monaten zuvor bis einschließlich September hatte Telegram insgesamt 53-mal Daten an deutsche Behörden geliefert. Im letzten Quartal versiebzehnfachte sich dieser Wert und das Netzwerk reagierte auf 892 Anfragen mit Daten. Deutsche Ermittlungsbehörden erhielten so Details zu insgesamt 2.237 Telegram-Nutzern.
Dies geht aus den Transparenzangaben hervor, die Telegram per Bot auf Nutzeranfragen bereitstellt. Tatsächlich liefert das Netzwerk diese Angaben jedoch jeweils nur entsprechend der Ländervorwahl der Handynummer des Anfragenden – mit einer deutschen Nummer erhält man nur den Wert für Deutschland. Dennoch ist ein internationaler Vergleich möglich, da Nutzer aus verschiedenen Ländern die Ergebnisse ihrer Abfrage entweder öffentlich gepostet oder für eine Auswertung des französischen Sicherheitsforschers und Aktivisten Etienne Maynier ("Tek") zur Verfügung gestellt haben.
Deutschland bekam nach Indien die meisten Daten
Deutschland liegt demnach 2024 auf Platz 2 weltweit, was Datenweitergabe angeht – weit abgeschlagen allerdings hinter Indien, dem größten Markt von Telegram. Dorthin lieferte Telegram schon in den ersten Monaten 2024 im großen Stil Nutzerdaten, die Zahl schnellte jedoch auch dort im vierten Quartal weiter nach oben. Die USA erlebten im vierten Quartal sogar fast eine Verhundertfachung und liegen jetzt im Gesamtjahr auf Platz 3 hinter Deutschland.
Auffällig ist, dass der Anstieg der Datenweitergabe auf ein Ereignis am 24. August am Pariser Flughafen Le Bourget folgt. An jenem Samstagabend war Pawel Walerjewitsch Durow, zu dem Zeitpunkt 39-jähriger IT-Unternehmer mit russischer und französischer Staatsangehörigkeit, aus einem Flieger gestiegen und festgenommen worden.
Dem Mann, der zuerst das russische Facebook-Pendant VK.com und dann 2013 als WhatsApp-Alternative Telegram gegründet hatte, war seine Rolle als Telegram-Chef zum Verhängnis geworden: Die Vorwürfe lauten, dass er sich durch Wegschauen und unzureichende Kooperation mit Behörden des Drogenhandels, der Geldwäsche, des Betrugs und mehrerer Vergehen im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch mitschuldig gemacht habe.
Auch deutsche Ermittler hatten den Eindruck, dass Telegram bewusst nicht freiwillig mit Strafverfolgungsbehörden kooperierte. Der Leitende Oberstaatsanwalt Krause sagt: "Wir haben unsere Ermittlungen zur Identifizierung von tatverdächtigen Telegram-Nutzern so ausgerichtet, dass wir nicht auf die Mithilfe von Telegram als Dienstanbieter angewiesen sind." Damit gelang es aber nur mit vergleichsweise hohem Aufwand und in Einzelfällen, entsprechende Tatverdächtige zu identifizieren.
Durow kam auf Kaution frei
In Frankreich kam Pawel Durow nach vier Tagen, einigen Befragungen und der Zahlung von fünf Millionen Euro auf Kaution frei, darf aber das Land nicht verlassen. Wenige Tage nach der Freilassung teilte er mit, überrascht über die Festnahme gewesen zu sein, weil er auch vorher ansprechbar gewesen sei.
Die Realität sah für deutsche Ermittler lange Zeit anders aus. Bei anderen Anbietern konnte Deutschland ein förmliches Rechtshilfeersuchen an die nationalen Behörden am Firmensitz richten, wenn diese selbst darauf verwiesen. "Bei Telegram war auch dieser Weg nicht wirklich möglich, da Telegram nicht 'offiziell' über den Sitz des Unternehmens informiert hatte", sagt Krause t-online.
Durow räumte in seinem Posting zumindest auch ein: Der "plötzliche Anstieg der Nutzerzahlen auf 950 Millionen" habe zu Anfangsschwierigkeiten geführt, die es Kriminellen erleichtert hätten, die Plattform zu missbrauchen. Gleichzeitig müsse man zwischen dem Schutzbedürfnis der Nutzer und den Auskunftsansprüchen von Behörden abwägen und riskiere es daher eher, in autoritären Staaten verboten zu werden. In Teilen der Welt hat Telegram seine Datenschutzbestimmungen angepasst, die nun eine Weitergabe bei berechtigten Behördenanfragen vorsehen. Und Telegram liefert seither für viele möglicherweise illegale Angebote keine Suchergebnisse mehr auf dem Silbertablett.
War Durow also nach der Haft eingeknickt? Am 2. Oktober meldete er sich wieder, es habe sich gar nicht so viel geändert. Und behauptete: Dass zuvor wenig Daten herausgegeben worden seien, habe an den Behörden gelegen, die einfach nicht den richtigen Weg genutzt hätten, den es seit dem frühen Jahr 2024 gegeben habe. Man hätte nur "Telegram EU address for law enforcement" googeln müssen, so Durow. Jetzt erst hätten mehr Verfolgungsbehörden in der EU begonnen, den von Telegram angebotenen Weg zu nutzen.
Erwartung war: Telegram lernt es auf die harte Tour
"Eigentlich hätte klar sein können, dass Telegram über kurz oder lang doch kooperiert", sagt Benjamin Krause, der Spezialist für Kriminalität im Internet. "Die Erwartung war eher, dass die EU-Kommission dafür erst gegen Telegram vorgehen muss." Denn in den vergangenen Jahren hat sich in der EU an den Rahmenbedingungen für Netzwerke Entscheidendes geändert.
Im Dezember 2021 hatte der damalige Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) noch geklagt: "Was auf Telegram in Umlauf gebracht wird, ist teils unanständig und oft auch kriminell." Er wünschte sich im Kampf dagegen "einen gemeinsamen europäischen Rechtsrahmen, der es uns ermöglicht, gegen Hass und Hetze im Netz vorzugehen".
Vier Tage zuvor hatte er mit seinen europäischen Amtskollegen zusammengesessen, um über diesen Rechtsrahmen zu sprechen. Inzwischen gibt es ihn – den Digital Service Act (DSA). Seit Februar 2024 gilt er auch für kleinere Anbieter mit weniger als 45 Millionen Nutzern in der EU, zu denen sich Telegram zählt. Um das zu überprüfen, läuft bei der EU bereits eine Untersuchung. Und gegen X und Meta laufen förmliche Verfahren, weil sie sich mutmaßlich nicht ausreichend an die Regeln etwa zur Eindämmung von Desinformation halten.
Das Regelwerk sieht auch die Möglichkeit empfindlicher Geldbußen vor. An dem Einlenken von Telegram zeigt sich deshalb für ZIT-Leiter Krause, "wie wichtig eine europaweite Regulierung in diesem Bereich der international tätigen Internetdienste ist".
Musk, Zuckerberg und deren Unterstützer treten verstärkt dagegen auf und argumentieren, sie würden die Meinungsfreiheit stärken, wenn in ihren Netzwerken weniger gegen Hate Speech und Desinformation vorgegangen wird. Eine Argumentation, die wiederum Durow provoziert: Telegram habe "die Meinungsfreiheit unterstützt, lange bevor es politisch sicher war, dies zu tun. Unsere Werte hängen nicht von US-Wahlzyklen ab", schrieb er auf X und in seinem Netzwerk. Es lasse sich leicht sagen, dass man etwas unterstützt, wenn man nichts riskiert.
*Nach Erstellung der Grafik sind noch weitere Daten bekannt geworden: So ist Südkorea mit 270 erfolgreichen Behördenanfragen unter den Ländern mit der meisten Behördenkommunikation.
- Eigene Recherchen
- cemas.io: Wie Telegram zur wichtigsten Plattform für Verschwörungsideologien und Rechtsextremismus wurde
- Github: Datensammlung von Tek zu Telegrams Behördenanfragen
- Telegram: Kanal Pawel Durow
- twitter.com: Tweet Marco Buschmann
- Gespräch mit Benjamin Krause