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Zum journalistischen Leitbild von t-online.AfD-Parteitag Die Maske ist gefallen
Alice Weidel ist nun nicht nur Chefin, sondern erste Kanzlerkandidatin der AfD. Auf dem Parteitag in Riesa setzt sie ein Zeichen, das ihre Partei verändern wird.
Alice Weidel steht in der Sachsenarena von Riesa vor einer blauen Wand, acht Deutschlandfahnen links von ihr, acht rechts von ihr. Von den Delegierten im Saal ist sie gerade als erste Kanzlerkandidatin der AfD bestätigt worden – ohne Kritik, ohne Gegenstimme. Weidel könnte sich nun zurücklehnen. Doch sie tut etwas anderes. In der Rede, die sie nun hält, setzt sie ein Signal.
In einem 100-Tage-Zukunftsplan verspricht sie viel – für den derzeit aussichtslosen Fall, dass die AfD regiert. Am lautesten verspricht sie dabei, was für viele ihrer Parteikollegen im Saal am wichtigsten ist. Eine klare Ansage werde die AfD machen, ruft Weidel laut: "Die deutschen Grenzen sind dicht. Sie – sind – dicht!" Sozialleistungen für "Nicht-Aufenthaltsberechtigte" sollten zudem nicht mehr ausgezahlt, Asylbewerbern Sach- statt Geldleistungen gegeben und: Rückführungen vorgenommen werden.
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Weidel zuckt mit den Schultern. "Und ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn es dann Remigration heißen soll, dann heißt es eben Re – Mi – Gra – Tion."
Der Saal jubelt, klatscht. Delegierte halten große blaue Pappherzen in die Luft, die vorher auf ihren Tischen verteilt wurden. "Alice für Deutschland", steht auf einer Seite.
Alice Weidel tut in diesen Momenten zwei Dinge, die sie vorher noch nie getan hat. Sie sind beide tiefgreifende Kehrtwenden der AfD-Spitzenkandidatin. Und sie sind ein Bekenntnis, ein Geschenk – an die Rechtsextremisten in ihrer Partei: Ich gehe euren Weg mit. Wir sind jetzt eins.
Novum Nummer 1: Weidels Slogan ist jetzt "Alice für Deutschland"
Da wäre zuerst der neue Wahlkampfslogan "Alice für Deutschland". Mit einigem Vorlauf muss der Slogan auf die blauen Herzen gedruckt worden sein, die die jubelden Delegierten hochhalten. Der Gastgeber in Riesa, AfD-Landeschef Jörg Urban, hat sich außerdem bereits kurz vor Weidels Auftritt mit diesen Worten nach einer Rede von der Bühne verabschiedet: "Damit schließe ich mit dem Wahlspruch, mit dem wir in Sachsen in die Wahl gehen werden: Alice für Deutschland!" Immer wieder werden die 600 Männer und Frauen im Saal während Weidels Rede den Slogan auch in der Gruppe skandieren.
Das Problem an dem Slogan: Er erinnert bewusst stark an eine Parole von Adolf Hitlers SA, mit der zuletzt der Thüringer AfD-Chef und Rechtsextremist Björn Höcke für internationale Schlagzeilen und ein Gerichtsurteil gesorgt hat.
Der Hintergrund: Weil Höcke den SA-Spruch "Alles für Deutschland" bei einem Auftritt verwendete, wurde er angeklagt und im Mai 2024 wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zu einer Geldstrafe von 13.000 Euro verurteilt. Höcke aber tat viel, um die Parole wieder zu beleben: Immer wieder verwendete er den von Historikern klar als Nazi-Slogan definierten Spruch während der Gerichtsverhandlung und behauptete fälschlicherweise, er sei von der SA gar nicht besonders genutzt worden – beobachtet von der nationalen und internationalen Presse.
Wegen des ähnlichen Klangs fingen AfD-Fans auf Veranstaltungen rasch an, "Alice für Deutschland" zu fordern. Die SA-Parole, in neuer Gestalt.
Weidel aber nutzte die Steilvorlage bisher selbst nie. Bei einer Veranstaltung mit Björn Höcke und Weidel in Erfurt im Herbst sollen Ordner sogar durch die Menge geschickt worden sein, um einzelne Rufer des Slogans zum Schweigen zu bitten – zumindest erzählten das AfD-Leute dort unter der Hand. Nun nimmt Weidel die nur leicht abgewandelte SA-Parole, made by Höcke, gerne und gezielt an.
Novum Nummer 2: Weidel will jetzt offiziell "Remigration"
Ganz ähnlich ist es bei Weidels zentralem Satz von der "Remigration". Denn sie hat den Begriff lange vermieden. Aus guten Gründen: Zwar stammt das Wort aus der Soziologie, schon lange aber haben es Rechtsextremisten gekapert – zuerst die von dem Österreicher Martin Sellner gegründete "Identitäre Bewegung", dann die gesamte Szene.
Es ist inzwischen ein Sammelbegriff und Tarnwort zugleich geworden für Fantasien von Rassisten. Ihnen spielt in die Karten, dass es vieles bedeuten kann: zum Beispiel die freiwillige Rückkehr von Ausländern in ihr Heimatland (wie in der Soziologie), die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber oder ganzer Volksgruppen oder mit Druck und Gewalt herbeigeführte Deportationen – sogar von Menschen, die gar nicht Ausländer sind, sondern nur einen Migrationshintergrund haben. Also auch Menschen, die einen deutschen Pass haben, die hier geboren worden sein können.
Weidel weiß das nur zu gut. Mehrere AfD-Politiker nahmen 2023 in Potsdam an einem Treffen mit "Identitären"-Chef Martin Sellner teil, bei dem es um harte Remigrationspläne gegangen sein soll – unter anderem soll hier auch darüber gesprochen worden sein, Druck auf Menschen mit Migrationshintergrund auszuüben, die schon lange in Deutschland leben, damit die das Land verlassen.
So berichtete es die Rechercheplattform "Correctiv" – und Deutschland stand für Wochen Kopf. Hunderttausende gingen bundesweit gegen die AfD auf die Straße. So viel Gegenwind hatte die Partei seit Langem nicht erhalten.
Weidel reagierte auf dieses Entsetzen im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen nicht mit Trotz, sondern beugte sich. Zumindest ein wenig. Rasch entließ sie einen für sie wichtigen Referenten, der an dem Sellner-Treffen teilgenommen hatte. Ihr Bundesvorstand beauftragte eine Arbeitsgruppe, eine Remigrationsdefinition zu entwerfen, die nicht völlig rassistischen Fantasien erliegt, sondern möglichst rechtskonform ist.
Und selbst danach blieb Weidel zurückhaltend: Während Landesverbände wie Brandenburg und Thüringen, die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft werden, bei den Landtagswahlen im Herbst ihren Wahlkampf vollständig unter den Begriff "Remigration" stellten, verwendete die AfD-Chefin ihn in ihren Reden bisher nicht. Von der Presse auf das Vorgehen ihrer Parteikollegen angesprochen, äußerte sie sich eher zurückhaltend-skeptisch.
Tillschneider: "Wenn sie damit voran geht, dürfen wir auch"
Damit ist seit diesem Samstag Schluss. Weidel will sich der Kritik offenbar nicht mehr beugen. Im Gegenteil: Sie gibt den Radikalsten in ihrer Partei, von Ost bis West, für diesen Wahlkampf nunmehr die ganz lange Leine. Die verstehen – und sind begeistert.
Rechtsaußen Hans-Thomas Tillschneider, stellvertretender Landeschef in Sachsen-Anhalt, lacht im Gespräch mit t-online: Er finde die Rede von Weidel gut. "Ich wurde von einem Kollegen gefragt: Hast du die geschrieben?" Der Remigrationssatz bedeute von der Parteichefin viel. "Wenn sie damit voran geht, dann dürfen wir auch."
Und was versteht Tillschneider unter "Remigration"? Es brauche einen grundlegenden Mentalitäts- und Politikwechsel, sagt er. Es sollten nicht mehr "alle Menschen aller Länder der Welt aus allen möglichen Gründen" in Deutschland aufgenommen werden. "Und wer hier ist, sich nicht einfügt, sich nicht an die Regeln hält, sich nicht integriert, der muss raus – so schnell, wie es die Gesetze erlauben."
Protschka: "Heute regt sich kein Mensch auf"
Der bayerische Landeschef Stephan Protschka, Vorsitzende im radikalsten AfD-Verband im Westen, sieht es ähnlich: "Frau Weidel hat den Nagel auf den Kopf getroffen."
Sein Landesverband hat im November eine hochumstrittene "Remigrationsresolution" auf einem Parteitag beschlossen, die auch die "Rückführung" von "Personengruppen mit schwach ausgeprägter Integrationsfähigkeit und -willigkeit" verlangt. Wann das der Fall ist, ließ das Papier offen. Die Staatsbürgerschaft will die bayerische AfD außerdem "bei schweren Verstößen gegen das geltende Recht" wieder aberkennen. Die öffentliche Kritik war groß, vieles erinnerte an dem offiziell verabschiedeten Papier an Sellners Pläne. Auch die AfD-Bundesspitze – darunter vor allem Weidel – ärgerte sich massiv darüber. Als unnötige Provokation wurde er empfunden. Das aber war vor Monaten.
"Wir haben das beschlossen, da war der Aufschrei groß", sagt Protschka. "Heute stellt sich Merz hin und fordert genau das, was bei uns drin steht – regt sich kein Mensch drüber auf." Tatsächlich hat CDU-Chef Friedrich Merz im Wahlkampf gerade die Idee ins Spiel gebracht, Menschen bei schweren Rechtsverstößen die Staatsbürgerschaft zu entziehen.
Die AfD formuliere hart, so Protschka. Doch klare Sprache sei gut und wichtig. "Ich muss mit 100 Prozent Wahlkampf machen, damit ich danach 50 bis 60 Prozent von dem umsetzen kann, was ich versprochen habe."
Musk schwebt über allem
Einen Mann in Übersee dürften nicht nur diese Sätze von Protschka sehr erfreuen, sondern Weidels noch viel mehr.
Er schwebt über dem AfD-Parteitag, obwohl er viele Kilometer, vermutlich einen ganzen Ozean weit entfernt ist: Elon Musk. Mit dem Tech-Milliardär und Trump-Berater hielt Weidel am Donnerstagabend einen Livetalk, der ihr national wie international Aufmerksamkeit verschaffte wie nie zuvor. Meinungsfreiheit war dabei eines ihrer wichtigsten Themen, sie ist der behauptete Antrieb für Musks gesamtes politisches Schaffen.
Weidel hat sich zu Anfang ihrer Rede bei Musk bedankt: "Ich bedanke mich bei Elon Musk, der diesen Parteitag live streamt. Damit jeder sehen kann, wofür wir Politik machen. Jeder soll es sehen: freedom of speech. Wir stehen für die Meinungsfreiheit."
Doch noch einmal hat dieser Parteitag eindrücklich gezeigt, was Weidel und Musk mit Meinungsfreiheit wirklich meinen: Geschichtsklitterung und Fremdenfeindlichkeit.
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es irrtümlicherweise, die AfD wolle Asylbewerbern Geld- statt Sachleistungen geben. Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben den Fehler korrigiert.
- Eigene Recherchen vor Ort beim AfD-Parteitag in Riesa