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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Dietmar Woidke "Ein Irrsinn, den kein Bürger mehr versteht"
In einer Woche wird in Brandenburg gewählt. Ministerpräsident Dietmar Woidke will einen Wahlsieg der AfD verhindern. Ein Gespräch über Fehler im Umgang mit der AfD, eine zu späte Asylwende – und was er von seinem Großvater gelernt hat.
Dietmar Woidke führt in sein Büro in der Potsdamer Staatskanzlei: große Holztische, kleine Figuren und Urkunden auf den Regalen, abstrakte Malerei von Manfred Zémsch. Die Schaltzentrale des Brandenburger Ministerpräsidenten versprüht den Charme von Disziplin und Funktionalität.
"Die Sachsen residieren in Schlössern, wir Preußen sitzen in Kasernen", feixt Woidke, als wolle er sich für sein Büro entschuldigen. Er kokettiert mit seiner Bescheidenheit, ein erster Test für die Journalisten. Im darauffolgenden Interview zeigt sich Woidke von einer anderen Seite: kämpferisch und selbstbewusst.
t-online: Herr Woidke, nach dem Attentat von Solingen geht die Ampel in die Offensive: Leistungskürzung für Ausreisepflichtige, Messerverbote, Grenzkontrollen. Hat sich Olaf Scholz damit eine Einladung nach Brandenburg verdient, um doch mit Ihnen Wahlkampf zu machen?
Dietmar Woidke: Olaf Scholz ist in Brandenburg immer willkommen. Er wohnt hier in Potsdam. Bei meinem Wahlkampf geht es aber nicht um den Bundeskanzler, sondern darum, wer Brandenburg in die Zukunft führt.
In Berlin ist man darüber verschnupft, dass Sie die Bundes-SPD aus Ihrem Wahlkampf heraushalten. Befürchten Sie, dass der unbeliebte Kanzler Ihnen die Wahl verhagelt?
Vor fünf Jahren wurde mir gesagt, dass ich die Landtagswahl verliere, wenn die SPD im Bund ihre Krise nicht überwindet. Damals lag sie bei 13 Prozent. Wir sind es also gewohnt, keinen Rückenwind aus Berlin zu bekommen. Im Gegenteil, mussten wir Brandenburg immer aus eigener Kraft gewinnen. Das wollten wir den Menschen von Anfang an im Wahlkampf klarmachen: Es geht um Brandenburg. Es geht darum, wer unser Bundesland regiert.
Was in Berlin passiert, hat aber auch Einfluss auf Brandenburg. Zuletzt ist der Migrationsgipfel an der Frage geplatzt, ob Deutschland Flüchtlinge an der Grenze zurückweisen darf. Wie blicken Sie auf das, was die Ampelregierung jetzt umsetzen will?
Schmollen und immer nur mit dem Finger auf die anderen zu zeigen, hilft nicht. Es braucht eine gemeinsame Kraftanstrengung von Regierung, Opposition, Bund und Ländern, um beim Thema Migration weiter voranzukommen. Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger zu Recht. Ich erwarte, dass sämtliche Optionen ohne parteipolitische Spielchen geprüft werden, damit die irreguläre Migration nach Deutschland weiter begrenzt wird.
In Brandenburg haben wir es besser hinbekommen und mit den Landräten und Oberbürgermeistern in der letzten Woche gezeigt, wie man gemeinsam beim Thema Migration und Sicherheit zu einer Lösung kommen kann. Bestehende Regeln müssen eingehalten und notwendige neue schnell festgelegt werden. Das erwarten die Menschen von uns.
In einer "11-Punkte-Erklärung", die Sie gemeinsam mit den Landräten verfasst haben, gehen Sie viel weiter: Darin fordern Sie die Aussetzung der Dublin-III-Verordnung und die Zurückweisung von Asylbewerbern, die über sichere Drittstaaten gekommen sind. War das mit der Bundes-SPD abgestimmt?
Wir fordern das in Brandenburg schon lange. Ich erwarte von der Bundesebene, dass sie jetzt zügig Entscheidungen trifft.
Der Bund verweist auf rechtliche Risiken, wenn die Polizei sogenannte Dublin-Flüchtlinge einfach an der Grenze abweist. Wenn Sie trotzdem eine Aussetzung von Dublin fordern, heißt das, dass Sie bereit sind, das Risiko in Kauf zu nehmen?
Die Wahrheit ist doch, dass die Dublin-Verordnung auch von anderen EU-Ländern kaum mehr angewendet wird. Die Menschen erwarten, dass wir jetzt Lösungen finden. Dass wir Asylbewerber, für die ein anderes Land zuständig ist, hereinlassen und dann nicht mehr abschieben können, ist ein Irrsinn, den kein Bürger mehr versteht.
In der Erklärung fordern Sie zudem die "Überprüfung der Migrationspolitik der letzten zehn Jahre". War Angela Merkels "Wir schaffen das" ein Fehler?
Die Bilder von damals, als tausende Flüchtlinge am Bahnhof in Budapest gestrandet waren, sind unvergesslich. Es war richtig, dass Angela Merkel angesichts der humanitären Notlage entschieden hat, die Menschen aufzunehmen. Aber damit wurden zugleich auch bestehende Regeln ausgehebelt. Artikel 16a des Grundgesetzes besagt, dass Menschen, die aus einem sicheren Drittstaat einreisen, kein Asylrecht erhalten. Wir müssen geltendes Recht durchsetzen.
Es muss jetzt unser Hauptziel sein, die Zahl der irregulären Migranten weiter zu senken.
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke
Das sagt Friedrich Merz auch. Was sagt es aus, wenn ein SPD-Ministerpräsident und der CDU-Chef einer Meinung sind?
Es zeigt, dass wir als demokratische Parteien vor der gemeinsamen Herausforderung stehen, Lösungen für dieses komplexe Thema zu finden. Wir müssen die Kommunen entlasten und gleichzeitig sicherstellen, dass wir wissen, wer in unserem Land ist und welche Motive sie haben. Es muss jetzt unser Hauptziel sein, die Zahl der irregulären Migranten weiter zu senken. Wir gelangen in Deutschland langsam an die Belastungsgrenze. Wir müssen den Hebel jetzt umlegen und brauchen dazu grundlegende Beschlüsse im Bund, aber auch in Europa. Dann können wir als Landesregierung auch auf sicherer Grundlage agieren.
Manche Ihrer Parteikollegen in Berlin sagen: Vor einem Jahr hätten wir bei dem Thema in die Offensive gehen müssen, jetzt lassen wir uns von der Union die Agenda diktieren. War die SPD einfach zu spät dran?
Ich dränge seit Jahren darauf, dass wir dringend reagieren müssen, um die Migrationszahlen zu senken. Die Grenzkontrollen und die Bezahlkarte für Flüchtlinge sind keine neuen Vorschläge. Das hat die Brandenburger SPD schon vor Längerem gefordert. In der Tat hat die Ampel spät reagiert.
Auch Nancy Faeser war lange ein Bremsklotz: Was jetzt plötzlich zu gehen scheint, etwa Grenzkontrollen, hielt die Innenministerin lange für nicht umsetzbar.
Es stimmt, Frau Faeser war anfangs skeptisch bei den Grenzkontrollen. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass sie heute verstanden hat, dass die Grenzkontrollen, wie wir sie auch in Brandenburg eingeführt haben, richtig sind.
Viele Bürger fragen sich, warum der Sinneswandel der Ampel so lange gedauert hat – und jetzt so dürftig erklärt wird. Muss Politik nicht auch in der Lage sein, Fehler zuzugeben, um Vertrauen zurückzugewinnen?
Ja, Politik braucht die Kraft zur Korrektur und muss Fehler eingestehen können. Politiker sind Menschen und Menschen machen Fehler. Aber ich finde, man muss das auch sagen dürfen, ohne gleich aufgespießt zu werden. Eine Korrektur erfordert Kraft, weil sie natürlich dazu führt, dass Sie als Journalisten dann fragen: Warum haben Sie das nicht schon vor zwei Jahren gemacht? Das muss man aushalten.
Bei der Landtagswahl ist Ihr größter Konkurrent ein Landesverband, den der Verfassungsschutz als rechtsextremen Verdachtsfall einstuft. Warum ist die AfD in Brandenburg so populär?
Dafür gibt es mehrere Gründe: Der Rechtspopulismus ist ein weltweites Phänomen, Deutschland keine Insel der Glückseligen. Aber natürlich haben wir auch Fehler im Umgang mit der AfD gemacht.
Welche?
Wir haben uns in der Politik zu wenig mit der AfD auseinandergesetzt. Man wollte ihren radikal rechten Ideen keine Bühne bieten, also hat man versucht, sie wegzuignorieren. In der Hoffnung, dass sie verschwindet.
Sie verschwand aber nicht, sondern wurde stärker, obwohl es vielen Menschen wirtschaftlich gut geht. In Umfragen führt die AfD mit 27 Prozent, die SPD liegt mit 26 Prozent dahinter. Wie sehr ärgert Sie das?
Ärgern ist das falsche Wort. Aber Sie haben recht: Menschen, die gute Perspektiven haben, sind meist weniger anfällig für Extremismus. Wir leben in einer Zeit vieler Krisen, die Menschen verunsichert. Ich bin trotzdem optimistisch: Vor fünf Jahren lagen wir auch lange hinter der AfD – und haben am Ende gewonnen. Das noch einmal zu schaffen und diese Schande für Brandenburg abzuwenden, ist auch meine ganze persönliche Herausforderung. Dafür kämpft die gesamte Brandenburg-SPD.
Die Erzählungen meines Großvaters prägen mich bis heute.
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke
An die Sie auch Ihr eigenes Schicksal knüpfen. Bei einem Wahlsieg der AfD schließen Sie eine Regierungsbildung unter Ihrer Führung aus. Gleichzeitig sagen Sie, das Land soll in guten Händen bleiben. Wie passt das zusammen?
Ich werde alles dafür tun, dass die Brandenburger am 23. September nicht in einem anderen Land aufwachen. Alles, was wir bisher erreicht haben, ist jetzt in Gefahr. Es geht aber natürlich auch um die Frage: Wer soll dieses Land führen in schwierigen Zeiten? Ich bin das Angebot für Stabilität, entscheiden müssen die Wähler.
Das ist, mit Verlaub, unlogisch. Wenn so viel auf dem Spiel steht – müssten Sie dann nicht umso mehr gewillt sein, um jeden Preis zu regieren, um die AfD zu verhindern?
Nein. Denn das, was wir machen im Land, hängt auch von handelnden Personen ab. Punkt. Und das sollen die Menschen auch wissen. Sonst wählen sie vielleicht aus Protest eine extreme Partei, nur weil sie sich über die Politik in Berlin ärgern. Auch Wähler haben eine Verantwortung. Wenn sie mehrheitlich die AfD wählen, dann gibt es mich nicht mehr.
Das klingt, als spräche aus Ihnen auch ein Stück weit verletzter Stolz.
Nein! So etwas liegt mir fern. Aber mal zurückgefragt: Können Sie sich an einen Ministerpräsidenten erinnern, der nach einer verlorenen Wahl einfach weitergemacht hat? Ich jedenfalls nicht. Es mag altmodisch wirken, aber: Ich klebe nicht an meinem Stuhl. Und trotzdem zeigt mir die immer stärker werdende Unterstützung der Bürger in allen Landesteilen, dass wir gegen die AfD gewinnen. Das hat für mich auch einen sehr persönlichen, familiären Grund.
Nämlich?
Mein Großvater war Soldat im Zweiten Weltkrieg. Er wurde als Reservist relativ spät eingezogen, kämpfte dann mit der Wehrmacht in Polen und in Russland. Er war Teil einer Pioniereinheit, operierte also nicht direkt an der Front, sondern dahinter. Dort hat er schreckliche Dinge erlebt. Als ich 16 wurde, fand er, ich sei alt genug und er hat mir davon erzählt. Er, der Hüne von fast zwei Metern, hat dabei geweint. Die Erzählungen meines Großvaters prägen mich bis heute.
Wovon handelten sie?
Das möchte ich nicht weiter ausführen, weil die Details so grauenvoll sind. Das lässt Sie Ihr Leben lang nicht mehr los. Für mich steht seitdem fest: Ich stehe meinem Großvater gegenüber in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass die faschistische Ideologie, die ihn und Millionen andere in einen Weltkrieg gezogen hat, nie wieder an die Hebel der Macht kommt.
Ich rede lieber über wirtschaftliche Ansiedlungen als über Cannabis-Anbauvereine.
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke
Olaf Scholz hat einmal über die AfD gesagt, sie sei eine "Schlechte-Laune-Partei", die alles miesmache. Warum gelingt es der SPD dann nicht, dem etwas entgegenzusetzen, etwa eine Erzählung von Aufbruch und Zuversicht?
Wir sind hier in Brandenburg von unserem Naturell nun nicht gerade mit großer Grundfröhlichkeit ausgestattet. Dafür können sich unsere Leistungen mehr als sehen lassen. Die positive Entwicklung, die unser Land genommen hat, allen Unkenrufen zum Trotz, kann Modell dafür sein, wie es deutschlandweit besser laufen kann. Brandenburg ist eine Erfolgsgeschichte.
Das heißt, die SPD im Bund muss mehr Brandenburg wagen?
Die Brandenburg-SPD ist eine Partei, die soziale und wirtschaftliche Kompetenz vereint. Und da kann die Bundespartei tatsächlich etwas von uns hier lernen, ja. Wichtig ist für mich: Die Alltagsthemen der Menschen in den Blick zu nehmen. Wirtschaft, Arbeitsplätze, Energie, Bildung. Ich rede lieber über wirtschaftliche Ansiedlungen als über Cannabis-Anbauvereine.
Abschließend ein Blick auf die Schicksalswahl am 22. September: Es ist gut möglich, dass Sie danach mit einer anderen populistischen Partei koalieren – dem BSW. Gibt es Ihrerseits Bedingungen für eine Zusammenarbeit?
Ja, die gibt es und an der wird auch nicht gerüttelt: Wer hier mitredet, potenziell mitregiert, muss von hier kommen, aus Brandenburg. Und sollte nicht aus dem Saarland ferngesteuert werden.
Mit der BSW-Chefin Sahra Wagenknecht wollen Sie also nicht reden?
Gespräche kann man immer führen. Am Ende aber müssen die Entscheidungen für Brandenburg hier in Brandenburg fallen.
Was schätzen Sie an Frau Wagenknecht?
Rhetorisch beherrscht sie ihr Geschäft. Aber inhaltlich gibt es da wenig, was mich beeindruckt. Umgesetzt hat sie noch nie etwas.
Herr Woidke, vielen Dank für dieses Gespräch.
- Interview mit Dietmar Woidke