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Angela Merkel: ARD-Doku über Ex-Kanzlerin ist erfrischend frech | TV-Kritik


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Doku über Ex-Kanzlerin Merkel
Ein Erzählstrang lässt geradezu frösteln

MeinungVon Peter Luley

Aktualisiert am 15.07.2024Lesedauer: 3 Min.
Angela Merkel: Das Erste zeigt eine Dokuserie über die ehemalige Kanzlerin.Vergrößern des Bildes
Angela Merkel: Das Erste zeigt eine Dokuserie über die ehemalige Kanzlerin. (Quelle: Hannibal Hanschke/dpa)

Eine neue TV-Serie zeigt die politische Karriere Angela Merkels in schnellen Schnitten und bunten Bildern. Doch in der Dokumentation geht es auch um die Abgründe ihrer Ära.

Eine öffentlich-rechtliche Dokuserie zum 70. Geburtstag Angela Merkels am 17. Juli, überschrieben mit dem "Sissi"-haften Titel "Schicksalsjahre einer Kanzlerin" – da mag bei manchem Zuschauer Skepsis aufkommen: Wird hier womöglich ein weihevolles Biopic gereicht, eine Hommage an die Jubilarin, deren "Normalität in Perfektion" kürzlich sogar der Grüne Robert Habeck lobte?

Um es vorwegzunehmen: Die fünfmal 30 Minuten umfassende Auftragsproduktion von RBB, MDR, SWR und allen ARD-Landesrundfunkanstalten zerstreut solche Befürchtungen schnell. Dafür, dass der Blick auf Merkels Schaffen multiperspektivisch und nicht unkritisch ausfällt, sorgt allein schon die bunte und dezidiert auch junge Kommentatorenschar, die Filmautor Tim Evers um Einschätzungen gebeten hat.

"Ich glaube, kein Mensch kennt Angela Merkel"

"Nein, sie hat nicht durch die Krise gesteuert, sie hat die Krise verzögert", sagt etwa die ukrainisch-deutsche Publizistin Marina Weisband über die "Sie kennen mich"-Kanzlerin. "Ich glaube, kein Mensch kennt Angela Merkel", stellt die Autorin Samira El Ouassil klar.

Der YouTuber LeFloid, der Merkel 2015 viel beachtet interviewte, äußert zwar dezent Respekt vor ihrer legendären Raute als weltweitem "Signature Move" (zu Deutsch etwa "typische Geste"), bescheinigt der Ex-Regierungschefin aber auch Teflon-Eigenschaften.

 
 
 
 
 
 
 

Der Journalist Tilo Jung kreidet ihr an, mit ihrem moderativen, konfliktscheuen Stil "junge Leute entpolitisiert" zu haben, und erklärt den Begriff "merkeln" trocken als "die Vorgängerversion von scholzen".

Neben weiteren Journalisten wie Evelyn Roll ("Süddeutsche Zeitung") und Christoph Dieckmann ("Die Zeit") kommen u. a. auch die Politikwissenschaftlerin Claudia Major, die Klimaaktivistin Carla Reemtsma und Wegbegleiter Merkels wie der ehemalige Innenminister Thomas de Maizière oder ihre gescheiterte Wunsch-Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer zu Wort.

Freche Musikuntermalung

Verbunden und teilweise illustriert werden die Thesen mit reichhaltigem Archivmaterial, einem knackigen Off-Kommentar ("Ist sie schüchtern? Sieht nicht so aus. Sie weiß, wo die Kamera ist.") und vor allem einer erfrischend frechen Musikuntermalung. Ja, die Machart mit schnellen Schnitten und Split-Screen-Technik ist populär, und ja, zu Bildern der jungen Angela Merkel auf einem Betriebsausflug im Sommer 1980 wird auch der unvermeidliche Stones-Klassiker "Angie" eingespielt.

Aber ihren Wechsel von der Physik in die Politik mit Nick Kamens "I Promised Myself" zu unterlegen oder ihren "Königsmord" am Spendenaffären-geschwächten Helmut Kohl mit Sophie Ellis-Bextors "Murder on the Dancefloor", hat durchaus Charme und Witz. Leitmotivisch und sehr effektvoll über alle Folgen hinweg wird die Zeile "It doesn’t hurt me (yeah, yeah, yo)" aus dem Kate-Bush-Song "Running Up That Hill" eingesetzt.

Neuer Blick auf deutsche Russlandpolitik

So empathisch der zu DDR-Zeiten in Brandenburg aufgewachsene Filmautor Tim Evers auf Merkels frühe Ost-Jahre blickt, so eindrücklich er ihren schweren Stand als Frau in der männerbündischen CDU schildert (hier kommt ein gewisser "Roland Kotz" ins Spiel), so sehr macht er allerdings auch bewusst, wie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine eine Neubewertung von Merkels Russland- und Energiepolitik ausgelöst hat.

Geradezu frösteln lässt der Erzählstrang mit Wladimir Putin, der von dessen auf Deutsch gehaltener Rede im Bundestag 2001 über den Eklat bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 bis zum bitter gebrochenen Minsker Friedensabkommen 2015 führt.

Dass der Grundstein für die fatale deutsche Gas-Abhängigkeit vom Kremldiktator noch von Merkels SPD-Vorgänger Gerhard Schröder gelegt wurde, ruft die Doku genauso in Erinnerung wie die Tatsache, dass Merkel die Nord-Stream-Pipelines von Beginn an unterstützte. Dass ihr erster Zitteranfall im Sommer 2019 ausgerechnet beim Empfang des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auftrat, wirkt im Nachhinein wie ein unheilvolles Omen.

Merkels "Wir schaffen das" provozierte

Auch innenpolitisch legt der Fünfteiler den Finger in manche Wunde. Etwa die, dass es ja Angela Merkels Begriff von der "Alternativlosigkeit" der Euro-Rettung war, der Pate stand bei der Namensfindung der 2013 gegründeten AfD. Oder die, dass ihr Satz "Wir schaffen das" in der Flüchtlingskrise 2015 ihre Gegner erst recht provozierte – genauso wie ihre später vom Bundesverfassungsgericht gerügte Rüge der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen Anfang 2020 ("unverzeihlich").

Alles in allem ist "Schicksalsjahre einer Kanzlerin" eine so schillernde wie berührende Zeitreise, die nicht zuletzt von den Spuren kündet, die 16 Jahre Regierungsverantwortung bei der Protagonistin hinterlassen haben. Umspielte zu Beginn ihrer Karriere häufig ein spitzbübisches Lächeln ihre Lippen, fühlt sich Journalistin Evelyn Roll am Ende der Ära Merkel eher an eine "verpanzerte Schildkröte" erinnert.

Ob die kritische Würdigung der Jubilarin gefallen würde? Zumindest in musikalischer Hinsicht ist das vorstellbar. Schließlich hat sich die scheidende Kanzlerin zu ihrem Großen Zapfenstreich den Nina-Hagen-Hit "Du hast den Farbfilm vergessen" gewünscht. Und der fügt sich bestens ein in den Soundtrack dieser Dokumentation.

"Angela Merkel – Schicksalsjahre einer Kanzlerin" ist seit dem 8. Juli in der ARD-Mediathek abrufbar; am 15. Juli zeigt das Erste um 22.30 Uhr eine 90-minütige Fassung.

Verwendete Quellen
  • Eigene Beobachtungen
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