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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schlechte Umfrage-Werte für Merz Bringt er die CDU zurück ins Kanzleramt?
Carsten Linnemann soll die CDU zurück in die Regierung bringen. Halbmarathon mit einem Generalsekretär, der die CDU zu seiner Religion gemacht hat.
"Ich hab' richtig Bock jetzt", sagt Carsten Linnemann und klatscht aufgeregt in die Hände. Hinter den eckigen Brillengläsern strahlen die Augen. Mit angezogenen Knien springt er mehrfach auf und ab. Es ist ein Auftritt, wie man ihn von dem CDU-Generalsekretär kennt. Energiegeladen, fast schon getrieben.
Dabei ist egal, ob der Anschlusstermin eine CDU-Grundsatzprogrammbesprechung oder ein Ostwestfalenderby zwischen Arminia Bielefeld und dem SC Paderborn ist. Bei Linnemann ist der Gemütszustand eigentlich Standard.
An diesem Sonntagmorgen läuft er den Halbmarathon in Berlin mit einer Gruppe CDU-Mitarbeiter. Stolz zieht er vorher noch mal sein blaues Team-Shirt glatt. "Cadenabbia-Türkis, unsere Partei-Farbe", sagt er und grinst zufrieden. Während der ein oder andere vor dem Lauf noch einmal tief durchatmet, in sich geht oder sogar mit Zweifeln in letzter Minute zu kämpfen hat, scheint Linnemann keine Bedenken zu haben. Er will einfach los.
Das Ziel: die Bundestagswahl
Carsten Linnemann ist stellvertretender Vorsitzender und seit zehn Monaten Generalsekretär der CDU. Sein Ziel: die Partei zurück in die Regierung bringen. Er will beweisen, dass die CDU wieder Wahlen gewinnen kann – unabhängig vom Spitzenkandidaten.
Der Weg dorthin? Ist ein Marathon. Und der Druck als Erster im Ziel zu sein? Hoch. Nach der verlorenen Bundestagswahl 2021 hat die Partei lange gebraucht, um sich zu fangen. Noch eine Legislatur in der Opposition könnte zur Zerreißprobe werden, so befürchten einige. Linnemann soll das verhindern.
Pausenlos tourt der CDU-Politiker durch Ortsvereine und Talkshows, platziert seine Botschaften auf großen Bühnen wie in kleinen Eckkneipen. Das neue Grundsatzprogramm, das er gemeinsam mit der Partei erarbeitet hat und das auf dem Parteitag am 7. Mai verabschiedet werden soll, dürfte Linnemann mittlerweile so gut kennen, dass er es selbst um drei Uhr morgens runterbeten kann. "CDU pur", so beschreibt er die 69 Seiten.
Die Frage ist, reichen Inhalte und Engagement wirklich für den Weg zurück ins Kanzleramt?
Die Lightversion vom konservativen Hardliner
Eigentlich hat Linnemann schon eine ziemliche Strecke hinter sich. Es gab Zeiten, da zählte der ehemalige Chef der Mittelstandsunion zu den konservativen Hardlinern seiner Partei. Wirtschafts- wie migrationspolitisch. Dem Islam steht er deutlich kritischer gegenüber als manch anderer in der CDU. Das mag auch daran liegen, dass er während seiner Promotion in Volkswirtschaftslehre für einige Monate in Saudi-Arabien gelebt hat. "Damals habe ich unmittelbar erlebt, wie stark der kulturelle und gesellschaftliche Unterschied ist", sagt er, wenn man ihn danach fragt.
Als sich Anfang vergangenen Jahres die Frage stellte, wer Merz' Generalsekretär werden sollte, fiel die Wahl zunächst auf den Sozialpolitiker Mario Czaja. Auch weil man befürchtete, Linnemann und Merz seien sich zu ähnlich. Im Juli 2023 wurde Czaja ausgetauscht. Linnemann ist jetzt immer noch konservativ, nur deutlich weniger polarisierend.
Wenn Dinge, wie die islamistischen Demonstrationen in Hamburg am vergangenen Wochenende, passieren, reagiert der Generalsekretär heute moderater, als er das früher getan hätte. Zwar sagt er: "Deutschland hat ein grundlegendes Problem mit Islamismus." Die Demonstration in Hamburg sei nur die Spitze des Eisbergs und ein Staat dürfe sich "das nicht bieten lassen". Er sagt aber auch: "Ich wäre vorsichtig, grundsätzlich an das Versammlungsrecht ranzugehen. Da verlasse ich mich auf die Justiz."
Als Generalsekretär weiß Linnemann, dass er nicht mehr nur für einen Flügel der Partei sprechen kann. Er muss die ganze Breite der CDU bedienen. Gleiches gilt für das Grundsatzprogramm.
Die ersten Kilometer: Inhalte, Inhalte, Inhalte
Während des Halbmarathons dauert es kaum mehr als zwei Kilometer, bevor Linnemann anfängt, von seiner Mammutaufgabe, dem neuen Programm, zu erzählen. Ein Jahr lang hat er, zunächst als Vorsitzender der Programmkommission und dann als Generalsekretär, daran gearbeitet. "Die CDU war inhaltlich total entkernt", sagt er über den Zustand seiner Partei nach der vergangenen Bundestagswahl. Er sollte das richten.
Elf Fachkommissionen, zehn Regionalkonferenzen und diverse Umfragen später stand der Entwurf. Jetzt müssen die Christdemokraten ihm auf dem bevorstehenden Parteitag noch zustimmen. Zuvor hatten Teile der Partei die Möglichkeit, Änderungsvorschläge zu machen. Fast 2.300 Änderungsanträge seien es gewesen, so Linnemann. "Auch kontroverse. Ich finde das super. Wenn wir in der Sache diskutieren, ist es genau richtig." Gelesen hat er die Anträge in seinem Osterurlaub.
Das Pensum: 50 Termine, sieben Tage die Woche
Im Fußball ist es üblich, dass der Verein zur Religion wird. Bei Marathon-Läufern übernimmt das Training irgendwann die Person, man redet kaum noch über was anderes, nutzt jede freie Minute zur Vorbereitung. So ähnlich ist es mit Linnemann und der CDU. Der Generalsekretär hat das Ziel, die Partei zurück in die Regierung zu führen. Fast rund um die Uhr arbeitet er daran. "Carsten ist eine Maschine", sagt Parteikollegin Serap Güler über Linnemann. "Er ist jederzeit erreichbar, oder ruft innerhalb kürzester Zeit zurück. Er stemmt ein wahnsinniges Pensum", urteilt die Nordrhein-Westfälin.
Linnemanns Alltag sieht etwa so aus: Um sechs Uhr klingelt morgens der Wecker. Aufstehen, laufen, dann Kaffee und Nachrichten. Gegen sieben wartet der Wagen, kurz darauf folgt das erste Gespräch. Das letzte ist oft nach Mitternacht. Zwischen 30 und 50 Termine macht der CDU-Politiker, in der Regel an sieben Tagen pro Woche.
Im Konrad-Adenauer-Haus kennt Linnemann fast jeden Mitarbeiter mit Vornamen, die meisten duzt er. Manchmal kommt es vor, dass er plötzlich den Kopf durch die Tür steckt, das Gesicht zu einem breiten Grinsen verzieht und "Hallo, guten Tag." sagt.
Die Art kommt bei vielen in der Partei gut an. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Jens Spahn findet: "Carsten hat großen Anteil daran, dass die Partei wieder Freude an inhaltlichen Debatten und sich selbst hat." Auch der Vorsitzende der Jungen Union, Johannes Winkel lobt die "bemerkenswert gute Arbeit" des Generalsekretärs. "Er gibt 100 Prozent für diesen Job." Gerade bei der jungen Generation komme er gut an. Und: "Er ist auch für Friedrich Merz ein großer Gewinn", findet Winkel. Sachsens CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer bringt Linnemann sogar schon für höhere Ämter ins Spiel, zumindest indirekt. Linnemann sei "hochengagiert, was der CDU in dieser Phase guttut", sagt Kretschmer. Noch dazu komme der ehemalige Chef der Mittelstandsunion gerade beim Wirtschaftsflügel der Partei gut an. "Was das angeht, ist er das wichtigste Gesicht der Partei."
Kilometer 10: "Das interessiert mich alles nicht"
Beim Halbmarathon beginnen nach zehn Kilometern die ersten Teilnehmer zu gehen. Linnemann denkt gar nicht daran, langsamer zu werden. Er ist im Redefluss. Allein das rote Gesicht verrät Spuren von Erschöpfung.
Versucht man jedoch, nach kilometerlangen Ausführungen über Atomkraft, Bürgergeld und Rentenreformen das Gespräch von Inhalten wegzulenken, werden die Antworten plötzlich kürzer. Man muss dazu wissen: Während der ein oder andere in der Union durchaus seinen Spaß am Taktieren hat, gehört Linnemann zu denen, die das machtpolitische Drumherum in dem Job als lästig empfinden.
"Das interessiert mich derzeit alles nicht. Ich will über Inhalte sprechen", sagt er, wenn Journalisten ihn nach strategischen Spielchen fragen.
Ihm macht es Spaß, wenn er bei CDU-Regionalkonferenzen den Partei-Motivator geben kann. "Na, wer will was zu Leitkultur sagen? Na los, wenn Sie sich nicht freiwillig melden, nehme ich Sie dran", scherzt er dann und geht dabei suchend und mit energischem Gang durch die Zuschauerreihen. "So was ist voll mein Ding", sagt Linnemann selbst. Er will die Partei, die Jahre im Tiefschlaf verbracht hat, wachrütteln. "Wir müssen mal wieder ins Machen kommen", sagt er.
Über Strategien spricht Linnemann dagegen nur ungern. Ebenso wenig, wie über die Anschlussfähigkeit seiner Vorschläge. Was nach der Wahl ist? Interessiert ihn noch nicht. "Ich denke doch jetzt nicht darüber nach, wie koalitionsfähig unsere Ideen sind", sagte er kürzlich in einer Pressekonferenz zum Bürgergeld. Eine Journalistin wollte wissen, mit welchem Koalitionspartner die CDU ihr neues System gedenkt umzusetzen. "Wir wollen den Leuten 100 Prozent CDU anbieten", entgegnete Linnemann dann.
Damit hat er insofern recht, als es bislang tatsächlich keine Rolle spielt, wie anschlussfähig die Vorschläge der Union sind. Immerhin ist es nicht die Aufgabe einer Oppositionspartei, Kompromisse zu machen. Und dass ein Grundsatzprogramm "CDU pur" ist, versteht sich von selbst.
Gleichzeitig macht Taktieren in der Politik einen nicht unerheblichen Teil des Erfolgs aus. Ideen können nur dann umgesetzt werden, wenn es gelingt, (inner- wie außerparteilich) Mehrheiten zu organisieren. Der ehemalige CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl hat mal gesagt: "Entscheidend ist, was hinten rauskommt." Und das hängt am Ende auch vom Strategischen ab. Mittelfristig muss Linnemann noch beweisen, dass er auch den, von ihm so ungeliebten, machtpolitischen Teil seines Amtes beherrscht. Auch das gehört zur Berufsbeschreibung eines Generalsekretärs – der politische Erfolg der Partei hängt nicht zuletzt davon ab.
Die letzten Kilometer: "Aber nicht Merz"
Und Linnemann hat noch eine zweite Baustelle: In den kommenden Monaten muss er mit zentralen Themen auch passende Köpfe in Verbindung bringen. Denn mit Inhalten allein wird die CDU wohl keine Wahl gewinnen. Bislang hat er das Thema gerne ignoriert, während andere in der Partei schon erste Kabinettslisten schrieben. Dabei gehört auch das zu den Aufgaben einer Parteispitze.
Aus Linnemanns Umfeld ist zwar zu hören, dass er sich zeitnah noch einmal intensiver mit der Frage beschäftigen will. Einen wirklichen Plan, an dem auch der Parteivorsitzende beteiligt ist, soll es jedoch noch nicht geben.
Als es beim Halbmarathon auf die letzten Kilometer zugeht, dreht Linnemann noch mal richtig auf. Er zieht die Cap nach hinten, rudert wild mit den Armen, schreit in die Menge: "Kommt, jetzt macht mal Stimmung! Was sagt Oliver Kahn? Weiter, immer weiter!" Während der Generalsekretär anfeuert, läuft ein Mann in den Vierzigern auf ihn zu: "Hallo Herr Linnemann", ruft er und kommt dann schnell zum Punkt: Die Ampel sei nicht regierungsfähig. Das müsse die CDU jetzt übernehmen, er selbst sei kein Mitglied, stünde der Partei aber durchaus nahe. Dann fügt er hinzu: "Aber nicht Merz. Von dem fühle ich mich nicht repräsentiert." Da hilft auch alles Motivieren seitens des Generalsekretärs nicht.
Zumal es ein Einwand ist, den Linnemann häufiger hören dürfte. Die Persönlichkeitswerte seines Vorsitzenden sind entgegen eigener Behauptungen kaum besser geworden. Trotz Unbeliebtheit der Ampel. Das zeigte zuletzt eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa für das RTL/ntv-Trendbarometer. Auf die Frage, ob Merz ein besserer Bundeskanzler wäre als Olaf Scholz, antworten 57 Prozent mit Nein. Nur 35 Prozent sagen in der Erhebung: Ja.
In Politiker-Rankings liegt Merz seit Monaten hinter CSU-Chef Markus Söder und dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst. Auch in der K-Frage schneiden die Männer aus Bayern und NRW besser ab als Merz. Sogar unter den eigenen Anhängern. Bei Frauen sind die Werte am schwächsten. Laut einer Forsa-Umfrage für den "Stern" im März würden von Frauen zwischen 30 und 45 Jahren gerade mal 13 Prozent für Merz stimmen. Bei den 18-29-Jährigen sind es sogar nur 9 Prozent.
Spricht man Linnemann darauf an, wehrt der ab: "Wenn die Menschen auf Friedrich Merz treffen und Merz persönlich erleben, sind sie immer begeistert", versichert er. Nur, reicht das Schönreden schlechter Umfragewerte, um die Wahl zu gewinnen? Zumal die allermeisten Wählerinnen und Wähler Merz aller Voraussicht nach nicht persönlich treffen werden.
Im Ziel? So halb. Was jetzt folgen muss
Wenn die CDU am kommenden Dienstag das Grundsatzprogramm verabschiedet, hat ihr Generalsekretär die erste Etappe geschafft. Die Inhalte sind dann klar, das Fundament steht. Dabei geht der entscheidende Teil der Arbeit erst los.
So, wie Linnemann im vergangenen Jahr die Partei mobilisiert und von sich selbst überzeugt hat, muss es ihm gelingen, im nächsten Schritt auch Wählerinnen und Wähler zu gewinnen. Dabei dürften vor allem Personen, nicht zuletzt der Spitzenkandidat, eine zentrale Rolle spielen.
Als der CDU-Politiker beim Halbmarathon durch die Ziellinie läuft, hört man ihn einen Moment lang aufatmen. Dann sagt er unvermittelt: "Irgendwie ist die Stimmung komisch, oder?" Kurz ist nicht klar, was er meint. Linnemann hat schon wieder das Handy aus seiner Armbinde geholt, auf dem Display leuchten Nachrichten auf. Er legt die Stirn in Falten, sieht besorgt aus, als wäre er gerade nicht 21 Kilometer gelaufen. Anstatt sich zu feiern, sagt der Generalsekretär: "Wir haben noch richtig was zu tun." Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: "Und wir dürfen keine zu hohen Erwartungen wecken."
Sein Kopf ist schon wieder in der Vorbereitung auf das nächste Rennen.
- Eigene Recherche