Kurz erklärt Das Russland-Problem der SPD
Die SPD ist stolz auf ihr Erbe als "Friedenspartei". Über Jahrzehnte diente ihr der Mythos für die Annäherung an Russland. Immer mehr Genossen verstrickten sich dabei in persönliche Geschäfte mit Moskau und der Energiebranche.
Ein Brandbrief von Historikern an die Parteispitze der SPD sorgt für Furore: Dringend fordern die parteinahen Experten eine Aufarbeitung der Russland-Politik der letzten Jahrzehnte. Das berührt den Kern des sozialdemokratischen Selbstverständnisses: Willy Brandts Entspannungspolitik habe das Ende des Kalten Kriegs eingeleitet und zur deutschen Wiedervereinigung geführt. Die von der SPD betriebene wirtschaftliche Annäherung habe den Frieden gesichert. Die nachfolgende Generation um Gerhard Schröder und Frank-Walter Steinmeier habe Jahrzehnte für dessen Erhalt gekämpft – ungeachtet der zahlreichen persönlichen Verstrickungen mit Russland und Energiekonzernen.
Spätestens seit der russischen Invasion der Ukraine verläuft aber ein tiefer Riss in der Partei: zwischen jenen, die zwar zähneknirschend Fehler einräumen, an den grundsätzlichen Positionen aber nicht rütteln wollen. Prominenteste Vertreter dieser Position sind echte Parteischwergewichte: Bundestagsfraktionsvorsitzender Rolf Mützenich zum Beispiel oder Ministerpräsidentin Manuela Schwesig. Und jenen, die schon lange für eine selbstbewusste, härtere Gangart gegenüber Moskau streiten. Ihr prominentester Vertreter Michael Roth hat soeben seinen Rückzug aus der Politik angekündigt.
Ende des Monats will sich Generalsekretär Lars Klingbeil mit der Historikergruppe treffen. Für neuen Gesprächsstoff dürften Recherchen von t-online sorgen, denen zufolge ein enger Freund und politischer Weggefährte Frank-Walter Steinmeiers millionenschwere Investments mit einem Kreml-Offiziellen tätigte. Ein Überblick.
1) Brandts Neue Ostpolitik
Seit der ersten Amtszeit von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) verfolgte seine Regierung eine Entspannungspolitik gegenüber DDR und Sowjetunion. Bekannt wurde das Konzept unter dem Schlagwort "Wandel durch Annäherung". Der Status quo des geteilten Deutschlands und der territoriale und machtpolitische Anspruch beider Blöcke wurden anerkannt. Im Vordergrund der Diplomatie sollten gemeinsame Interessen stehen, vor allem die Verhinderung eines Atomkriegs und Abrüstung. Zugleich herrschte durch die Nato und vor allem durch die USA eine glaubwürdige konventionelle und nukleare Abschreckung.
Das schwerer innenpolitischer Kritik ausgesetzte Konzept wurde in Deutschland später weithin positiv bewertet – hatte für die unterdrückten Staaten Osteuropas allerdings schwere Folgen. Die dortigen Freiheitsbewegungen verloren die Bundesrepublik als sozusagen natürlichen Verbündeten. Führende SPD-Politiker wie Egon Bahr sprachen der Sowjetunion das Recht zu, in Staaten des damaligen Warschauer Pakts militärisch zu intervenieren. Herbert Wehner befürwortete in den Achtzigerjahren sogar, die Solidarność in Polen mittels Repression zu zerschlagen.
2) Die Röhrengeschäfte
Ein wesentlicher Teil des "Wandels durch Annäherung" erstreckte sich unter dem Schlagwort "Wandel durch Handel" auf die Wirtschafts- und Energiepolitik. Der Kreml wollte mithilfe der Bundesrepublik Öl- und Gasfelder in Sibirien erschließen. Die deutsche Wirtschaft hungerte nach billigen Rohstoffen. Ergebnis waren die maßgeblich von SPD-geführten Bundesregierungen initiierten "Röhrengeschäfte" ab Anfang der Siebzigerjahre: Deutsche Konzerne lieferten Großrohre, Maschinen und Technologie, Russland Öl und Gas durch neu gebaute Pipelines.
US-Präsident Ronald Reagan betrachtete die Projekte als Subventionshilfe für das "Imperium des Bösen". Und ganz Unrecht hatte er nicht: Die Sowjetunion erhielt durch die Energielieferungen viele Milliarden, um das kommunistische Regime vor dem drohenden wirtschaftlichen Verfall zu retten. Der bedeutete erst Jahre später ihr Ende, vermutlich unter anderem als Folge einer US-Intervention. Die Reagan-Regierung hatte Saudi-Arabien 1985 überzeugt, die Ölförderung drastisch zu erhöhen. Die Preise für Energierohstoffe fielen – und damit auch die Deviseneinnahmen der Diktatur.
3) Die Verstrickungen der neuen Generation
Deutsche Wiedervereinigung und Zerfall der Sowjetunion ließen in Deutschland die Hoffnung auf eine gemeinsame europäische Friedensordnung mit Russland wach werden. Vor allem die SPD verschrieb sich diesem Ziel. Unter Gerhard Schröder als Bundeskanzler einer rot-grünen Koalition und später mit Frank-Walter Steinmeier als zweimaligem Außenminister großer Koalitionen unter Angela Merkel (CDU) sollten Zeiten neuer deutsch-russischer Freundschaft anbrechen. Der "Wandel durch Annäherung" wurde zur "Annäherung durch Verflechtung".
Die Idee: Gegenseitige wirtschaftlichen Abhängigkeiten sollten so groß werden, dass ein Krieg undenkbar werde. Damit waren auch immer weitgreifendere persönliche Verstrickungen aus Sicht der modernen Genossen unproblematisch. Schröder nahm Posten bei Nord Stream, Nord Stream 2 und Rosneft an, zahlreiche seiner Weggefährten wechselten in die Energiewirtschaft, die enorm von Russland profitierte. Wer in der Politik blieb, förderte die außenpolitischen Visionen der engen Partnerschaft, trotz der russischen Kriege in Tschetschenien, Georgien und der Ukraine.
Während Russland aufrüstete und die innenpolitische Repression immer weiter verschärfte, rüsteten Deutschland und die Nato auch auf Betreiben der SPD ab. Immer abhängiger wurde Europa vom russischen Gas. Bis Russland schließlich 2022 eine Vollinvasion der Ukraine startete – und das Konzept in sich zusammenbrach.
Seitdem hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine "Zeitenwende" verkündet. Generalsekretär Klingbeil betont, heute gehe es um "Sicherheit vor Russland" und nicht mehr um "Sicherheit mit Russland". Verteidigungsminister Boris Pistorius will Deutschland "kriegstüchtig" machen, um den Kreml militärisch von Angriffen auf Nato-Verbündete abzuschrecken. Wie glaubhaft das alles ist, ohne eine intensive Aufarbeitung der eigenen Fehler und Verstrickungen, bleibt abzuwarten.
- Bpb.de: "Die westdeutsche Ostpolitik und der Zerfall der Sowjetunion"
- Bpb.de: "Wie Europa von russischer Energie abhängig wurde"
- Spiegel.de: "Als die SPD konservativ wurde"