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Pogrom am 9. November 1938: So antisemitisch ist Deutschland 85 Jahre später


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Novemberpogrome 1938
So antisemitisch ist Deutschland


Aktualisiert am 09.11.2023Lesedauer: 4 Min.
Pro-Palästina-Demo: Schon vor den aktuellen Demonstrationen ist der Antisemitismus in Deutschland gewachsen.Vergrößern des Bildes
Pro-Palästina-Demo: Schon vor den aktuellen Demonstrationen ist der Antisemitismus in Deutschland gewachsen. (Quelle: Stefan Trappe/imago-images-bilder)

85 Jahre nach den großen Pogromen der Nazizeit ist der Antisemitismus in Deutschland nicht verschwunden – und er kommt aus nahezu allen gesellschaftlichen Schichten.

Antisemitismus ist nie aus der deutschen Gesellschaft verschwunden. Auch 78 Jahre nach dem Ende der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten sind Vorurteile über jüdische Menschen weit verbreitet. In dem Land, das den Holocaust geplant und über sechs Millionen Jüdinnen und Juden getötet hat.

Und nun, 85 Jahre nach den Novemberpogromen von 1938, wächst die immer existente Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden deutlich. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober benötigen jüdische Einrichtungen einen noch höheren Schutz als ohnehin schon. In Berlin verübten beispielsweise Unbekannte einen Brandanschlag auf eine Synagoge.

Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der "Jüdischen Allgemeinen", berichtet auf dem Kurznachrichtendienst X (ehemals Twitter) von einem Anruf aus Deutschlands größter jüdischer Gemeinde, der IKG in München. Demnach solle die jüdische Zeitung aktuell nur noch in neutralen Umschlägen an die Abonnentinnen und Abonnenten verschickt werden. Weder Postboten noch Nachbarn sollen wissen, wo Jüdinnen und Juden wohnen. "Aus Sicherheitsgründen", merkt Engel an.

In der Vergangenheit sei es immer mal wieder vorgekommen, dass einzelne Leser um einen neutralen Umschlag gebeten hätten, sagte Engel in einem Gespräch mit t-online. "Aber wenn die größte jüdische Gemeinde Deutschlands geschlossen darum bittet, hat das eine neue Qualität." Mehr zu dem Gespräch lesen Sie hier.

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23 Prozent der Deutschen teilen klar antisemitische Bilder

Besonders bedrohlich wirkt, dass in Berlin Häuser mit jüdischen Bewohnern mit einem Davidstern markiert wurden, dem Symbol des Judentums und des Staates Israel. "Berlin 2023: Häuser, in denen Juden wohnen, werden wieder markiert. Das weckt gerade in Deutschland schlimmste Erinnerungen und ist unerträglich", schrieb die israelische Botschaft. Mehr dazu lesen Sie hier.

Das Leben ist für Jüdinnen und Juden in Deutschland allerdings auch schon vor dem Angriff auf Israel und dem darauffolgenden Krieg im Gazastreifen unsicherer geworden. Im dritten Quartal 2023 verzeichneten die Sicherheitsbehörden 540 antisemitisch motivierte Straftaten in Deutschland, wie aus der Antwort auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervorgeht. Das sind etwa 100 Straftaten mehr als im zweiten Quartal und fast 140 mehr als im selben Quartal des Vorjahres.

"Das ist insbesondere daher erschreckend, da die Eskalation antisemitischer Gewalt und Bedrohungen seit dem 7. Oktober 2023 hier noch gar nicht mit aufgeführt sind", sagte die Linkenpolitikerin Petra Pau der "Rheinischen Post". "Es ist zu befürchten ist, dass sich die Gefahrenlage von Jüdinnen und Juden für den Rest des Jahres noch weiter verschärft."

Verschiedene Umfragen erfassen antisemitische Einstellungen in Deutschland seit Jahren. Laut einer im Jahr 2022 veröffentlichten Repräsentativbefragung des Allensbach-Instituts glauben beispielsweise 34 Prozent aller Deutschen, jüdische Menschen würden ihren Status als Opfer des Holocaust zum eigenen Vorteil ausnutzen. 23 Prozent meinen, dass Juden zu viel Macht in der Wirtschaft und im Finanzwesen haben, jeder Zehnte ist demnach der Auffassung, dass Juden für viele Wirtschaftskrisen verantwortlich seien – klar antisemitische Bilder.

Kriminalstatistik wird kritisch gesehen

Der Statistik des Bundeskriminalamtes zu politisch motivierten Straftaten (PMK) zufolge werden die meisten antisemitischen Straftaten von Menschen aus dem politisch rechten Spektrum verübt. Von den 2.185 antisemitischen Straftaten im Jahr 2022 werden demnach über 82,7 Prozent rechten Tätern zugeordnet.

Allerdings gibt es auch kritische Stimmen zu den Statistiken der Sicherheitsbehörden, denn die PMK enthält anders als die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) alle Verdachtsfälle, bei denen die Polizei einen politischen Hintergrund vermutet – sicher festgestellt ist er dadurch nicht. Bei der PKS sind hingegen die Fälle enthalten, bei denen die Polizei einen Täter ermittelt hat, schreibt die Tagesschau in einer Einordnung dazu.

Eine Studie des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) von 2022 zeigt zudem gegensätzlich andere Zahlen. Demnach sind antisemitische Einstellungen unter Menschen mit Migrationshintergrund häufiger vertreten als unter Menschen ohne Migrationshintergrund.

Israelbezogener Antisemitismus in migrantischen Gruppen höher

Und auch im Kontext des Nahostkonflikts ist der Antisemitismus besonders in muslimischen Gruppen aktuell präsent. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel kommt es in deutschen Großstädten regelmäßig zu pro-palästinensischen Demonstrationen, auf denen antisemitische Parolen und Sympathiebekundungen mit der Terrororganisation Hamas immer wieder einen Platz finden.

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Und auch die Studie der SVR zeigt: Der israelbezogene Antisemitismus ist unter Menschen mit Migrationsgeschichte sichtbar stärker ausgeprägt. So stimmten der Aussage "Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat" ein Viertel der Menschen ohne Migrationshintergrund "voll und ganz" oder "eher" zu. Bei Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei sind es hingegen mehr als 50 Prozent der Menschen – knapp 30 Prozent von ihnen stimmen der Aussagen sogar "voll und ganz" zu.

Fünf antisemitische Straftaten pro Tag

Die Einstellung unter den Menschen aus Ländern der EU ähnelt am meisten der von Menschen ohne Migrationshintergrund. 7,6 Prozent stimmten der Aussage "voll und ganz" und 19,3 Prozent "eher" zu, bei den Menschen mit Migrationshintergrund aus der übrigen Welt zeigten knapp 15 Prozent der Befragten "voll und ganz" Verständnis für eine antisemitische Haltung angesichts der israelischen Politik und knapp 21 Prozent "eher".

Im Durchschnitt gab es im Jahr 2022 – vor der Eskalation in Nahost – pro Tag fünf antisemitische Straftaten in Deutschland. Und die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen. Laut einem Bericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) wurden alleine in Berlin zwischen dem 7. und dem 18. Oktober 70 verifizierte antisemitische Vorfälle dokumentiert, zu denen noch weitere, bisher noch nicht verifizierte, Vorfälle kommen könnten.

Einige der nach Deutschland zugewanderten Bevölkerungsgruppen zeigen laut Untersuchungen eine deutliche Neigung zu Antisemitismus, insbesondere zu dem aktuell auf den Straßen sichtbaren israelbezogenen Antisemitismus. Auch 85 Jahre nach den Novemberpogromen der Nazis ist Antisemitismus weiter in der gesamten Gesellschaft verankert.

Verwendete Quellen
  • stiftung-mercator.de: "Antimuslimische und antisemitische Einstellungen im Einwanderungsland – (k)ein Einzelfall?"
  • bmi.bund.de: "Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2022"
  • ajcgermany.org: "Antisemitismus in Deutschland – Eine Repräsentativbefragung"
  • tagesschau.de: "Sind die Statistiken irreführend?"
  • report-antisemitism.de: "Nach den Terrorangriffen der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung: Sprunghafter Anstieg antisemitischer Vorfälle in Berlin"
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