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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Experte zu deutschen Reaktionen "Ich kann mich nicht erinnern, dass es so etwas jemals gab"
Jüdische Institutionen sind in Deutschland seit dem Angriff auf Israel stärker gefährdet. Wer sie bedroht, erklärt ein Experte.
Nach dem Angriff der Hamas auf Israel stellt sich auch hierzulande die Frage um die Sicherheit von Juden und von Menschen, die für jüdische Institutionen arbeiten. Remko Leemhuis ist selbst kein Jude. Als Büroleiter des American Jewish Committee (AJC) in Berlin setzt er sich für die Sicherheit von Juden hierzulande ein.
Im Interview mit t-online hofft er, dass sich in der Solidarität der Deutschen mit Israel diesmal etwas verändert hat. Leemhuis verrät aber auch, warum er nicht nach Berlin-Neukölln ziehen würde und was er sich von der deutschen Politik wünscht.
t-online: Herr Leemhuis, nach den Angriffen der Hamas auf Israel sind in Neukölln Anhänger einer palästinensischen Organisation auf die Straße gegangen, haben den Angriff gefeiert und Süßigkeiten an Passanten verteilt. Was haben Sie gedacht, als Sie das gesehen haben?
Remko Leemhuis: Es ist vollkommen abstoßend, den Mord an Hunderten Zivilisten zu feiern. Die Menschen stehen auf der falschen Seite der Geschichte. Dafür gibt es keine Rechtfertigung oder Entschuldigung. Von der Polizei muss nun geprüft werden, ob da Straftaten begangen worden sind.
Hat sich denn bei der Solidarität der Deutschen mit Israel diesmal etwas verändert?
Ja, ich finde schon. Die Solidarität ist diesmal gesellschaftlich breiter als bei vorherigen Anschlägen. Diesmal kommen Menschen zusammen, unabhängig davon, wo sie politisch stehen, und verurteilen die Attacken gemeinsam. Ich hoffe, die Solidarität hält an und besteht auch noch die kommenden Wochen und Monate, die für Israel sehr schwer werden dürften.
Remko Leemhuis ist seit drei Jahren Direktor des AJC Berlin. Das AJC ist eine spendenfinanzierte Nichtregierungsorganisation mit 14 Büros außerhalb der USA. Leemhuis hat Politik- und Orientwissenschaften in Marburg und Berkeley, USA, studiert. Leemhuis hat über das Verhältnis des Auswärtigen Amtes zu Israel promoviert.
Die Parteichefs von CDU, CSU, SPD, FDP und den Grünen haben am Samstag sehr schnell eine gemeinsame Erklärung verfasst und noch einmal die Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson betont. Ein gutes Zeichen?
Das ist ein guter Ausgangspunkt. Ich kann mich nicht erinnern, dass es so etwas jemals gegeben hat. Die Parteien sollten den gemeinsamen Kurs beibehalten. Ich möchte betonen: Die Verantwortung für alle Opfer, die auf beiden Seiten zu beklagen sind, gehen auf die Hamas und den Islamischen Dschihad zurück. Israel hat sich die Situation nicht ausgesucht, den Krieg nicht gewollt. Die Sicherheit Israels darf deshalb nicht zum Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen werden.
Was erwarten Sie noch von der deutschen Politik?
Deutschland muss vor allem seine Iran-Politik überdenken. Der Iran ist mittelbar oder unmittelbar in den Angriff involviert gewesen. Deutschland muss in der Europäischen Union die Initiative ergreifen, um die Revolutionsgarden und die Hisbollah als Gesamtorganisation auf die EU-Terrorliste zu setzen.
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Schauen wir noch einmal auf den Antisemitismus in Deutschland: Die Zahlen der polizeilich erfassten judenfeindlichen Delikte steigen seit einigen Jahren stark, seit 2015 haben sie sich verdoppelt. 2022 gab es im Schnitt mehr als sieben Vorfälle – pro Tag. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Es gibt sicher eine größere Bereitschaft, solche Vorfälle anzuzeigen. Aber natürlich hängt das auch mit dem gesamtgesellschaftlichen Klima zusammen. Wir leben in einer fragmentierten und polarisierten Gesellschaft. In Zeiten von Krisen steigt der Antisemitismus an. So war es schon immer in der Geschichte. Einige Menschen suchen Schuldige und einfache Antworten. Meist geben sie den Juden die Schuld.
Was ist die größte Gefahr für Jüdinnen und Juden in Deutschland?
Das kommt auf den Ort an. Die Gefahrenlage ist in Ostdeutschland eine andere als in Berlin-Neukölln oder Kreuzberg. Wir hatten den Anschlag in Halle 2019 - die Tat eines Rechtsterroristen. In Berlin gibt es viele Übergriffe aus der muslimischen Gemeinschaft.
Von wem werden Sie als AJC bedroht?
Das ist eine ganze Bandbreite an Milieus, die eine Gefahr darstellen können. Das sind Querdenker, Reichsbürger, türkische Faschisten, Islamisten und Neonazis.
Kennen Sie Geschichten, dass Jüdinnen und Juden Deutschland deshalb verlassen?
Wir sind noch nicht so weit wie in Frankreich, wo es eine größere Auswanderungswelle nach Israel gegeben hat. Wir sehen diese Bewegung seit den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo und den Angriff auf einen jüdischen Supermarkt in Toulouse im Jahr 2015. Hierzulande kenne ich aus meinem Bekanntenkreis niemanden, der konkrete Pläne hat, Deutschland zu verlassen. Aber für viele Juden ist Israel immer eine Option im Kopf.
Gibt es Stadtteile oder Regionen in Deutschland, die Juden aktiv meiden? Oder gar wegziehen?
In meinem Umfeld kenne ich einige, die sich definitiv nicht erkennbar als Juden in Neukölln zeigen, die ihre Halskette mit Davidstern verstecken. Ich bin zwar selbst kein Jude. Aber ich würde auch nicht nach Neukölln ziehen, weil ich als Vertreter einer jüdischen Organisation gefährdet bin. Ich bin nicht wahnsinnig bekannt, aber es reicht ja, wenn ich einmal erkannt werden würde.
Was fordern Sie von anderen Nichtjuden in Deutschland?
Ein Anfang wäre es, das Problem des Antisemitismus zu erkennen. Die Forschung zeigt: Etwa ein Viertel bis ein Drittel der Deutschen vertritt antisemitische Stereotype. Diese Menschen hat also jeder im Bekannten- oder Kollegenkreis. Wenn sich jemand antisemitisch äußert, muss man widersprechen.
Finden Sie, dass die Politik genug gegen Antisemitismus unternimmt?
Ja, aber mit Abschlägen. Wir haben lange einen Antisemitismusbeauftragten gefordert. Den gibt es jetzt seit fünf Jahren auf Bundesebene. Damit sind zwar nicht alle Probleme gelöst. Aber die Gemeinden haben einen konkreten Ansprechpartner, auch in den Ländern. Dazu wurde das Strafrecht verschärft: Antisemitismus als Motiv wirkt strafverschärfend.
Wo läuft es noch nicht so gut?
Der Documenta-Fall aus dem vergangenen Jahr in Kassel zeigt deutlich, wie schlecht der Umgang mit Antisemitismus ist.
Auf der Kunstausstellung wurde unter anderem ein Gemälde gezeigt, das Juden karikiert in antisemitischen Stereotypen zeigt.
Es gab ein halbes Jahr lang mahnende Stimmen dazu. Die wurden einfach ignoriert. Und grundsätzlich, etwas zugespitzt: An den Gedenktagen zur Shoah halten Politiker schöne Reden und warnen vor den Gefahren des Antisemitismus. Etwas später lassen sie sich einige von ihnen dann aber lächelnd mit Vertretern des Regimes im Iran fotografieren.
Sprechen Sie eigentlich mit Vertretern der AfD?
Nein. Das haben wir nie getan und werden es auch nicht. Für uns gibt es mit dieser Partei nichts zu besprechen. Der Antisemitismus gehört zum programmatischen Kern der AfD.
Sonst sprechen Sie aber mit allen Parteien, die im Bundestag vertreten sind?
Ja, mit allen demokratischen. Ehrlicherweise ist es auch mit der Linkspartei schwierig. Da gibt es nur Einzelpersonen, mit denen wir regelmäßig sprechen.
Was würde das AJC Berlin machen, wenn die AfD an die Macht käme?
Dieses Szenario habe ich noch nicht zu Ende durchdacht, weil ich das auf Bundesebene nicht für realistisch halte. Dann würden sich auch ganz grundsätzliche Fragen stellen, zum Beispiel, wie es um die Zukunft der Demokratie in Deutschland steht. Wir sehen in anderen Ländern, wie solche Parteien schnell die Substanz von Demokratien zerstören können. Ich kann aber ausschließen, dass wir dann mit Vertretern der AfD reden würden.
Sie feiern dieses Jahr 25-jähriges Bestehen des AJC in Berlin. Das AJC war eine der ersten internationalen jüdischen Organisationen, die wieder nach Deutschland gekommen sind. Warum eigentlich erst 1998?
Manche würden sagen: Warum so früh? Für viele Juden war Deutschland nach der Shoah tabu. Die Wiederaufnahme von Kontakten nach Deutschland war keine besonders populäre Position in den USA. Das AJC hat aber schnell nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Kontakte nach Deutschland gepflegt. Die Organisation wurde 1908 gegründet, auch von ausgewanderten deutschen Juden. Deshalb gab es immer schon enge Verbindungen nach Deutschland.
Warum ist die AJC trotzdem nach Deutschland gegangen?
Deutschland ist zu groß, um es zu ignorieren. Unseren Vorgängern war klar, in einem wiedervereinigten Deutschland wird Berlin eine der wichtigsten Städte in der Europäischen Union sein, wenn nicht die wichtigste. Als global agierende Menschenrechtsorganisation wollten wir nach Deutschland. Das Land hat aufgrund seiner Geschichte eine besondere Verantwortung, die nicht aufhören wird.
Was ist aus Ihrer Sicht die größte Errungenschaft des AJC in der Zeit?
Da haben wir viele, aber eine, die man schwer messen kann ist, dass wir auch in Zeiten Kontakte nach Israel und in die USA aufrechterhalten haben, als es politisch schwierig war. Damit haben wir das Verständnis füreinander auf gesellschaftlicher Ebene bewahrt. Das ist wichtig, vor allem in dieser immer stärkeren Zeit der Polarisierung.
Herr Leemhuis, vielen Dank für dieses Gespräch.
- Persönliches Interview mit Remko Leemhuis am 6. Oktober und telefonisches Interview am 9. Oktober