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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Scharfe Kritik an Lauterbach-Plan "Ich bin nicht mehr enttäuscht, ich bin entsetzt"
100 Millionen Euro versprach Gesundheitsminister Lauterbach für die Long-Covid-Forschung. Die aber soll es jetzt nicht mehr geben. Bei Betroffenen sind Hilflosigkeit und Wut groß.
Seit mehr als einem Jahr erhält Ricarda Piepenhagen verzweifelte Anrufe und E-Mails. Von Müttern, denen die Kinder weggenommen wurden, weil sie sich nicht mehr kümmern können. Von Polizisten, die nicht mehr laufen können. Von Menschen, deren Angehörige den ganzen Tag in abgedunkelten Räumen liegen müssen, die nicht mal mehr eigenständig trinken oder zur Toilette gehen können.
"Nicht genesen" heißt die Initiative, die Piepenhagen im April 2022 gegründet hat. Sie ist eine Anlaufstelle für Menschen, die an Long Covid oder dem Post-Vac-Syndrom leiden. Organisiert von Betroffenen für Betroffenen. "Aus der Hilflosigkeit heraus", sagt Piepenhagen, "weil Politiker zwar immer wieder sagen, dass sie uns sehen – aber nichts tun."
Piepenhagen leidet selbst an Long Covid. Ihre Gefäße sind entzündet, sie hat Gerinnungs- und Sehstörungen. Schon von einem Stuhl aufzustehen kann so anstrengend für sie sein, dass sie danach am ganzen Körper zittert. Seit zwei Jahren kann sie deshalb ihrem Beruf als Lehrerin nicht mehr nachgehen. Dabei hat sie nur einen Wunsch: "Ich will mein Leben zurück, ich will wieder arbeiten."
"Die Politik lässt uns im Stich"
So wie Piepenhagen geht es vielen: Allein in Deutschland gehen Schätzungen von mehr als einer Million Menschen aus, die sich nach einer Covid-Erkrankung nicht erholt haben oder an neuen Beschwerden leiden. Weltweit geht eine Studie der Fachzeitschrift "Nature Reviews Microbiology" von 65 Millionen Menschen aus, die an Long Covid leiden.
Aussicht auf Besserung gibt es bisher für sie kaum. Die Forschung nämlich steckt in Jahr drei nach Beginn der Covid-Pandemie noch immer in den Kinderschuhen. Weder die Ursachen für Long Covid sind bisher vollständig ergründet, noch wirksame Therapiemöglichkeiten gefunden.
"Die Menschen sind so hilflos", sagt Piepenhagen. "Die Politik lässt uns im Stich." Sie selbst mache das zunehmend wütend. "Ich bin nicht mehr enttäuscht, ich bin entsetzt." Weil in der Hochphase der Pandemie so viel getan worden sei, so viele Milliarden mobilisiert wurden.
Jetzt aber passiere wenig, die Politik investiere vor allem nicht in die dringend benötigten Gelder für die Forschung. "Dabei ist Forschung das Allerwichtigste. Das Einzige, was uns helfen kann", sagt sie. "Die einzige Hoffnung auf Heilung."
Das 100-Millionen-Versprechen
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wollte das ändern. Schon vor Monaten hat er versprochen, 100 Millionen Euro in die Forschung hinsichtlich einer besseren Versorgung von Long-Covid-Erkrankten zu stecken. Für Betroffene wie Piepenhagen ist schon das nicht ausreichend, ihre Initiative fordert mindestens das Doppelte.
Dann aber folgte im Zuge der Haushaltsverhandlungen der Bundesregierung der harte Schlag: Finanzminister Christian Lindner (FDP) setzte bei allen Ressorts den Rotstift an, Lauterbach wurden die größten Summen gestrichen. Bedeutet: Er muss am härtesten sparen. Die Konsequenz: Nicht einmal die 100 Millionen für die Long-Covid-Forschung sollte es nun geben. Nur 200.000 Euro für Beratungshilfen standen weiterhin im Plan.
Dabei betont Lauterbach immer wieder, wie wichtig das Thema sei. Im Oktober noch startete er eine Aufklärungskampagne, gab gemeinsam mit der an Long Covid erkrankten Autorin Margarete Stokowski eine Pressekonferenz. Nun aber fühlen sich Betroffene wie Piepenhagen von dem prominentesten Mahner und Warner in der Corona-Pandemie sowie von Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) im Stich gelassen.
Lauterbach versucht deswegen an diesem Mittwoch zu retten, was zu retten ist. Auf einer Pressekonferenz stellt er eine neue Initiative für Long-Covid-Patienten vor.
Das Thema sei ein großes, wichtiges, betont der Gesundheitsminister da. "Es sind nicht nur bereits viele an Long Covid erkrankt, wir müssen davon ausgehen, dass auch noch mehr an Long Covid erkranken werden." Und: "Wir haben noch keine Heilung, wir haben noch keine guten Therapiekonzepte, die wirklich durchschlagen."
Ein neues Infoportal, ein Runder Tisch – und nur 40 Millionen
Die Initiative, die Lauterbach danach vorstellt, unterteilt sich in drei Punkte: Erstens hat das Bundesgesundheitsministerium an diesem Mittwoch unter www.bmg-longcovid.de ein neues Informationsportal online gestellt, auf dem sich Betroffene, Ärzte, Arbeitgeber informieren können. Auf Long Covid spezialisierte Kliniken werden dort gelistet, neue Forschungserkenntnisse sollen ständig aufbereitet werden.
Zweitens soll ein vom Bundesgesundheitsministerium initiierter Runder Tisch am 12. September nationale und internationale Experten, aber auch Betroffene, Selbsthilfeorganisationen sowie Vertreter der Krankenkassen zusammenbringen.
Drittens sollen 40 Millionen Euro in die Versorgungsforschung zu Long Covid fließen. 20 Millionen Euro stellt das Bundesgesundheitsministerium, 20 Millionen fließen aus dem Innovationsfonds der Krankenkassen. Das sind 60 Millionen Euro weniger als geplant, als von Lauterbach versprochen.
Die Haushaltslage sei sehr prekär, die ursprünglich in Aussicht gestellten 100 Millionen könne er deswegen nicht stellen, sagt Lauterbach. Aber die 40 Millionen seien eine "große Initiative", eine "sehr nennenswerte" Initiative. Und: "Wenn die Haushaltslage sich verbessert, werden wir versuchen, die 100 Millionen zusammenzubekommen."
Carmen Scheibenbogen, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz an der Berliner Charité, eine der wenigen Expertinnen für Long Covid in Deutschland, sitzt neben Lauterbach auf dem Podium. Sie sagt, sie freue sich über die in Aussicht gestellte Finanzierung. "Aber ich bin auch ganz ehrlich: Das wird nicht reichen – gerade für die Schwerkranken." Sie hoffe, dass diese 40 Millionen nur ein Anfang sind.
Linke wirft Lauterbach unterlassene Hilfeleistung vor
In der Opposition ist die Kritik nach der Pressekonferenz groß: Lauterbach habe viele warme Worte, aber wenig Hoffnungen parat, sagt Kathrin Vogler, gesundheitspolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, zu t-online. Die von ihm versprochenen 40 Millionen Euro seien nur ein "Tropfen auf dem heißen Stein".
Dabei schätzten Studien die volkswirtschaftlichen Kosten der Krankheit auf über fünf Milliarden Euro jährlich. "In dieser Situation nicht entschlossen zu handeln, weil die Schuldenbremse wichtiger ist als die Gesundheit der Menschen, ist nicht nur unterlassene Hilfeleistung, sondern auch ökonomischer Irrsinn!", so Vogler.
Ähnlich fasst es die Union zusammen: Lauterbachs Programm komme zu spät und sei nicht ausreichend, sagt Tino Sorge, gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion, zu t-online. "Die jetzt angekündigten Maßnahmen werden nicht reichen, um die Situation der Betroffenen nachhaltig zu verbessern."
Als "guten Aufschlag" hingegen lobt Linda Heitmann, Gesundheitsexpertin der Grünen im Bundestag, das Long-Covid-Programm. Es sei an der Zeit, dass die Bundesregierung mit einem Gesamtkonzept die Versorgung von Long-Covid- und Post-Vac-Patienten und Patientinnen angehe. Die dazu von Lauterbach vorgesehenen 40 Millionen Euro für Versorgungsforschung seien "anerkennenswert, angesichts der bekanntermaßen angespannten Haushaltslage".
"Legt euch zum Sterben hin!"
Piepenhagen sieht das ganz anders. Während Lauterbachs Pressekonferenz sind auf ihrem Handy Dutzende Nachrichten aufgepoppt. Die Community der Betroffenen sei tief enttäuscht. "Ich bin fassungslos", sagt sie t-online.
Nur 40 Millionen für die Forschung – das sei, als würfe man Ertrinkenden einen aufgeplatzten Schwimmring hin. Dass Lauterbach mehr Geld in Zukunft in Aussicht stellt, wenn sich die Haushaltslage verbessere, ist für sie kein Trost. "Die Haushaltslage wird sich ja nicht verbessern, sondern weiter verschlechtern, weil die wirtschaftlichen Folgen von Long Covid desaströs sind."
Bei Betroffenen komme Lauterbachs Pressekonferenz an als die Botschaft: "Legt euch zum Sterben hin!"
- Gespräch mit Ricarda Piepenhagen
- Anfrage an Gesundheitsexperten von CDU, Grünen, Linke
- Pressekonferenz des Bundesgesundheitsministers am 12. Juli