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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Neues Projekt der Ampel Wird Politik so wirklich besser?
Braucht unsere Demokratie ein Update? Die Ampelkoalition glaubt das – und setzt nun den ersten Bürgerrat ein.
Inhaltsverzeichnis
- Woher kommt die Idee der Bürgerräte?
- Was erhofft sich die Politik davon?
- Wie werden die Bürger ausgewählt?
- Können auch Straftäter oder Extremisten teilnehmen?
- Was soll konkret besprochen werden?
- Wie werden die Beratungen ablaufen?
- Was kann der Bürgerrat wirklich entscheiden?
- Wie viel kosten die Bürgerräte?
- Was sagen die Parteien zu der Idee?
- Was können Bürgerräte bewegen?
Die Idee, die heute im Bundestag diskutiert und mit einem Beschluss besiegelt werden soll, ist schon älter. Doch konkret wird sie erst jetzt. Es geht darum, dass die Bürger mehr Einfluss nehmen sollen auf die Politik. Deshalb will die Ampelkoalition einen sogenannten Bürgerrat einsetzen, in dem 160 zufällig ausgewählte Menschen über das Thema "Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben" beraten werden.
Zwei weitere Bürgerräte sind bis zur nächsten Wahl 2025 geplant. Welche Themen sie dann behandeln sollen, steht noch nicht fest.
Was steckt hinter der Idee? Wie soll das Ganze ablaufen? Welche Vor- und Nachteile gibt es? Und bringt's das wirklich? Ein Überblick:
Woher kommt die Idee der Bürgerräte?
Der Vorschlag wurde in Universitäten bereits getestet: Anregungen der Bürger sollen erfasst, gebündelt und direkt an die Politik weitergegeben werden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wirbt schon länger für eine solche Form des Dialogs. Es gibt auch schon erste Bürgerräte, der Verein "Mehr Demokratie" hat sie ins Leben gerufen. Im Bundesbildungsministerium war ebenfalls ein Bürgerrat installiert. Weil Bildungspolitik die Menschen direkt betreffe, sollten ihre Impulse in die Politik eingebracht werden – so die Überlegung.
Bislang wurden daraus jedoch eher Handlungsempfehlungen, einen verbindlichen Auftrag an die Politik gab es nicht. Der jetzt geplante Bürgerrat wäre der erste, der direkt vom deutschen Parlament beauftragt wird.
Was erhofft sich die Politik davon?
Grob gesagt: Eine größere Zufriedenheit mit der deutschen Demokratie und den politischen Entscheidungen. "Mit Bürgerräten wollen wir unsere parlamentarische Demokratie stärken und mehr Teilhabe ermöglichen", sagte die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) kürzlich. "Die Menschen wünschen sich mehr Dialog. Bürgerräte bieten hier eine starke Chance zur besseren Mitsprache."
Aus Sicht mancher Wissenschaftler kann das durchaus funktionieren. So erklärte Brigitte Geißel, Professorin und Leiterin der Forschungsstelle Demokratische Innovationen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Ende 2022 bei einem Fachgespräch im Bundestag einem Bericht zufolge: Es habe sich gezeigt, dass politische Entscheidungen, die unter der Mitarbeit von Bürgerräten zustande gekommen seien, bei den Menschen eine höhere Akzeptanz hätten. Viele Bürger sagten sich: Menschen wie ich kommen im Parlament gar nicht vor. Diese Menschen könne man so politisch aktivieren.
Wie werden die Bürger ausgewählt?
Grob gesagt: per Los. Allerdings sollen die 160 Teilnehmer am Ende ein möglichst gutes Abbild der Gesellschaft darstellen. Deshalb wird darauf geachtet, dass die Kriterien Alter, Geschlecht, regionale Herkunft, Gemeindegröße und Bildungshintergrund ungefähr dem Anteil in der Bevölkerung entsprechen. Bei diesem ersten Bürgerrat zum Thema Ernährung soll das auch für Vegetarier und Veganer so sein.
Grundsätzlich sollen alle Menschen mit Erstwohnsitz in Deutschland ausgelost werden können, die mindestens 16 Jahre alt sind. Eine deutsche Staatsbürgerschaft ist also keine Voraussetzung, anders als etwa bei einer Bewerbung um ein Mandat für den Landtag oder Bundestag.
Konkret läuft das Verfahren wie folgt ab: Zunächst werden 84 Gemeinden ausgelost. Die Meldeämter dort ziehen dann zufällig Adressdaten, um einen Pool von 20.000 Personen zu bekommen. Diese Menschen bekommen in der zweiten Junihälfte Post und können die Einladung zum Bürgerrat annehmen oder ablehnen.
Wer die Einladung annimmt, ist aber noch nicht automatisch dabei. Aus allen Leuten, die mitmachen wollen, werden anschließend verschiedene Versionen des Bürgerrates zusammengestellt, die die Gesellschaft jeweils möglichst gut abbilden sollen. Am 21. Juli soll in einer "Bürgerlotterie" aus den möglichen Bürgerräten der tatsächliche Bürgerrat ausgelost werden.
Können auch Straftäter oder Extremisten teilnehmen?
Das ist tatsächlich möglich, sofern sie ausgelost werden. "Vorstrafen oder politische Einstellungen werden für die Teilnahme am ersten Bürgerrat nicht vorab abgefragt", heißt es dazu von der Bundestagsverwaltung. Zugleich wird betont, dass durch eine "professionelle Moderation" sichergestellt werde, dass "menschen- oder verfassungsfeindliche Äußerungen im Bürgerrat keinen Raum bekommen".
Was soll konkret besprochen werden?
Die Hoffnung der Ampelkoalition ist es laut Beschlusspapier, durch den Bürgerrat einen Eindruck davon zu gewinnen, "welche Maßnahmen die Bürgerinnen und Bürger für eine gesündere und nachhaltigere Ernährung wünschen oder welchen Beitrag sie selbst dafür bereit sind zu leisten".
Folgende Leitfragen sollen dem Beschluss zufolge im Bürgerrat besprochen werden:
- Was erwarten die Bürgerinnen und Bürger in der Ernährungspolitik vom Staat? Wo soll er aktiv werden und wo nicht? Was soll der Staat ermöglichen oder erleichtern?
- Was wollen Konsumentinnen und Konsumenten über ihre Lebensmittel und deren Herkunft wissen? Was gehört zu einer transparenten Kennzeichnung von sozialen Bedingungen, von Umwelt- und Klimaverträglichkeit und von Tierwohlstandards? Wie detailliert sollten derartige Angaben sein, damit sie hilfreich und nicht verwirrend sind?
- Was halten die Bürgerinnen und Bürger für den Aufbau eines fundierten gesamtgesellschaftlichen Wissens über die Zusammenhänge von Ernährung und Gesundheit für notwendig? Welche Rolle kommt dabei zum Beispiel der Schule zu? Welche Maßnahmen sollten zum Schutz besonders verletzlicher Konsumentinnen und Konsumenten ergriffen werden?
- Wie können die Bürgerinnen und Bürger bei Kaufentscheidungen im Hinblick auf eine gesunde Ernährung besser unterstützt werden?
- Welchen steuerlichen Rahmen soll der Staat für die Preisbildung von Lebensmitteln setzen?
- Wie kann der Lebensmittelverschwendung Einhalt geboten werden und was kann der Staat dagegen tun?
Wie werden die Beratungen ablaufen?
Es soll unterschiedliche Formate geben, in denen die Menschen miteinander diskutieren: ein Plenum mit allen 160 Teilnehmern, aber auch verschiedene Gruppenformate, etwa mit Kleingruppen von acht Personen. Um die Gespräche zu strukturieren, sollen mindestens 20 Moderatorinnen und Moderatoren die Runden leiten. Sie sollen selbst neutral bleiben. Diskutiert werden soll an verschiedenen Terminen in Präsenz oder per Videokonferenz 40 Stunden lang.
Experten sollen zudem eine "fundierte fachliche Begleitung der Beratungen" sicherstellen, wie es vom Bundestag heißt. Die Wissenschaftler sollen "möglichst die gesamte Bandbreite an verfassungsgemäßen Positionen" abbilden, wobei eingeordnet werden soll, "was Mehrheits- und was Einzelmeinungen sind" und wo Unsicherheiten bestehen.
Welche Wissenschaftler dabei sind, soll demnach später entschieden werden. Bei der Auswahl helfen soll ein weiterer "Wissenschaftlicher Beirat", dem zwölf Forscher angehören sollen. Sie sollen von den Fraktionen möglichst einstimmig benannt werden. Sollte das nicht klappen – was zu erwarten ist –, dürfen die Fraktionen jeweils eigene Wissenschaftler aussuchen: Die größten Fraktionen von SPD und Union jeweils drei, Grüne und FDP jeweils zwei sowie AfD und Linke jeweils einen.
Was kann der Bürgerrat wirklich entscheiden?
Klar ist, dass am Ende kein Gesetz stehen wird. Der Bürgerrat soll keine Politik machen. Das soll den gewählten Abgeordneten im Bundestag vorbehalten bleiben. Das Ergebnis wird stattdessen ein "Bürgergutachten" sein, das am 29. Februar 2024 dem Bundestag übergeben werden soll. Es soll die Beschlüsse enthalten, die der Bürgerrat mehrheitlich trifft – inklusive Abstimmungsergebnissen und abweichenden Positionen.
Der Bundestag soll dann über das Bürgergutachten diskutieren, beim Thema Ernährung besonders der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Ob einige Vorschläge übernommen werden und welche das sein werden, sollen dort die Abgeordneten entscheiden. Es gibt also keine Garantie, dass irgendetwas umgesetzt wird. Enttäuschung könne aber vermieden werden, wenn man den Teilnehmern vorher genau erkläre, was mit den Vorschlägen passiere und was nicht, heißt es aus Koalitionskreisen.
Wie viel kosten die Bürgerräte?
Der Bundestag betont, die genauen Kosten für den ersten Bürgerrat stünden noch nicht fest. Allein für dieses Jahr und damit für den ersten der drei geplanten Bürgerräte stehen im Bundeshaushalt jedoch drei Millionen Euro zur Verfügung. Für die weiteren Bürgerräte sind zudem noch bis zu sechs Millionen Euro vorgesehen.
Von dem Geld werden zum einen die Aufwandsentschädigungen für die Teilnehmer gedeckt. Sie sollen pro Präsenzsitzung 100 Euro und pro digitaler Schalte 50 Euro bekommen. Einen großen Teil der Summe dürften zudem die Dienstleister bekommen, die die Bürgerräte organisieren: der Verein "Mehr Demokratie", das Nexus Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung, die Ifok und das Institut für Partizipatives Gestalten.
Sie hatten sich als Bietergemeinschaft bei der Ausschreibung des Projekts durchgesetzt. Wie viel Geld sie dafür bekommen, verrät die Bundestagsverwaltung nicht. Das unterliege "gemäß den vergaberechtlichen Vorgaben der Vertraulichkeit", heißt es.
Was sagen die Parteien zu der Idee?
In der Ampelkoalition war der Bürgerrat ein ausdrücklicher Wunsch vor allem der Grünen. Leon Eckert, der für die Partei im Bundestag sitzt, sagte t-online, eine Demokratie müsse "sich weiterentwickeln, um dauerhaft zu bestehen". Und: "Mit dem Bürgerrat rücken wir die Meinungen der Menschen näher an das Parlament. Wir schaffen Raum für konstruktiven Austausch und geben den Ideen der Menschen Platz im parlamentarischen Diskurs."
Aus der Opposition kommt dagegen scharfe Kritik. Gitta Connemann, die Chefin des einflussreichen CDU-Wirtschaftsflügels der Partei, sagt t-online: "Bürgerräte führen nicht zu mehr Demokratie – im Gegenteil. Der Bundestag kann jederzeit Experten aus Wissenschaft und Gesellschaft befragen. Es braucht keine Alibi-Parlamente, die per Los zusammengewürfelt werden."
In der Ampelkoalition sind sie derweil irritiert über die Kritik der Union und wittern im Widerstand gegen die Pläne reine Taktik. Andreas Audretsch, Fraktionsvize der Grünen, veröffentlichte auf Twitter ein Zitat des damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble (CDU), der 2021 sagte, Bürgerräte könnten "das Vertrauen in die Politik stärken und der repräsentativen Demokratie neue Impulse geben". Dazu schrieb Audretsch: "An alle der CDU/CSU, die hier gerade rumheulen. Macht Euch nicht lächerlich."
Was können Bürgerräte bewegen?
Verfechter des Konzeptes verweisen etwa auf das Beispiel Irland. Dort wurde schon 2016 eine "Citizens Assembly" mit 99 Teilnehmern eingerichtet, als deren wichtigster Erfolg gilt, die Liberalisierung des Abtreibungsrechts zumindest mit ermöglicht zu haben. Dafür gab es schon länger eine Mehrheit in der Bevölkerung, doch die Regierung wollte konservative Wähler nicht verschrecken und zögerte.
Nachdem sich der Bürgerrat für ein Recht auf Abtreibung ausgesprochen hatte, bemühte die Regierung noch einen Volksentscheid, der zum gleichen Ergebnis kam. Ein Mittel, das in der Form in Irland mehrfach angewendet wurde – und die Regierung von schwierigen Entscheidung entlastet hat. Voraussetzung war aber auch dort, dass es eine Bereitschaft in der Regierung gab, den Willen der Bürger aufzunehmen.
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- Eigene Recherchen
- Anfrage an die Bundestagsverwaltung
- Beschlussentwurf: Einsetzung eines Bürgerrates "Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben"
- bundestag.de: Bärbel Bas: Vorbereitungen für den ersten Bürgerrat starten
- bundestag.de: Sachverständige: Bürgerräte fördern Akzeptanz für politische Entscheidungen
- taz.de: Ein Gremium für heikle Themen