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Martin Schulz warnt: "Jedes Prozent für die AfD ist erschreckend"


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Martin Schulz
"Jedes Prozent für die AfD ist erschreckend"

InterviewVon Patrick Diekmann

Aktualisiert am 09.05.2023Lesedauer: 7 Min.
Martin Schulz: Der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat macht sich keine Sorgen, dass die Solidarität der Europäischen union gegenüber der Ukraine bröckeln könnte.Vergrößern des Bildes
Martin Schulz: Der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat macht sich keine Sorgen, dass die Solidarität der Europäischen Union gegenüber der Ukraine bröckeln könnte. (Quelle: Frederic Kern via www.imago-images.de/imago-images-bilder)
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Martin Schulz lobt die europäische Solidarität mit der Ukraine. In der Flüchtlings- und China-Politik fordert der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat aber mehr Geschlossenheit.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine ist auch eine Bewährungsprobe für die Europäische Union. Bisher steht die EU weitestgehend geschlossen an der Seite der Ukraine. Trotzdem ist man sich im westlichen Bündnis nicht immer über die Kriegsziele einig. Hält die europäische Solidarität, auch wenn die geplante ukrainische Gegenoffensive keine großen Gebietsgewinne bringen sollte?

Der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat und -Parteichef Martin Schulz ist davon überzeugt.

t-online: Herr Schulz, seit mehr als 14 Monaten tobt der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Für die Europäische Union war Putins Invasion eine Bewährungsprobe. Hat sie diesen Test bestanden?

Martin Schulz: Die EU hat sich als sehr einig erwiesen, sie hält zusammen. Ich sehe eigentlich nur eine Ausnahme: Ungarn.

Wie bewerten Sie die Einigkeit innerhalb der EU im Angesicht dieser Krise?

Die Last der Sanktionen ist für einige Mitgliedsstaaten beträchtlich, aber die EU trägt sie zusammen. Insgesamt ist die Europäische Union zusammengerückt. Das ist ein gutes Zeichen.

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(Quelle: IMAGO/Malte Ossowski/SVEN SIMON)

Martin Schulz war 2017 Kanzlerkandidat der SPD und bis Februar 2018 Parteichef. Von 2012 bis 2017 war er Präsident des Europaparlaments. Seit Dezember 2020 ist er Vorsitzender der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Beim Europatag 2023 am 9. Mai ist er Schirmherr des "EuroJam 2023" (mehr Infos dazu finden Sie hier).

Aber es hat den Anschein, dass die EU-Mitgliedsstaaten aktuell kritische Fragen umschiffen. Sehen Sie diese Einigkeit auch bei den Kriegszielen der Ukraine?

Das ist richtig. Die Bewertung der Kriegsziele ist sicherlich von Land zu Land unterschiedlich, aber die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten haben sich trotzdem als sehr solidarisch mit der Ukraine erwiesen.

Die Ukraine steht nun offenbar vor dem Beginn einer Gegenoffensive. Wie stabil ist diese Einigkeit, sollte Kiew keine weiteren Erfolge erzielen?

Sehr stabil. Diese Debatte um weitere Hilfen für die Ukraine sehe ich nicht in Europa, sondern in den USA. Dort hat die Debatte um die Finanzierung der Ukraine-Hilfen eine neue Dimension angenommen, insbesondere von den Republikanern im US-Kongress. Das ist auf absehbare Zeit ein Problem.

Besonders die US-Unterstützung ist für die Ukraine existenziell. Ärgert es Sie, dass die EU sicherheitspolitisch nicht mehr Gewicht hat?

Ärgern ist die falsche Beschreibung. Ich gehöre zu den Menschen, die eine Vertiefung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit der EU schon lange fordern – leider weitestgehend vergeblich. Doch mittlerweile begreifen immer mehr Menschen in Europa, dass die uneingeschränkte transatlantische Agenda der USA nicht mehr existiert.

Auch unter US-Präsident Joe Biden nicht?

Ja. Die außenpolitische Agenda der USA ist zwar noch transatlantisch, aber sie wird mit Blick auf China immer pazifischer. Das war schon seit langer Zeit absehbar, und deshalb war es falsch, dass die Debatte um eine europäische Sicherheitspolitik lange Zeit als Hirngespinst von EU-Politikern in Brüssel abgetan wurde. Das war nicht besonders weitsichtig.

Es fällt auf, dass sich auch Deutschland und Frankreich bei größeren gemeinsamen Rüstungsprojekten nicht einig werden.

Ja, das höre ich auch. Der Teufel steckt hier im Detail, besonders bei großen Projekten. Klar, bei dem einen oder anderen Rüstungsprojekt gibt es Probleme, aber Berlin und Paris wissen, dass nur durch eine rüstungspolitische Zusammenarbeit die notwendige Stärke und Eigenständigkeit Europas erreicht wird.

Welche teuflischen Details meinen Sie?

Während Berlin im Zuge der Zeitenwende möglichst schnell militärisches Gerät einkaufen muss – auch um den Bündnisverpflichtungen in der Nato nachzukommen –, möchte Paris neue Waffensysteme entwickeln.

Während die EU in der Corona-Krise für viele Bürgerinnen und Bürger als politischer Akteur sehr sichtbar war, rückte der russische Angriffskrieg in der Ukraine sie in den Schatten. Was hat das für Folgen für die Europawahl 2024?

Da gebe ich Ihnen zum Teil recht. Das hat folgenden Grund: Sicherheitspolitische Debatten sind natürlich nationale Debatten, weil Armeen und nationale Haushalte betroffen sind. Ich teile aber nicht die Auffassung, dass das zu einer geringeren Wahlbeteiligung bei der Europawahl führen wird. Im Gegenteil.

Das müssen Sie erklären.

Vor der Europawahl werden wir sehen, dass genau über diese Themen und über die künftige Gestaltung Europas diskutiert wird. Soll die EU eine eigene Armee bekommen und wie soll Geld in die europäische Sicherheit investiert werden? Derartige Fragen werden den Europawahlkampf beherrschen und nationale und europäische Debatten werden sich ergänzen.

Das bedeutet?

Ich bin mir sicher: Je weiter es auf die Europawahl zugeht, desto mehr werden die nationalen Debatten als Europadebatten geführt werden. Mit unserer Initiative "Tu was für Europa" versuchen wir das allerdings auch jenseits von Europawahl-Jahren – und besonders heute beim "EuroJam" in Berlin, bei dem meinungsstarke Speaker ihre Sicht auf Europa präsentieren.

Trotzdem verlieren viele Menschen aber auch Vertrauen in die europäische Solidarität. Warum versagt Europa zum Beispiel noch immer beim Thema Migration?

Da bin ich anderer Meinung. Es gibt beim Thema Migration bisher keine nachhaltigen und stabilen Lösungen, aber die EU-Kommission und das Europäische Parlament haben zahlreiche Vorschläge für ein einheitliches Einwanderungsrecht, ein gemeinsames Asylrecht, einen effektiven Grenzschutz und für Verteilungsquoten für Geflüchtete gemacht.

Und vieles davon ist gescheitert.

Es scheitert aber immer wieder an den gleichen Mitgliedsstaaten, die diese Vorschläge blockieren. Das sind Italien, Polen, Ungarn, Dänemark, Schweden oder permanent Großbritannien, als es noch EU-Mitglied war. Die Organe der EU legen konstruktive Vorschläge vor. Nicht die EU, sondern der populistische Nationalismus ist das Problem.

Warum kommt das bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht an? Zum Beispiel in Deutschland sind die Menschen laut dem aktuellen ARD-Deutschlandtrend sehr unzufrieden mit der Asylpolitik, und gleichzeitig liegt die rechtspopulistische AFD nur noch ein Prozent hinter der SPD.

Dass die Leute unzufrieden sind, kann ich nachvollziehen, weil wir noch keine einheitliche Lösung haben und beim Management auch einiges nicht gut läuft. Der Flüchtlingsgipfel diese Woche ist aber ein wichtiger Schritt, und die Bundesregierung gibt sich Mühe, aber auch sie allein kann das Problem nicht lösen.

Und davon profitiert dann die AfD?

Jedes Prozent für die AfD ist erschreckend. Ich glaube aber nicht, dass allein die Flüchtlingspolitik für die aktuellen Umfrageergebnisse verantwortlich ist. Die Bundesregierung ist momentan wahrscheinlich wenig populär, weil es in ihrem Inneren sehr lebhafte Debatten gibt. Aber die Ursache dafür ist nicht nur die Flüchtlingspolitik, sondern auch die Heizungsfrage oder die Verkehrspolitik.

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Also hat die Ampelregierung vor allem ein Kommunikationsproblem?

Die Regierung war nicht einmal 100 Tage im Amt und wurde mit einer vollständigen Neuordnung der internationalen und nationalen Lage konfrontiert. Sie musste eine komplett neue Energiepolitik organisieren, und einige haben uns einen Wut- und Pleitenwinter mit Massendemonstrationen prognostiziert. Das ist alles nicht eingetreten und daher ein großer Erfolg.

Davon konnte die Bundesregierung aber nicht profitieren.

Die Bundesregierung hat also gute Arbeit geleistet, aber die andauernden Debatten zwischen Grünen und FDP führen dazu, dass die Erfolge nicht sichtbar sind.

Uneinigkeit in Deutschland und Europa gibt es auch mit Blick auf China. Auch auf Berlin steigt der Druck, die deutsche China-Politik zu überdenken und sich aus Abhängigkeiten zu lösen. Wie gefährlich sind die engen Verbindungen zu Peking?

Ich finde den Begriff der wirtschaftlichen Abhängigkeit falsch. Deutschland ist nicht von China abhängig.

Wie meinen Sie das?

Wir generieren 35 Prozent unseres Bruttoinlandprodukts im Export und über 60 Prozent unserer Exporte gehen in den Binnenmarkt der Europäischen Union. Deutschland ist also vom europäischen Binnenmarkt viel abhängiger als von China. Aber ein Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern ist natürlich ein großer Markt, und Deutschland muss sich überlegen, ob es auf diesem Markt präsent sein will.

Was sind Ihre Überlegungen dazu?

Wir sind gut beraten, mit den Chinesen darüber zu reden. China ist ein systemischer Konkurrent, aber das darf nicht dazu führen, dass wir jede Kooperation mit der Volksrepublik einstellen.

Doch läuft Deutschland damit nicht nach der Gasabhängigkeit zu Russland in die nächste politische Sackgasse, wenn China zum Beispiel Taiwan angreift?

China wird sich in jedem Fall in absehbarer Zeit nicht in einen Staat verwandeln, in dem es eine Demokratie mit mehreren Parteien nach westlichem Zuschnitt gibt. Einige Leute können gerne die Meinung haben, dass man daher keinen Handel mehr mit der Volksrepublik betreiben darf. Das halte ich aber für Illusionstheater.

Es gibt auf jeden Fall einige große deutsche Unternehmen, die vom chinesischen Markt abhängig sind – zum Beispiel Volkswagen oder BASF. Muss die Politik nicht noch viel mehr auf Diversifizierung pochen?

Klar, die deutsche Wirtschaft muss diversifizieren, sich breit aufstellen und viele andere Märkte in der Welt erschließen. Aber zu dieser breiten Aufstellung gehört eben auch China. Die Debatte hat eine Schieflage, denn es wird immer so getan, als ob die deutsch-chinesischen Beziehungen allein das Problem seien. Dabei sind die deutsch-chinesischen Handelsbeziehungen von den Handelsabkommen der EU mit China geprägt und weniger durch bilaterale Abkommen. Doch in der Debatte kommt die europäische Dimension nicht vor.

Vielleicht liegt es daran, dass Europa mit Blick auf China uneinig ist. Kürzlich besuchten Emmanuel Macron, Ursula von der Leyen und Annalena Baerbock China. Bei den Besuchen wurde deutlich, dass man nicht wirklich mit einer Stimme spricht. Woran liegt das?

Es gibt in Europa keine einheitliche China-Strategie. Wenn von der Leyen, Baerbock und Macron fast zeitgleich nach Peking reisen und jede und jeder bei dem Besuch unterschiedliche Themen anspricht und auch damit Eigeninteressen verfolgen, müssen wir uns nicht wundern, wenn die Europäische Union für China kein einheitlich ernstzunehmender Faktor ist. Das ist eine große Sorge von mir: Wenn wir mit der Volksrepublik auf Augenhöhe sprechen möchten, dann braucht es eine geschlossene EU als Gesprächspartner. 450 Millionen Menschen in 27 Ländern, die den reichsten Markt der Welt bilden, sind stärker als jedes einzelne Land alleine.

Besonders Außenministerin Baerbock wurde teilweise für ihre scharfe Rhetorik in Peking kritisiert. Müsste sie ihr Amt diplomatischer ausüben, oder sind gerade deutliche Worte wichtig in dieser Krise?

Man kann und muss mit China sehr offen reden. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass China eine Großmacht ist, die mit ihren 1,4 Milliarden Menschen ein bedeutender ökonomischer, politischer und auch ökologischer Faktor in der Welt ist. Bei aller offenen Kritik wird man trotzdem mit Peking zusammenarbeiten müssen.

Eventuell ist es auch ein strategischer Zweiklang, dass Kanzler Olaf Scholz gemäßigt auftritt und Außenministerin Baerbock mit schärferer Rhetorik.

Bundeskanzler Scholz bestimmt die Linie der Bundesregierung und ich sehe nicht, dass Außenministerin Baerbock gegen diese Linie operiert.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Schulz.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Martin Schulz
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