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"Fatale Folgen" des Medikamentenmangels in Deutschland: Experte warnt


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Neues Gesetz gegen Medikamentenengpässe
"Das ist ein großer Fehler"

  • Annika Leister
InterviewVon Annika Leister

Aktualisiert am 30.03.2023Lesedauer: 4 Min.
Apotheken am Limit: Viele Medikamente, vor allem für Kinder, fehlen.Vergrößern des Bildes
Apotheken am Limit: Viele Medikamente, vor allem für Kinder, fehlen. (Quelle: IMAGO/Wolfgang Maria Weber/imago-images-bilder)

Hunderte Medikamente in Deutschland sind knapp. Die Bundesregierung will gegensteuern. Doch der Vizechef des Apothekerverbands warnt vor Lücken im Gesetz – und neuem Chaos.

Sie haben ein Rezept – aber das notwendige Medikament gibt es in der Apotheke nicht. Seit Monaten erleben das in Deutschland Millionen Menschen. Die Palette der betroffenen Medikamente ist dabei groß und reicht von Husten- und Fiebersaft bis hin zu Arzneien wie Insulin, Blutdrucksenkern und Mitteln gegen Krebs.

Wie konnte es so weit kommen? Und kann ein geplantes Gesetz der Bundesregierung die Lage ändern? Ein Gespräch mit Mathias Arnold, Vizepräsident der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände.

Apotheker-Chef Mathias Arnold
Apotheker-Chef Mathias Arnold (Quelle: Martin Jehnichen)

Zur Person

Mathias Arnold, 59 Jahre alt, leitet seit 1992 eine Apotheke in Halle an der Saale. Seit 2005 ist er Vorsitzender des Landesapothekerverbands Sachsen-Anhalt, seit 2013 Vizepräsident der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA).

t-online: Welche Szenen spielen sich in Ihrer Apotheke in Halle zurzeit ab, Herr Arnold?

Mathias Arnold: Wir erleben sehr kritische Situationen. Besonders, wenn es um Kinder geht, ist die Verzweiflung groß. Wenn eine Mutter mit ihrem kranken Kind in der Apotheke steht und wir sagen müssen: Wir haben das Medikament nicht da, wir müssen erst mal den Arzt anrufen, dann ist das für die Menschen sehr schwer – und für unsere Mitarbeiter auch. Wir verbringen rund 20 Stunden pro Woche damit, Alternativen und Lösungen für fehlende Medikamente zu finden.

Hunderte Medikamente sind betroffen. Welche sind das?

Das geht quer durch den gesamten Arzneimittelschatz. Schmerzmittel, Antibiotika, Mittel zur Behandlung von Diabetes und Hautkrankheiten, Blutdrucksenker, Fiebersäfte. Manche fehlen seit Monaten, andere nur zwei Wochen. Aber für Betroffene gibt es hier kein "nur". 14 Tage sind zu lang, so lange kann niemand warten.

Das Problem scheint die Bundesregierung im vergangenen Jahr kalt erwischt zu haben. Wie kann das sein?

Das ist uns auch nicht klar. Wir haben seit Langem davor gewarnt. Schon vor Corona hatten wir immer wieder Schwierigkeiten. Mit der Zeit hat sich das verschärft.

Hat die Bundesregierung mit ihrem Zögern Menschenleben aufs Spiel gesetzt?

Das ist schwer zu sagen, da es selten eindeutige Ursache-Wirkung-Analysen gibt. Natürlich kann es aber fatale Folgen haben, wenn eine Therapie nicht optimal durchgeführt werden kann oder eine Operation verschoben werden muss. Das kann die Krankheit verlängern oder zu neuen Komplikationen führen.

Was sind die Gründe für die Lieferengpässe?

Die Ursachen sind vielfältig: von Qualitätsproblemen bei der Produktion im Ausland über nicht richtig funktionierende Lieferketten bis hin zu Verpackungsproblemen. Das spielt da alles mit rein. Ein Hauptgrund ist aber, dass wir in Deutschland in dem Bereich zu lange gespart haben – Stichworte: Budgetierung der Arztpraxen, Festbeträge und Rabattverträge. Viele Hersteller sind abgewandert. Für sie ist Deutschland oft kein attraktiver Markt mehr.

Die Bundesregierung will jetzt gegensteuern, ein Gesetz zur Vermeidung von Lieferengpässen soll kommen. Kommt das nicht zu spät?

Schneller wäre uns auch lieber gewesen. Die Eckpunkte für das Gesetz wurden bereits im Dezember vorgestellt, jetzt haben wir Ende März. Es wird nach dem parlamentarischen Verfahren vermutlich frühestens im August in Kraft treten. Das ist alles andere als Schnellzugtempo. Und das Gesetz hat viele handwerkliche Fehler.

Was sind die aus Ihrer Sicht größten Fehler?

Wir haben als Apotheken aus der Corona-Zeit noch gewisse Freiheiten. Wenn ein Medikament fehlt, kann ich zum Beispiel von der Packungsgröße abweichen oder Alternativen ausgeben – statt Fiebersaft zum Beispiel Zäpfchen. Das funktioniert gut, die Wartezeit für Patienten verkürzt das auch in der aktuellen Lage enorm. Der bislang vorliegende Gesetzentwurf von Gesundheitsminister Lauterbach will diese Freiheit nicht verlängern. Das ist ein großer Fehler. Das Gesetz wird die Probleme so nicht beheben, sondern verschärfen. Für die Mehrarbeit, die Apotheken zurzeit leisten, braucht es zudem einen fairen finanziellen Engpass-Ausgleich. Auch der ist nicht vorgesehen.

Um Engpässe zu verhindern, soll das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Zukunft eine Liste erstellen, die Medikamente aufführt, die knapp werden könnten und für die dann der Festpreis um 60 Prozent erhöht werden kann. Wie hilfreich ist das?

Die Anhebung von Festbeträgen würde den deutschen Markt für Hersteller sicher attraktiver machen. Ob das im internationalen Wettbewerb aber genügt, ist fraglich. Lieferengpässe und Krankheitswellen treten außerdem oft auch regional auf, eine bundesweite Liste kann das nicht immer abbilden.

China und Indien gelten jetzt als Apotheke der Welt. Ein Titel, den Deutschland einst trug. Wie abhängig sind wir von diesen Ländern?

Sehr abhängig. Das gilt nicht für alle Wirkstoffe. Aber es gibt bestimmte Wirkstoffe, die inzwischen fast ausschließlich im fernen Ausland produziert werden. Nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa hat hier kaum eigene Produktionsstätten. Die Produktion hat sich in Ländern wie China und Indien zentralisiert, zum Teil monopolisiert. Wir stehen jetzt im globalen Wettbewerb um zu wenige Arzneimittel.

Die Bundesregierung will die Medikamentenproduktion wieder stärker zurück nach Deutschland bringen. Ist das realistisch, wenn man die Preise betrachtet, zu denen Länder wie China und Indien produzieren können?

Es ist mit Sicherheit nicht möglich zu denselben Preisen. Das ist illusorisch. Die Löhne sind sehr viel niedriger in diesen Ländern, Umweltstandards oft nicht so strikt. Und wir müssen uns da ehrlich machen: Gesundheitssysteme wie das unsere, das nicht zwischen arm und reich unterscheidet, das keine Zwei-Klassen-Gesellschaft etabliert, das allen gleichermaßen helfen will, sind kostspieliger. Aber wir dürfen diesen Anspruch nicht aufgeben. Wir haben so bereits viele Menschenleben gerettet.

Ein Beispiel?

Als ich studiert habe, traten die ersten HIV-/Aids-Fälle auf. Damals eine 100 Prozent tödliche Krankheit. 30 Jahre später nehmen die Patienten eine Tablette pro Tag und haben eine ganz normale Lebenserwartung. Das ist medizinischer Fortschritt. Das hat viel Geld gekostet, aber diese Innovationsfähigkeit müssen wir uns als Gesellschaft erhalten.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Mathias Arnold
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