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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Sahra Wagenknecht Jetzt oder nie
Gründet Sahra Wagenknecht eine eigene Partei? Darüber wird seit Monaten spekuliert. Sie müsste sich beeilen. Denn eine günstige Gelegenheit naht.
Spricht man dieser Tage mit manchen Linken, ist die Aufbruchsstimmung fast greifbar. Jetzt sei die Zeit, genau jetzt sei der Moment gekommen, um wieder erfolgreich zu werden, ist der Tenor in Hintergrundgesprächen. Es ist allerdings das Pech der Partei, dass die Mitglieder nicht etwa von der Linken sprechen, sondern auf etwas ganz Neues hoffen: auf eine Wagenknecht-Partei.
Seit Monaten schon wabern Gerüchte durch Berlin, dass mit Sahra Wagenknecht die bekannteste Politikerin der Linken ein neues Projekt starten könnte. Wagenknecht selbst bestätigt das nie explizit. Die Linken-Parteispitze und die eigenen Anhänger macht sie so maximal nervös.
Jeder Wagenknecht-Auftritt im TV steht unter Beobachtung, jeder neue Hinweis wird registriert. Zum Beispiel, wenn Wagenknecht in der Talkshow "Hart aber fair" von der Partei spricht, der sie "noch" angehöre. Oder wenn sie im Gespräch mit der "Rheinpfalz" ankündigt, sich aus der Parteipolitik zurückziehen zu wollen – "oder es ergibt sich politisch etwas Neues".
Es sind Andeutungen, mit denen Wagenknecht in den Schlagzeilen bleibt und die Hoffnungen ihrer Fans immer wieder nährt. Doch wenn Wagenknecht wirklich eine neue Partei gründen will, drängt die Zeit. Und die häufigste Frage stellen in Hintergrundgesprächen Freunde wie Feinde Wagenknechts unisono: Will sie sich das wirklich antun?
Die Prognosen sprechen für sie
Mit der Sammelbewegung "Aufstehen" hat Wagenknecht es 2018 bereits einmal versucht. Damals scheiterte sie grandios – der Zulauf blieb gering, die Köpfe der Bewegung zerstritten sich. Dieses Mal aber ist vieles anders.
Nicht zuletzt die Erfolgsprognosen fallen rosig aus: So würden laut Meinungsforschungsinstitut Insa zehn Prozent der Wähler ihr Kreuz bei einer Wagenknecht-Partei setzen, 30 weitere Prozent könnten sich das vorstellen.
Das sind rein theoretische Zahlen, natürlich, noch gibt es ja keine Partei, kein Programm, kein Personal. Aber es sind Werte, von denen die Linke derzeit nur träumen kann – und die den Wagenknecht-Fans Auftrieb geben.
Dehm: "Alle würden Wagenknecht wählen"
"Ob ich im Lions Club sitze oder in der Dorfkneipe – alle würden Wagenknecht wählen", sagt Diether Dehm t-online. "Die Insa-Umfrage mit zehn Prozent für eine Wagenknechtpartei ist eher untertrieben", glaubt er.
Dehm ist Musikproduzent und Millionär, bis 2021 saß er außerdem für die Linke im Bundestag. Er gilt als enger Wagenknecht-Vertrauter und Strippenzieher im Hintergrund.
Wenn Dehm von Wagenknecht spricht, gerät er auch heute noch ins Schwärmen. Charisma sei das Entscheidende, und von dem habe Wagenknecht, im Gegensatz zu manchem ihrer Konkurrenten, jede Menge. "Sahra ist für radikaldemokratische Überzeugungen oft auch durchs Feuer gegangen", sagt Dehm. "Von solch medialem Spießrutenlauf kommt Charisma – aber nicht beim Hochschleichen vom Kreissaal übern Hörsaal zum Plenarsaal."
Dehm drückt den Wagenknecht-Effekt aus, den Kritiker mit Populismus erklären und viele Linke seit Jahren fasziniert beobachten: Ihre Durchschlagskraft in den Medien, ihr Erfolg bei den Bürgern, die sie immer wieder unter die Top 10 der bekanntesten Politiker wählen, oft gleich hinter Kanzler und Ministern. Und das als Politikerin der schwächsten Oppositionspartei.
Viele dieser Bürger hätte die Linke verloren, weil diese ihre Perspektive erst in der Flüchtlings-, dann in der Corona- und jetzt in der Ukraine-Krise aus dem Blick verloren habe – so sehen es viele im Wagenknecht-Lager der Linken. Wagenknecht aber schaffe es, ihre Perspektive prominent zu vertreten. Und das so erfolgreich wie keine andere. Manche vergöttern sie regelrecht dafür, so wie Dehm, andere sagen realistischer: Sie ist das wichtigste Zugpferd der Linken.
Berliner "Friedensdemo" als "riesiger Erfolg"
Als jüngsten Beleg für den potenziellen Erfolg einer Wagenknecht-Partei nennen viele Wagenknechts "Friedensmanifest" und die daran gekoppelte Demonstration Ende Februar in Berlin, die sich unter anderem gegen Waffenlieferungen in die Ukraine richtete. Von 13.000 Teilnehmern spricht die Polizei, Diether Dehm geht von viel mehr aus. "Die Demonstration war ein unerwartet riesiger Erfolg", sagt er t-online. "Mit maximal 10.000 hatten wir gerechnet, 50.000 sind gekommen."
Die Teilnehmerzahlen sind, wie fast immer bei Großdemonstrationen, umstritten. Wer Wagenknecht skeptischer gegenübersteht, beruft sich auf die Zahlen der Polizei und merkt an: Da hatte man wesentlich mehr erwartet. Für das Wagenknecht-Lager aber gilt die Dehm-Brille: Diese "Friedensdemo" war ein historischer Erfolg.
Geringe Hürden bei der EU-Wahl
Doch Wagenknecht muss sich beeilen, will sie den Demo- und Umfrageerfolg in tatsächliche Zustimmung an der Wahlurne ummünzen. Im Frühjahr 2024 steht die Wahl zum EU-Parlament an. Dort könnte sie recht unkompliziert mit einer eigenen Liste antreten, eine Fünfprozenthürde gilt dort nicht.
Eine gute Gelegenheit, mit einer neuen Partei anzutreten, sich bekannt zu machen, Geld einzusammeln, in das erste Parlament einzuziehen und sich dann den Landtagswahlen im Osten zu widmen. 2024 wird in Brandenburg, Sachsen und Thüringen gewählt. Es gilt als wahrscheinlichstes Szenario, Alternativen werden auch im Wagenknecht-Lager keine genannt.
Wagenknecht-Fan Dehm hatte die Teilnahme einer neuen linken Partei an der EU-Wahl bereits im Herbst auf einer Veranstaltung der DKP gefordert: "Es muss eine Kraft antreten, die diesem Abbruchunternehmen da drüben im Karl-Liebknecht-Haus eine Alternative entgegensetzt", forderte er da, wie die "Taz" berichtete.
Das Karl-Liebknecht-Haus ist die Parteizentrale der Linken, Dehm richtete sich also offen gegen die eigene Partei – und kassierte dafür ein Parteiausschlussverfahren wegen Aufruf zu einem "konkurrierenden Wahlantritt".
Ob ganze Ortsverbände oder Teilgruppen der Linken zu Wagenknecht überlaufen würden, ist umstritten. Es haben sich – unter anderem in Sachsen und Brandenburg – aber Karl-Liebknecht-Kreise innerhalb der Partei gegründet, die als besonders Wagenknecht-freundlich gelten. "Es braucht mehr Sahra Wagenknecht", so eine Parole beim Gründungstreffen des Karl-Liebknechts-Kreises in Brandenburg im Herbst.
Bei Personal und Programm fangen die Probleme an
Doch die kleinen Liebknecht-Kreise machen noch lange keine Partei. Wagenknecht bräuchte ein Programm, sie bräuchte Personal neben sich – und spätestens hier fangen die Probleme an, spätestens hier werden die Skeptiker auch in den eigenen Reihen laut.
Denn genau auf diesen Teil der Parteiarbeit hatte Wagenknecht bereits bei der Linken nie Lust. Im Bundestag gilt sie als eine der Abgeordneten, die am häufigsten fehlt. Fraktionssitzungen, Abstimmungen, Anträge stellen, die Arbeit im Hintergrund – das ist ihre Sache nicht.
Davon aber gibt es gerade bei einer Neugründung im Überfluss zu erledigen. Zumal eine Wagenknecht-Partei ganz von ihr leben würde – und nicht nur Linke anziehen würde. Schon bei der Demonstration in Berlin grenzten sich Wagenknecht und die anderen Veranstalter nicht nach rechts ab. Die Folge: Rechtsextremisten und AfD-Politiker liefen mit.
Wagenknecht aber als Werbeikone sowie ordnende Hand bei jeder Gründung eines neuen Landesverbandes? Das ist schwer vorstellbar – und auch gesundheitlich schwer durchzuhalten. Wagenknecht selbst erklärt ihre Abwesenheit im Bundestag unter anderem mit häufiger Krankheit.
Die Ohren "auch nach rechts offen"
Kritiker äußern deswegen deutlich Zweifel: "Ich weiß nicht, ob Sahra Wagenknecht wirklich eine neue Partei gründen will", sagt Katina Schubert, Landesvorsitzende der Berliner Linken. "Das ist viel Arbeit." Eine "rechtssozialdemokratische" Partei brauche außerdem "kein Mensch".
Den Vorwurf einer Querfront zwischen Linken und Rechten weist Diether Dehm entschieden zurück – mit einer sehr eigenen Argumentation: Als Linker wolle er vor allem "Demokraten rechts von mir" überzeugen, nicht links von ihm. Für ein populäres Bündnis gegen Aufrüstung und Mittelstandssterben müsse man deswegen "auch nach rechts" die Ohren offen haben.
Die Herausforderung für Wagenknechts Gesundheit sieht Dehm hingegen sehr wohl – aber auch eine Lösung: Unangenehmes delegieren. "Sahra erklärt komplizierte Dinge einfach, wahrhaftig und brillant", sagt er. "So jemand müsste in jeder Partei geschont werden, damit sie nicht in den intriganten Latrinen einer Parteiorganisation an Glanz verliert."
Bloß: Wagenknecht ist auch nicht als Teamplayerin bekannt, als jemand, der Verantwortung abgibt. Der engste Kreis um sie soll extrem klein sein und vor allem aus Wagenknecht selbst und ihrem Ehemann Oskar Lafontaine bestehen.
Könnte sie sich vorstellen, die Belastung zu tragen, Verantwortung abzugeben? Fragen wie diese lässt Wagenknecht auf Anfrage von t-online unbeantwortet. Bleibt also nur abzuwarten – auf den nächsten TV-Auftritt und den nächsten Hinweis.
- Gespräche mit Diether Dehm und anderen Linkenpolitikern
- nd-aktuell.de: "Der Hauptfeind steht in der eigenen Partei"
- taz.de: "Millionär droht Linken-Rausschmiss"
- spiegel.de: "Das Bundestagsphantom"