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Flüchtlingskrise? Das wahre Problem liegt woanders


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Kommunen überfordert
Das wahre Problem der Flüchtlinge in Deutschland


Aktualisiert am 23.01.2023Lesedauer: 6 Min.
In der Landeserstaufnahmestelle warten Geflüchtete in einer Schlange vor der Essensausgabe: Mittlerweile steigen auch die Zahl der Geflüchteten von außerhalb der Ukraine wieder.Vergrößern des Bildes
In der Erstaufnahmestelle des Landes warten Geflüchtete in einer Schlange vor der Essensausgabe: Mittlerweile steigen auch die Zahl der Geflüchteten aus anderen Ländern als der Ukraine wieder. (Quelle: Stefan Puchner/dpa)
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Neues Jahr, alte Probleme: Wieder warnen Kommunen und Verbände vor zu vollen Flüchtlingsunterkünften. Auch wenn nun vieles besser läuft als noch 2016, eine wichtige Lehre wurde verpasst.

Vorbei sind die Bilder der vollen Bahnhöfe, der belegten Turnhallen, der Schlangen vor den Sozialämtern. Doch wer wissen will, wie dramatisch die Flüchtlingskrise noch immer ist, der muss in diesen Tagen nach Berlin-Tegel schauen. Am Stadtrand der Hauptstadt, hinter Stacheldrahtzäunen, befindet sich auf dem ehemaligen Flughafengelände eine Notunterkunft gewaltigen Ausmaßes.

Dort, wo früher Tausende Menschen in den Urlaub flogen, leben nun knapp 2.000 Menschen. In kleinen Kabinen stehen Stockbetten, bis zu zehn Menschen schlafen in einem Raum. Die Ankunftshalle des früheren Terminals C ist nun der Essenssaal, auf Bierbänken sitzen Familien und trinken Kaffee. Und die früheren Check-in-Schalter, wie passend, dienen nun der Registrierung der 100 bis 200 Menschen, die hier täglich ankommen.

Viel gelernt aus 2016, und doch quietscht es gewaltig

Seit Monaten warnen Kommunen: Wir sind überfordert. Doch das deutsche System sieht keine Überforderung vor: Diejenigen, die ankommen, müssen irgendwo unterkommen. Längst kursiert wieder eine "Das Boot ist voll"-Rhetorik, Scharfmacher fordern ein Schließen der Grenzen. Zwar funktioniert die Aufnahme deutlich reibungsloser als noch 2015 und 2016, und doch quietscht es gewaltig.

Dabei zeigt sich: Die derzeitige Krise ist vor allem eine Unterbringungskrise. Das liegt nicht allein daran, dass 2022 besonders viele Menschen kamen. Deutschland hat es nach den Jahren 2015 und 2016 auch verpasst, Lehren für eine bessere Verteilung und Wohnungspolitik zu ziehen.

Was das heißt, lässt sich am ehemaligen Flughafen Tegel gut beobachten. Seit der Öffnung im März hat die Stadt das Ankunftszentrum durchgehend verbessert, denn die Menschen bleiben immer länger. Eigentlich waren für Tegel als sogenanntes Ankunftszentrum für Ukrainer mal ein bis drei Tage angedacht. Doch das ist nicht mehr umsetzbar, nun bleiben die Menschen eher Wochen, einige sogar Monate.

So etwa die Ukrainerin Samira, 23, die seit zwei Monaten in Tegel wohnt. Die junge Frau mit den dunklen Locken sucht derzeit eine Wohnung oder zumindest ein Zimmer in Berlin – doch bislang hatte sie keinen Erfolg. Nun ist sie mit dem Shuttlebus von Tegel aus auf dem Weg in die Stadt, um sich eine Wohnung anzuschauen. Ihr geht es wie vielen Ukrainern: Sie wollen in Berlin bleiben – weil es hier ein großes Netzwerk gibt, viele andere sind auch hier. Sie wirkt etwas verzweifelt, aus der Notunterkunft in Tegel will sie unbedingt raus. "Ich bin sehr, sehr müde", sagt sie über die Schlafsituation.

Der Wohnungsmarkt ist angespannt, die Mieten teuer

Das Problem: In Berlin, wie auch in vielen anderen Großstädten, ist der Wohnungsmarkt angespannt, die Mieten sind teuer. Und ukrainische Geflüchtete sind nicht unbedingt die präferierten Mieter: Was, wenn sie von heute auf morgen zurückkehren? Zudem steht ihnen nicht viel Geld zur Verfügung – und in diesem Preissegment ist das Wohnungsangebot besonders dünn.

Anders als Migranten aus anderen Staaten müssen ukrainische Geflüchtete keinen Asylantrag stellen. Sie werden über die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie aufgenommen, haben mit Registrierung in Deutschland Anspruch auf Sozialleistungen, erhalten also Hartz-IV-Sätze und damit mehr Geld als Asylbewerber.

Das führt nun zu einem Verteilungskampf: Die Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg fordern, dass der Schlüssel zur Asylbewerberverteilung geändert wird. Denn zwar wurde auch ein Teil der ukrainischen Geflüchteten zentral über Berlin oder Hannover in andere Bundesländer verteilt, im Prinzip aber können sich die ukrainischen Geflüchteten selbst aussuchen, wo sie leben möchten. Sie wählen vor allem die großen Städte – ähnlich wie Geflüchtete, die nach positivem Abschluss ihres Asylverfahrens ihren Wohnsitz frei wählen dürfen.

Diese sind dennoch verpflichtet, weiter auch Asylbewerber – zu denen die Ukrainer offiziell nicht zählen – nach einem strikten Verteilungsschlüssel aufzunehmen. Das Ergebnis: Viele Städte nehmen ungleich mehr Menschen auf als viele ländliche Kommunen. Anders aber als die Flächenländer können die Stadtstaaten nicht auf das Umland ausweichen. Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte etwa kritisierte kürzlich in der "Bild": "Wegen der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt geht es auf Dauer nicht, Geflüchtete überproportional in Großstädten unterzubringen. Der Verteilungsschlüssel sollte für die Stadtstaaten angepasst werden."

Gähnende Leere in Notunterkünften

Ein gänzlich anderes Bild als in Tegel bietet sich derzeit in Teilen Niedersachsens. In einigen Notunterkünften herrscht gähnende Leere, etwa in der kleinen Gemeinde Dörverden. Dort ist – wie an 19 weiteren Orten – seit Wochen eine Turnhalle als Notunterkunft hergerichtet. Doch die steht leer, wie die Kreiszeitung berichtet.

Das kommt auch für die Verantwortlichen vor Ort überraschend. Noch im Oktober sei man davon ausgegangen, dass über den Winter zahlreiche Menschen kommen, sagt der Hauptgeschäftsführer des Niedersächsischen Landkreistages, Hubert Meyer. Daraufhin haben sich viele Landkreise vorbereitet, etwa leerstehende Hotels und Jugendherbergen angemietet und in extremen Fällen sogar Turnhallen unter Beschlag genommen. Doch diese schnell akquirierten Sammelunterkünfte sind nun im Schnitt zu zwei Drittel, Notunterkünfte wie Turnhallen zu einem Viertel ausgelastet.

Landkreise in Bedrängnis

Die Landkreise bringt das in Bedrängnis. Nicht nur müssen sie sich gegenüber den Bürgern rechtfertigen, deren Vereinssport wegen leerer Betten ausfällt. Sie müssen auch noch die Kosten für den Betrieb der Unterkünfte und deren Sicherheit selbst tragen. Denn die Kreise bekommen nur Geld pro geflüchteter Person, nicht für die Betten. Heißt: Sind in einer Unterkunft für 100 Leute nur zehn Betten belegt, werden auch nur zehn bezahlt. Das kritisiert Meyer scharf: "Die, die sich mit erheblichem Aufwand vorbereitet haben, stehen nun wie die begossenen Pudel da. Die anderen haben sich das erspart."

Diese Momentaufnahme aus Niedersachsen zeigt ein größeres Problem auf: Ob und wie tatsächliche Plätze bereitstehen, liegt vor allem in der Planung der Kommunen und der Kreise. Hält diese – auch in Zeiten, in denen nur wenige Geflüchtete kommen – auf eigene Kosten Plätze bereit? Oder baut sie etwaige vorhandene Plätze ab, um Geld einzusparen?

Wichtige Frage noch unbeantwortet

An sich war es nach der Hochphase 2015 und 2016 durchaus sinnvoll, die vorhandenen Unterkünfte nicht in der damaligen Form beizubehalten. In den Jahren der sogenannten Flüchtlingskrise mussten in kürzester Zeit zahlreiche Unterkünfte angemietet werden, wegen des Zeitdrucks und des hohen Bedarfs oftmals zu horrenden Preisen. Vor allem im ländlichen Raum sanierten sich einige Immobilienbesitzer damals gesund.

Doch dann wurde vielerorts verpasst, eine Antwort auf folgende Frage zu finden: Was, wenn das nächste Mal so viele Geflüchtete auf einmal kommen?

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"Es kann nicht sein, dass man immer wieder neu überrascht ist", sagt Hannes Schammann, Professor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim. Migrationsexperten wie er warnen seit Langem davor, dass 2015/16 kein Einzelereignis war, sondern sich aller Voraussicht nach wiederholen wird. Sie behielten recht: 2022 kamen sogar mehr Schutzsuchende nach Deutschland als damals.

Absicherung für den Ernstfall

Die Verantwortung für eine vorausschauende Politik aber könne nicht allein auf der untersten Ebene liegen, sagt Schammann – "vor allem nicht in Zeiten klammer Kassen". Auch Bund und Länder wären hier in der Pflicht gewesen, einen Plan zu entwickeln. Schammann vergleicht es mit einer Risikolebensversicherung: Braucht man sie nicht, dann hat man im schlimmsten Fall etwas Geld verloren. Tritt aber der Ernstfall ein, ist man abgesichert.

Wie könnte eine solche Lösung aussehen? Es gebe kein Patentrezept, sagt Schammann, gerade in Ballungszentren könne nicht beliebig viel Wohnraum vorgehalten werden. Deswegen brauche es kreative Lösungen, etwa Zwischennutzungskonzepte oder Vormietverträge für Gebäude, die leer stehen und in den kommenden Jahren umgebaut werden sollen. Mit anderen Forschern entwickelt Schammann gerade einen Algorithmus, mit dessen Hilfe Geflüchtete den passenden Wohnort finden sollen – in der Hoffnung, dass sich somit mehr Menschen für den ländlichen Raum entscheiden. "Eine Lehre aus der aktuellen Situation muss jetzt sein, dass man sich für die Zukunft besser vorbereitet."

Das Bundesinnenministerium teilte t-online auf Anfrage mit, dass es die Länder wegen der hohen Belastung finanziell und durch die Bereitstellung von gegenwärtig nicht benötigten Bundesliegenschaften. Zudem biete der Bund an die Herrichtungskosten für letztere zu übernehmen. Auf die Frage, ob das Ministerium an einer langfristigen Lösung arbeite, antwortete das Ministerium nicht.

Noch mehr Betten in Tegel

In Berlin gab es diese vorausschauende Planung, in den Zwischenjahren hielt die Stadt Notunterkünfte bereit. Dennoch geht es in Tegel in diesen Tagen geschäftig zu: Teile der Flughafengebäude sollen bald einer lang geplanten Universität Platz machen, hinter dem Gebäude von Terminal C entsteht derzeit innerhalb weniger Wochen eine Stadt aus Leichtbauhallen. 3.200 Menschen könnten künftig auf dem früheren Flughafengelände unterkommen können.

Einige Hallen sind schon bezogen, in anderen werden noch die Betten zusammengeschraubt. In den neuen Gebäuden haben die Menschen mehr Platz, es gibt erstmals Regale, abschließbare Spinde, Sitzecken. Doch noch immer teilen sich teils mehr als zehn Menschen ein Zimmer.

Anders scheint es nicht zu gehen: Längst leben hier nicht mehr nur Ukrainer, sondern auch Asylbewerber aus anderen Ländern – besonders aus Afghanistan, Syrien, Moldau. Denn auch die Zahlen anderer Asylbewerber steigen längst wieder an. Das zeigt: Vorbei ist diese Krise noch lange nicht.

Verwendete Quellen
  • Gespräche mit Hannes Schammann, Hubert Meyer
  • Vorortbesuch im Ankunftszentrum Tegel mit Regina Kneiding, Sprecherin des DRK Berlin
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