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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kompromiss zum Bürgergeld Die süße Rache der FDP
Die Union feiert den Kompromiss beim Bürgergeld als ihren Erfolg. Doch es gibt noch eine Partei, die allen Grund zur Freude hat.
Seinen Triumph genoss CDU-Chef Friedrich Merz sichtlich. Um 12 Uhr am Dienstag trat er im Bundestag vor die Presse, um die Einigung beim Bürgergeld zu verkünden. "Überrascht" sei er gewesen, zu welch "sehr weitgehenden" Kompromissen die Ampelregierung bei der umstrittenen Reform bereit gewesen sei. Und das alles nur, weil die Union sie so geschlossen abgelehnt hat, so Merz. "Dieses Gesetz wird weiter den Namen Bürgergeldgesetz tragen, aber es wird nicht mehr dem Inhalt nach das Bürgergeld sein, das die Koalition ursprünglich geplant hat", bilanzierte er zufrieden.
Nun ist der Kompromiss also da. Wenn am Mittwochabend der Vermittlungsausschuss zusammentritt, zum ersten Mal in dieser Wahlperiode, ist der Drops quasi schon gelutscht.
Eine informelle Arbeitsgemeinschaft, der sowohl Vertreter der Länder als auch des Bundestags angehörten, hat sich unter Leitung von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) auf einen Vorschlag verständigt, der dem Vermittlungsausschuss vorgelegt wird. Zweimal waren die Verhandler zusammenkommen, am Montag hatten die Verhandlungsführer das Ergebnis bereits festgeklopft. Stimmt der Vermittlungsausschuss zu, müssen noch Bundesrat und Bundestag ihr Okay geben. Beides gilt als sehr wahrscheinlich.
Für die Union ist die Reform der Reform ein Erfolg. Endlich konnte sie zeigen, dass sie noch eine wichtige Rolle in der Bundespolitik spielt. Doch auch für die FDP hat sich angesichts der vereinbarten Verschärfungen eine günstige Gelegenheit zur Profilierung ergeben.
Kehrtwende bei der Vertrauenszeit, Abstriche beim Schonvermögen
Denn der Kompromiss zum Bürgergeld sieht vor, dass es Sanktionen nun doch bereits ab dem ersten Tag geben soll. Im ursprünglichen Entwurf war eine "Vertrauenszeit" von sechs Monaten geplant. Auch in dieser wäre es möglich gewesen, Sanktionen zu verhängen. Es sollte aber weitgehend darauf verzichtet werden. Nun also die Kehrtwende: Verstößt ein Leistungsempfänger gegen die sogenannten Mitwirkungspflichten, kann ihm bereits im ersten Monat die Grundsicherung um bis zu zehn Prozent gekürzt werden.
Auch beim zweiten großen Kritikpunkt, dem Schonvermögen, gibt es Änderungen. In der Originalfassung des Bürgergelds war für zwei Jahre ein Schonvermögen von 60.000 Euro für den Antragsteller und 30.000 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied vorgesehen. Eltern mit zwei Kindern hätte so 150.000 Euro behalten und trotzdem Grundsicherung beziehen können. Die Summe soll nun auf 40.000 Euro für die erste Person und 15.000 Euro für alle weiteren reduziert und auf ein Jahr begrenzt werden.
In der SPD versucht man, die verschärften Regeln herunterzuspielen. Dort spricht man von "verschmerzbaren Kompromissen" und davon, dass der "Kern" des Bürgergelds unberührt bleibe. Der ist – so die Lesart der SPD –, dass mit den Empfängerinnen und Empfängern von Hartz IV künftig "auf Augenhöhe" umgegangen werde. Etwa, indem der Vermittlungsvorrang wegfällt. Dieser sah bislang vor, dass es wichtiger ist, Arbeitslose in einen Job zu vermitteln, egal welchen, als sie weiterzubilden. "Wenn der Vermittlungsausschuss zustimmt, ist das ein Systemwechsel", freut sich ein führendes SPD-Fraktionsmitglied: "Hartz IV gehört damit der Geschichte an."
Die rasche Einigung zwischen Ampel-Regierung und Union ist durchaus überraschend. Denn lange sah es so aus, als gäbe es den ersten Großkonflikt dieser Wahlperiode: SPD, Grüne und FDP hatten sich zwar auf die Einführung des Bürgergelds zum 1. Januar verständigt, aber eine Mehrheit im Bundestag reicht der Koalition nicht. Auch der Bundesrat muss der wichtigsten Sozialreform seit rund 20 Jahren zustimmen. Was zwangsläufig bedeutet: Die Union regiert mit.
"Wir haben schwere Systemfehler im Hartz-IV-Update beseitigen können."
Alexander Dobrindt
Und CDU und CSU hatten eine Menge Kritik am Ampel-Vorhaben. Unter anderem bemängelten sie, das Bürgergeld biete zu wenig Anreize, eine Arbeit aufzunehmen. Entsprechend blockierte der Bundesrat das Vorhaben in der vergangenen Woche. Es deutete sich an, dass der Vermittlungsausschuss in einem zähen Ringen einen Kompromiss zwischen Bundestag und Länderkammer finden muss. Ganz so, wie es bei der Einführung von Hartz IV vor bald 20 Jahren der Fall war.
Doch dieses Mal wiederholte sich Geschichte nicht. Was vor allem an der FDP lag. Durch die Kritik der Union sahen die Liberalen ihre Chance gekommen, die von SPD und Grünen forcierte Sozialreform nicht ganz so großzügig ausfallen zu lassen. Entsprechend signalisierte nicht nur Parteichef Christian Lindner früh Kompromissbereitschaft mit der Union.
Die Botschaft der Liberalen: Wir können auch anders
Am Montag ging FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai dann in die Offensive: Er forderte alle Beteiligten zu Kompromissbereitschaft auf und machte deutlich, dass auch seine Partei von der sanktionsfreien Vertrauenszeit nichts hält. Bei vielen Bürgerinnen und Bürgern sei der Eindruck entstanden, dass "die Leistungsgerechtigkeit nicht ausreichend berücksichtigt" werde.
Es war wieder einmal FDP-Fraktionsvize Wolfgang Kubicki, der die Stimmung bei den Liberalen unverblümt auf den Punkt brachte. In einem Interview mit der "Bild" keilte er gegen die Ampelpartner: "Ständig kommen Grüne und SPD mit neuen Forderungen an – das geht nicht mehr. Wenn sich das nicht absehbar ändert, haben wir ein fundamentales Problem."
Zur geplanten Reform sagte er: "Wir als FDP verteidigen derzeit das Bürgergeld – obwohl mir das komplett gegen den Strich geht: Wir schaffen den Anreiz ab, voll arbeiten zu gehen, wenn wir beim Bürgergeld hohe Zuverdienstmöglichkeiten zulassen! Die Menschen verlieren doch den Glauben an den gerechten Sozialstaat, wenn sich Arbeit nicht mehr lohnt."
Kubickis Botschaft war: Die FDP hat die Nase voll, sich von der aus ihrer Sicht linken Übermacht in der Koalition ständig vorführen zu lassen. Der Streit um das Bürgergeld war deshalb ein willkommener Anlass, ein wenig Rache zu nehmen. Dazu musste man sich nur an den Widerstand der Union dranhängen. Kleines politisches Risiko, großer Effekt.
Zwar bemühten sich die Ampelparteien am Dienstag, dem Eindruck entgegenzuwirken, die Koalition habe nicht geschlossen gehandelt. In einem eilig einberufenen Pressestatement im Reichstag betonten die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Britta Haßelmann, und die parlamentarischen Geschäftsführer von SPD und FDP, Katja Mast und Johannes Vogel, die "gute Zusammenarbeit" beim Bürgergeld.
Aber die Botschaft der Liberalen ist gesetzt: Wir können auch anders. Es gibt ein politisches Leben jenseits einer Ampelregierung. Denn selbst wenn sich Liberale und Union derzeit häufig öffentlich beharken, würde keine Seite zögern, eine gemeinsame Koalition einzugehen, wenn es eine entsprechende Mehrheit gäbe. Der Bürgergeld-Kompromiss ist damit für beide ein Erfolg, weil sie durch ihre Verbrüderung Verschärfungen durchgesetzt haben.
Es ist allerdings auch nicht so, dass SPD und Grüne mit dem Kompromiss nicht leben könnten. Ein niedrigeres Schonvermögen ist eher ein symbolisches Thema. Die wenigsten Menschen, die Anspruch auf Bürgergeld haben, verfügen über ein gut gefülltes Konto. Oder wie es eine SPD-Abgeordnete auf den Punkt bringt: "Es geht nicht um die Villenbesitzer mit Maserati." Und auch die Tatsache, dass es nun stärkere Anreize zur Arbeitsaufnahme gibt, kommt bei der sozialdemokratischen Kernklientel besser an als bei SPD-Funktionären.
Der gescheiterte Traum der SPD
Trotzdem hatte sich die SPD die Nachfolge von Hartz IV ursprünglich anders vorgestellt. Denn sie meinte es durchaus ernst, als sie in den Jubelstunden nach der Bundestagswahl ein "sozialdemokratisches Jahrzehnt" ausrief. Es war ein großer Plan, vielleicht ein übergroßer, der deutlich mehr umfasste, als auch die nächste Bundestagswahl 2025 zu gewinnen.
Denn der Streit ums Bürgergeld hat einmal mehr deutlich gemacht: Um ein Jahrzehnt in Deutschland wirklich zu einem sozialdemokratischen zu machen, braucht es mehr als eine Bundesregierung. Es braucht auch viele SPD-geführte Landesregierungen. Nur dann gibt es auch eine Mehrheit im Bundesrat, mit der sich all die schönen Gesetze durchsetzen lassen, die der Bundestag verabschiedet.
Doch das Vorhaben klappte nicht. Ende März holte Anke Rehlinger zwar noch das Saarland mit absoluter Mehrheit für die SPD zurück. Aber bereits im Mai scheiterte die SPD in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen deutlicher als erwartet. Erst im Herbst 2023 bieten sich in Bayern und Hessen wieder zwei Gelegenheiten, die Kräfteverhältnisse in der Länderkammer zu verschieben.
Es wird deshalb nicht das letzte Mal gewesen sein, dass die SPD – und die Ampel-Regierung insgesamt – auf die Hilfe der Union angewiesen ist. Es werden also weitere Kompromisse erforderlich sein.
- Eigene Recherche