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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mögliche Ausschreitungen "Da braut sich was zusammen"
Wie brenzlig wird die Lage im Herbst? Der Thüringer Verfassungsschutzchef Stephan Kramer sieht "paradiesische Zustände" für Extremisten.
Wie aufgeheizt ist die Stimmung in der Bevölkerung? Angesichts von Energieengpässen und Preissteigerungen sind die Befürchtungen in Teilen der Bundesregierung groß. Wird bei Protesten im Herbst eine breite Masse an Menschen nicht vor Gewalt zurückschrecken?
Dies ist zumindest eine Gefahr, sagt der Chef des Thüringer Verfassungsschutzes, Stephan Kramer, im Gespräch mit t-online. Warum die gegenwärtige Situation für ihn eine "explosive Gesamtlage" darstellt, wo er bei der Regierung deutlich Luft nach oben sieht und warum das Herumlaufen als "Feuermelder" für ihn kein Selbstzweck ist, erklärt der Verfassungsschützer im Interview.
t-online: In dieser Woche jähren sich die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen. Dort tobte 1992 vier Tage lang ein Mob gegen das "Sonnenblumenhaus", wo vietnamesische Asylbewerber untergebracht waren. Droht uns etwas Ähnliches im Herbst erneut?
Stephan Kramer: Ich würde die Situation heute und damals zwar nicht vergleichen. Was wir angesichts des 30. Jahrestags der rassistischen Ausschreitungen allerdings realisieren müssen: Der Hass gegen Migranten und Flüchtlinge begleitet uns bis heute.
Rechtsextreme versuchen nach wie vor, gegen Ausländerinnen und Ausländer Stimmung zu machen. Trotz vieler Fortschritte in der Willkommenskultur hat ein großer Teil der Bevölkerung nicht nur Angst vor Zuwanderung, sondern glaubt teilweise auch, mit Gewalt gegen Zuwanderer und Asylbewerber vorgehen zu müssen. Auch 30 Jahre später ist das kein Thema, das wir zu den Akten legen können – leider.
Damals feuerten Tausende Schaulustige die Gewalttäter an, über Tage bekam die Polizei die Situation nicht unter Kontrolle. Können Sie ein solches Szenario ausschließen, auch wenn sich die wirtschaftliche Krise verschärft?
Wir brauchen die Vorfälle aus dem Jahr 1992 – nach der Vereinigung – nicht heranzuziehen, um zu erkennen, dass die gegenwärtige Situation emotional sehr aufgeheizt ist. Eine ganze Reihe von Menschen fürchtet um ihre Existenz. Deshalb wird es im Herbst zu einer ganzen Reihe von Protesten kommen – davon kann man ausgehen.
Haben Sie kein Verständnis für Menschen, denen das Geld vorne und hinten nicht mehr reicht, und die auf die Straße gehen, um ihren Unmut kundzutun?
Absolut, es ist hier wichtig zu unterscheiden: Es gibt legitime Proteste, bei welchen Menschen ihren Widerspruch beispielsweise gegen politische Entscheidungen zum Ausdruck bringen wollen – mit ihren im Grundgesetz verbrieften Rechten. Dass diese stattfinden können, muss der Staat garantieren.
Stephan Kramer
ist seit 2015 Verfassungsschutzpräsident des Landes Thüringen. Bis 2014 war er Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Gleichzeitig gibt es Situationen, in welchen Extremisten versuchen, diese legitimen Meinungsäußerungen zu unterwandern und für ihre eigenen, extremistischen Zwecke zu missbrauchen. Diese beiden Bereiche muss man deutlich voneinander trennen; im Herbst werden wir aber wahrscheinlich wieder beides sehen.
Mit Blick auf die Situation im Herbst sagten Sie kürzlich, dass sich die auch gewalttätigen Auseinandersetzungen während der Corona-Zeit im Nachhinein als ein "Kindergeburtstag" entpuppen könnten. Warum soll die Situation jetzt so viel gefährlicher sein?
Im Herbst erwartet uns eine ungewöhnliche Konstellation.
Inwiefern?
Wir haben es mit einer Vielzahl von hochemotionalen, existenzbedrohenden Entwicklungen zu tun, die diesen Herbst gleichzeitig eintreffen können: Ukraine-Krieg, Flüchtlinge aufgrund von Hunger, Gas- und Energieengpässe, daraus folgend Rezession, Inflation, Preissteigerungen, höhere Arbeitslosigkeit, Zukunfts- und Existenzangst.
Aber unsere Gesellschaft hat auch zuvor schon Krisen durchlebt.
In der Vergangenheit hatten wir es häufig mit einzelnen Krisen zu tun – denken wir etwa an die Finanzkrise, die Flüchtlingswelle oder auch die Pandemie, die zumindest mit etwas zeitlichem Abstand aufeinander folgten. Jetzt treffen viele Krisen gleichzeitig aufeinander. Dadurch entsteht eine explosive Gesamtlage.
Auch in vorigen Krisen kam es teilweise schon zu heftigen Reaktionen.
Durchaus. Während der Flüchtlingswelle kam es zu großen Demonstrationen mit teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen. In der Pandemie gab es Brandanschläge auf das Robert Koch-Institut, Angriffe auf Lehrer bis hin zu Idar-Oberstein, wo ein junger Student, der an die Maskenpflicht erinnerte, in einer Tankstelle erschossen wurde.
Was befürchten Sie jetzt?
Durch die Vielzahl der Krisen kann es jetzt zu einer multiplizierten Gefechtslage kommen. Vor diesem Hintergrund sage ich: Die Corona-Spaziergänge waren teilweise auch gewalttätig – doch im Vergleich dazu, worauf wir uns im Herbst einstellen müssen, waren diese Kindergeburtstage.
Sie warnen schon seit einiger Zeit, dass es im Herbst zu heftigen Unruhen kommen könnte. Vergangene Woche hat auch das Bundesamt für Verfassungsschutz eine Einschätzung zur Lage herausgegeben, die sich etwas anders liest. Diese warnt zwar vor Mobilisierungen aus der rechtsextremen Ecke, sieht aber gleichzeitig "keine Anzeichen für flächendeckende staatsfeindliche Proteste oder gar gewalttätige Massenkrawalle". Stimmen Sie dieser Einschätzung zu?
Die Aussage für sich genommen lässt sich aus der Vogelperspektive des Bundesamtes für Verfassungsschutz sicherlich so unterschreiben. Doch muss man sich schon fragen: Was heißt denn beispielsweise flächendeckend? Ab wann spreche ich davon?
Nach Einschätzung meiner Kollegen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg oder auch meiner eigenen in Thüringen ist da bereits jetzt ordentlich Druck im Kessel. Auch Hessen und Nordrhein-Westfalen treffen Vorsorge. Das heißt nicht, dass die Schlussfolgerung des Bundesamtes falsch ist – aber ich glaube, dass wir darauf hinweisen müssen: Da braut sich was zusammen.
Warum ist das so?
Das liegt vor allem daran, dass Extremisten aktuell versuchen, durch eine Verbindung der Themen Inflation, Energie, Ukraine-Krieg und Corona die Mitte der Gesellschaft für sich zu gewinnen und für ihre Agenda zu mobilisieren, so steht es auch in dem Bericht des Bundesverfassungsschutzes.
An sich ist das keine neue Erkenntnis: Die extremistischen Ränder versuchen immer, in die Mitte der Gesellschaft hineinzuwirken und so neue Unterstützer zu gewinnen – indem man die existierende Angst und Emotionalität in der Bevölkerung aufgreift und sich an die Spitze der Stimmungen stellt.
Was ist jetzt anders?
Die jetzige Situation könnte für Extremisten fast schon paradiesische Zustände darstellen. Wenn es ihnen in diesem Herbst gelänge, sich die bis in die Mittelschicht hineinragenden Existenzängste zunutze zu machen. Gefährlich wird es dann, wenn am Ende viele Menschen sagen: Der Staat tut nichts für mich, er unterstützt mich nicht.
Welche Akteure haben Sie da besonders im Blick?
Wir warnen vor allem vor einer sehr großen Gefahr vom rechten Rand. Rechtsextremisten versuchen bereits offensiv, in den sozialen Netzwerken mit Beiträgen und Podcasts die Stimmung weiter anzuheizen. Rasch nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine konnten wir bei rechtsextremen und neurechten Gruppen einen Wechsel beobachten: Neben der Pandemie wird zunehmend auch über das Thema Ukraine-Krieg Stimmung gemacht.
Russische Falschinformation und Propaganda schlägt in diese Kerbe mit ein und macht zusätzlich Feuer unter dem Kessel. Das Ziel: Zweifel an der Legitimität und Funktionsfähigkeit des Staates zu säen.
Was tun Sie dagegen?
Der Verfassungsschutz ist ein Frühwarnsystem – es ist vor allem die Aufgabe des Verfassungsschutzes, auf mögliche Bedrohungen hinzuweisen. Wir müssen in dieser Situation beispielsweise die Politik darauf aufmerksam machen, dass es besonders problematisch ist, wenn der Stabilitätsfaktor Mittelschicht plötzlich ins Wanken gerät. Das muss zwar nicht passieren, kann aber gravierende Auswirkungen auf den sozialen Frieden und auch die politische Stabilität haben.
Was noch?
Mir geht es auch darum, die Politik dafür zu sensibilisieren, dass es wichtig ist, wie sie in dieser Lage kommuniziert. Wie erklären wir den Menschen, was wir da tun und warum wir das tun? Reagieren die Menschen auf die Maßnahmen mit Verständnis oder reagieren sie eher mit noch mehr Widerstand? Das ist ein wichtiger Punkt.
Knapp 80 Prozent der Menschen blicken bei den Entlastungen "nicht mehr durch", so eine Umfrage für RTL/n-tv. 60 Prozent denken, dass sie noch gar nicht entlastet worden seien. Wie beurteilen Sie die Krisenkommunikation der Regierung?
Es gibt in der Krisenkommunikation der Politik Luft nach oben. Da sind einige Entscheidungsträger, die noch besser werden könnten. Man muss sich darüber im Klaren sein: Das ist ein sensibler Bereich. Es ist höchste Vorsicht geboten. Da sollte man als Politiker lieber einmal mehr nachdenken, als nur irgendwas herauszublasen.
Wo wir gerade über Krisenkommunikation sprechen: Auch Sie sehen sich der Kritik ausgesetzt, es mit Ihren Warnungen zu übertreiben.
Ja, das Argument dabei ist meist: Wir müssen Ruhe bewahren. Meine Sorge aber ist, dass wir mit zu viel "Ruhe bewahren" eher das Gegenteil erreichen. Es ist für mich kein Selbstzweck, als Feuermelder durch die Gegend zu laufen. Es geht mir darum, vor einer spezifischen Konstellation zu warnen, wo erhebliches Protestpotenzial zu massiven gewalttätigen Ausschreitungen führen kann.
Mein Amtskollege aus Brandenburg hat das treffend ausgedrückt: Manche sehnen sich den "Wutwinter" herbei. In den sozialen Medien gibt es einige, die vom Systemumbruch träumen. Ich glaube, wir sind davon weit entfernt. Wir müssen aber vor diesen Gedanken warnen, keinesfalls dürfen wir sie verniedlichen und herunterspielen. Sonst stehen wir am Ende da und müssen sagen: "Damit haben wir nicht gerechnet".
Wie wahrscheinlich ist es, dass eine breite Masse an Menschen auch vor Gewalt nicht zurückschreckt?
Das ist zumindest eine Gefahr. Meine Sorge ist: Wenn erst mal viele Menschen auf den Barrikaden sind, die Stimmung auf der Straße liegt – wohin tendieren sie dann? Bleiben sie in ihrem Protest auf der friedlichen, verfassungstreuen Ebene, oder rutschen sie in eine extremistische Ebene ab? Das gilt es zu verhindern. Deshalb ist mir ein Punkt noch wichtig.
Welcher?
Wir müssen aus der Situation in der Pandemie lernen. Da hat die große Naivität um sich gegriffen.
Was meinen Sie damit?
Die Naivität zahlreicher Protestierender, nicht mitzubekommen, dass man gemeinsam mit Extremisten auf der Straße steht. Und dass diese nicht nur da sind, sondern am Ende sogar das ganze Protestgeschehen übernehmen und steuern. In eine solche Situation dürfen wir nicht wieder kommen.
Wie wollen Sie das verhindern?
Wir haben gelernt, dass wir Menschen noch viel stärker dafür sensibilisieren müssen, dass Extreme versuchen, legitime Protestanliegen zu unterwandern. Wir weisen nun verstärkt darauf hin. Das müssen wir auch, von Anfang an.
Davon versprechen Sie sich tatsächlich etwas?
Zumindest kann dann am Ende niemand mehr behaupten: "Huch, das haben wir aber nicht gesehen."
Herr Kramer, herzlichen Dank für das Gespräch.
- Telefonisches Gespräch mit Stephan Kramer am 22.08.2022
- n-tv.de: "Ampel will entlasten, Bürger blicken nicht durch"
- verfassungsschutz.de: "Mögliche Auswirkungen des Krieges in der Ukraine sowie der Wirtschafts-, Energie- und Pandemielage auf die Innere Sicherheit in Deutschland"