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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bundespräsident Steinmeier "Das ist eine besorgniserregende Entwicklung"
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht im t-online-Interview
Der Tisch im Amtszimmer des Bundespräsidenten ist fein gedeckt, selbst die Plätzchen sind unter einer Glashaube geschützt. Doch während des fast einstündigen Gesprächs fasst niemand im Raum die köstlich aussehenden Süßigkeiten an. Alle begnügen sich mit Wasser und Kaffee.
Die Zeiten seien "fast zu spannend", sagt Frank-Walter Steinmeier, nachdem er sich nach einer lockeren Begrüßung gesetzt hat. Natürlich ist das Staatsoberhaupt angesichts des Ukraine-Kriegs besorgt. Aber Steinmeier will trotz all der Krisen nicht die Zuversicht verlieren – und den Bürgern auch Mut machen.
t-online: Herr Bundespräsident, in Europa herrscht wieder Krieg. Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine verursacht täglich Leid, Tod, Zerstörung. Auch in Deutschland sind viele Menschen erschüttert. Was sagen Sie ihnen?
Frank-Walter Steinmeier: Der brutale Angriffskrieg, den Wladimir Putin gegen die Ukraine entfesselt hat und der tausendfach zu Leid, Tod, Flucht und Zerstörung führt, erschüttert uns bis ins Mark. Auch deshalb gibt es bei uns diese beeindruckende Solidarität mit den Menschen, die nach Deutschland flüchten. Wenn wir zugleich sehen, wie sehr die Ukrainer für Demokratie und Freiheit in ihrer Heimat kämpfen, ist das aber auch eine Mahnung an uns: Diese Errungenschaften sind nie auf ewig garantiert. Demokratie verlangt Engagement. Sie muss uns auch im eigenen Land etwas wert sein.
Die Drohung des russischen Präsidenten mit Atomwaffen hat 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges die Gefahr eines dritten Weltkriegs heraufbeschworen. Ist die Angst vieler Deutscher vor der nuklearen Katastrophe berechtigt?
Bundeskanzler Olaf Scholz, Präsident Emmanuel Macron, der israelische Ministerpräsident und viele andere bemühen sich, gegenüber Putin weitere Verschärfungen der Auseinandersetzung zu vermeiden. Ich hoffe inständig, dass es all denen gelingt, die militärische Gewalt zu beenden.
Viele von uns sind mit der Angst vor einem Atomkrieg groß geworden, dann schien sie gebannt. Hätten Sie gedacht, dass dieses Bedrohungsszenario tatsächlich noch einmal wiederkommt?
Viele meiner Generation haben den Kalten Krieg noch in Erinnerung. Das war alles andere als eine verlässliche und friedvolle Aufteilung der Welt in Ost und West. Das Risiko von militärischen Konflikten war immer da. Und auch wenn die USA und die Sowjetunion direkte militärische Konflikte vermieden haben: Stellvertreterkriege gab es auf allen Kontinenten. Und in Osteuropa lebten die Menschen in Unfreiheit und politischer Unterdrückung.
Nach dem Mauerfall, nach dem Ende der Sowjetunion, nach dem Ende der Blockkonfrontation hatten wir geschafft, das alles hinter uns zu lassen. Krieg in Europa war unvorstellbar geworden – leider ein Irrtum, wie wir jetzt merken.
Im Moment überlagern sich diverse Krisen: Klima, Corona, der Krieg in der Ukraine und viele neue Flüchtlinge. Sind wir als Gesellschaft überhaupt noch in der Lage, diesen permanenten Krisenmodus unbeschadet zu überstehen?
Wenn man wie ich auf eine längere politische Biografie zurückblickt, erinnert man sich an Krisen, die wir überstanden haben und die wir vermieden haben. Wir haben in den letzten Jahrzehnten viele Herausforderungen bewältigt und uns aus bedrängten Lagen befreit. Wir sollten ruhig mit etwas mehr Selbstbewusstsein in die Zukunft gehen.
Die zahlreichen Krisen überfordern allerdings viele Menschen.
Das ist so. Und niemand darf das kleinreden. Dennoch: Wir müssen uns immer wieder bewusst machen, dass wir in Deutschland in einem Teil der Welt leben, in dem es länger als ein Jahrzehnt Dauerwachstum und sinkende Arbeitslosigkeit gab – und der Lebensstandard der allermeisten Menschen gestiegen ist. In anderen Ländern Europas und auf anderen Kontinenten kämpfen Menschen teils seit Langem mit einer Realität, die wesentlich unbequemer als unsere ist.
Wir erleben also gerade eine Verunsicherung, die woanders längst Alltag ist?
Ich denke, uns verunsichert die aktuelle Lage besonders, weil die Gleichzeitigkeit von Pandemie und Ukraine-Krieg viele unserer Gewissheiten und Gewohnheiten infrage stellt. Uns verunsichert, dass es zum ersten Mal seit Jahren nicht einfach nur weiter- und aufwärtsgeht. So unabhängig als Gemeinschaft, so selbständig als Individuum, wie wir uns wähnten, sind wir doch nicht.
Im Gegenteil: Vielleicht haben wir selten so sehr wie in der Pandemie gespürt, wie sehr wir auf die anderen angewiesen sind. Vielleicht lernen wir gerade wieder, wie wichtig aus der Mode gekommene Werte wie Zusammenhalt, Gemeinwohl und Verantwortung für andere sind. Weil wir eine lernfähige Gesellschaft sind. Und es auch sein müssen. Denn vor uns liegen weitere große Aufgaben – etwa der Kampf gegen den Klimawandel.
Was diese Aufgaben nicht erleichtert, ist das wachsende Misstrauen vieler Bürger gegen Politiker und politische Institutionen. Erleben wir gerade den Niedergang der Demokratie?
Ganz sicher nicht!
Was macht Sie so optimistisch?
Demokratien sind nicht schwach, sie werden unter dem Druck der aktuellen Ereignisse sogar stärker: Der Westen hat eine entschiedene und geschlossene Antwort auf die Invasion in der Ukraine gefunden. Aber klar ist auch: Eine Demokratie lebt vom Engagement ihrer Bürger. Sie ist keine Angelegenheit von Parlamenten und Regierungen, sondern der gesamten Gesellschaft. Demokratie bei uns wird nur leben, wenn die Gesellschaft sie wirklich will.
Woher kommt denn die grundsätzliche Skepsis gegenüber der Politik?
Ich weiß gar nicht, ob wir nur über Skepsis gegenüber der Politik reden sollten: Eigentlich ist es oft eine unscharfe Skepsis gegenüber "denen da oben". Da ist häufig Politik gemeint, das stimmt. Aber fast genauso trifft es Institutionen wie Gewerkschaften oder Kirchen und sogar Teile der Medien.
Für die Politik kommt aktuell hinzu: Es gab seit Ausbruch der Pandemie wesentlich weniger politische Veranstaltungen, also auch kaum Begegnungen. In diesen zwei Jahren ist die Distanz möglicherweise gewachsen. Jedenfalls ist es Zeit, sich wieder näherzukommen und genau das habe ich mir für meine zweite Amtszeit vorgenommen mit ausführlichen Reisen in die Regionen unseres Landes, mit meiner "Ortszeit Deutschland".
Aber diese Distanz gab es doch bereits vor Ausbruch der Pandemie.
Da will ich nicht widersprechen. Aber die Dauer der Pandemie hat die Gereiztheit in der Gesellschaft von Monat zu Monat wachsen lassen. Hinzu kommt, dass durch die teils sehr scharfen Debatten über die Corona-Maßnahmen und die Impfungen auch eine zunehmende Unversöhnlichkeit zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppen entstanden ist. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung.
Damit wir diese Unversöhnlichkeit nicht in die nächsten Auseinandersetzungen mitschleppen, die wir natürlich erleben werden, müssen wir versuchen, manche geschlagenen Wunden zu heilen, und wir müssen Brücken bauen, die stark und breit genug sind, dass möglichst alle darüber gehen können.
Wie wollen Sie diese Brücken bauen?
Zunächst mal müssen wir raus aus dem Selbstgespräch der Hauptstadt. Das gilt für Medien nicht weniger als für die Politik.
Das heißt: Sie wollen auch andere inspirieren, das "Raumschiff Berlin" zu verlassen?
Der Bundestag ist kein Raumschiff auf einem fernen Planeten. In aller Regel wohnen die Abgeordneten in ihren Wahlkreisen, verteilt über die ganze Republik. Aber auch die haben fast zwei Jahre lang kaum Veranstaltungen machen können, es gab wesentlich weniger Raum für Begegnungen. Ich jedenfalls möchte meinen Beitrag dazu leisten, indem ich in meiner zweiten Amtszeit noch mehr rausgehe und auch meinen Amtssitz für ein paar Tage an ganz unterschiedliche Orte des Landes verlege. Andere werden vielleicht andere Ideen haben.
Sind Politiker denn im Moment zu abgehoben?
Die Politik ist in der Pflicht, sich immer wieder selbst zu erklären und die Menschen für die politischen Prozesse zu interessieren.
Demokratie lebt von Vertrauen. Vertrauen braucht Nähe. Und Nähe braucht Begegnung. Ich möchte mit meiner "Ortszeit" dazu anregen, dass wir die Nähe zu denjenigen suchen, die Politik in den vergangenen zwei Jahren kaum im direkten Kontakt mit Repräsentanten der Politik wahrnehmen konnten.
Sie sind zuversichtlich, so die von vielen wahrgenommene Kluft zwischen der politischen Elite und den Bürgern zu reduzieren?
Ich versuche, Menschen ihre Vorbehalte zu nehmen, wo sie bestehen. Und ich stelle immer wieder fest, dass viele Menschen zwar in den sozialen Medien über Politik schimpfen. Wenn man ihnen dann aber persönlich begegnet, sind sie in der Regel anders: viel weniger schroff und deutlich offener für das Gespräch.
Ihr Format "Ortszeit Deutschland" startet heute in Altenburg in Thüringen …
… einer schönen, alten, stolzen Residenzstadt. Ich werde mich bis Sonntag der Stadt in ihrer ganzen Vielfalt widmen, mit Stadtverordneten sprechen, kontroverse Debattenrunden anbieten, in denen Menschen mit unterschiedlicher Meinung zusammenkommen, Kulturstätten besuchen – und auch mal in eine Kneipe gehen.
Wie müssen wir uns das vorstellen: Wir sitzen in einer Kneipe in Altenburg, trinken unser Bier und dann kommt der Bundespräsident herein und fragt: "Wie geht's?" Oder ist das Publikum vorausgewählt?
Ist es nicht. Das ist ja das Interessante. Natürlich gibt es Veranstaltungen mit ausgewählten Gästen, aber auch viele spontane Termine.
Aber Sie kommen doch mit der Aura des hohen Amtes vorbei – im Dienstwagen und mit Personenschutz. Wie kann dabei so etwas wie echte Nähe entstehen?
Das wird sich zeigen. Ich habe in meinem Amt nie auf größtmögliche Distanz Wert gelegt, hatte auch bisher immer mal wieder Zufallsbegegnungen. Aber wir haben uns noch nie so viel Raum für spontane Begegnungen freigehalten. Ich hoffe, dass an einem ganzen Wochenende in einer kleineren Stadt eine Atmosphäre des Vertrauens entstehen kann – ob beim Gang durch die Innenstadt, bei einer Kulturveranstaltung oder bei dem, was sich sonst noch hoffentlich alles aus der Situation ergibt.
Zum Auftakt treffen Sie Bürgermeister. Warum diese Gruppe zuerst?
Ja, noch in Bellevue – bevor das neue Format "Ortszeit Deutschland" auf Tour geht. Denn Stadtverordnete, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sind von der wachsenden Aggressivität in der politischen Auseinandersetzung besonders betroffen. Vor zwei Jahren habe ich mehrere Bürgermeister und Bürgermeisterinnen getroffen.
Drei der Bürgermeisterinnen haben ihre Ämter angesichts der vielen Anfeindungen inzwischen aufgegeben. Das muss uns besorgen. Zumal es Hinweise gibt, dass Frauen in politischen Ämtern noch größerer Wut und stärkerem Hass ausgesetzt sind als Männer.
Wenn wir vor Ort keine Menschen mehr finden, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, dann stirbt unsere Demokratie. Mit meinen Reisen "Ortszeit" will ich auch all jene, die sich politisch engagieren, ermutigen und stärken.
Sprechen Sie auch mit sogenannten Querdenkern?
Bei den zufälligen Begegnungen weiß ich ja vorher nie, wer was denkt. Mein Ziel bei den Gesprächen ist, dass sie uns weiterführen. Ob das funktioniert, sieht man erst im Verlauf der Gespräche. Es wird nicht mit jedem oder jeder gelingen.
Bekommt ein Bundespräsident überhaupt ehrliche Antworten?
Ja. Die Menschen sind doch nicht feige.
Ein Problem von Politik ist aber auch, dass sie manchmal Erwartungen weckt, die dann nicht erfüllt werden können.
Wenn ich als Bundespräsident Altenburg und dann demnächst andere Regionen besuche, schaffe ich keine Erwartung, dass fortan nur noch die Sonne scheint. Unterschätzen Sie die Leute nicht.
Keine Sorge: Wir unterschätzen niemanden, wir fragen nur.
Die Menschen haben keine unrealistischen Vorstellungen. Sie kennen die Rolle des Bundespräsidenten und verwechseln ihn nicht mit der Bundesregierung oder ihrer Landesregierung. Ich hoffe, dass es viele Leute überraschen wird, dass da jemand aus der vermeintlich "hohen" Berliner Politik sich wirklich Zeit nimmt und bereit ist zuzuhören. Und dann werde ich das, was ich höre, natürlich auch einfließen lassen in mein Bild über Deutschland, über das ich dann an anderer Stelle wieder spreche.
Viele Ostdeutsche fühlen sich in der öffentlichen Diskussion und Berichterstattung falsch repräsentiert. Sie würden vor allem klischeehaft dargestellt und mit negativ besetzten Themen wie Rechtsextremismus assoziiert, so die häufige Kritik. Finden Sie die Klage berechtigt?
Eins ist mir wirklich sehr wichtig: "Ortszeit Deutschland" ist kein gönnerhaftes Angebot für die neuen Bundesländer. Ich werde zwar in Ostdeutschland noch genauer hinhören, wo sich Menschen in ihren Erwartungen enttäuscht sehen und in ihrer Lebensleistung nicht genügend wertgeschätzt fühlen. Aber es geht mir darum, das ganze Land neu kennenzulernen – und es neu zu vermessen.
In welcher Maßeinheit wollen Sie Deutschland denn neu vermessen?
Die Vermessung findet nicht in Metern oder Kilometern statt. Ich möchte mir einen Eindruck verschaffen vom Zustand unserer Gesellschaft. Natürlich gibt es zu jeder Frage Umfragen. Aber ich möchte mir einen eigenen, einen tieferen Eindruck verschaffen:
Wo steht unser Land nach zwei Jahren Pandemie und mitten im Krieg in der Ukraine? Wie groß ist die Erschöpfung? Wie viel Angst ist da? Was erwarten die Menschen von der Politik? Wie fühlen sie sich verstanden? Wo gleichen sich die Antworten im Osten und im Westen, im Süden und im Norden unseres Landes? Wo fallen sie unterschiedlich aus? Und diese Fragen werde ich nicht vom Schreibtisch in Berlin aus stellen, sondern vor Ort.
Sie treffen auf Ihrer Deutschlandreise bestimmt auch auf Flüchtlinge aus der Ukraine. Was sagen Sie ihnen?
Ja, gestern noch war ich am Hauptbahnhof in Berlin und habe mit Menschen aus der Ukraine gesprochen. Ähnlich wie die rund 100 Kinder und Jugendliche aus einem Waisenhaus in Odessa, die ich letzte Woche getroffen habe, waren sie zutiefst erschöpft nach einer tagelangen Reise. Sie waren schlicht und einfach froh, hier untergekommen zu sein. Und sie hatten die Erwartung, dass Deutschland sich mit aller Kraft für Frieden einsetzt.
Im Moment ist die Hilfsbereitschaft groß. Haben Sie nicht die Sorge, dass sie wie bei der letzten Flüchtlingskrise rasch nachlässt?
Nein, ich denke nicht. Das Mitgefühl mit den Menschen und die Empörung darüber, dass Russland so viele von ihnen bedroht und in die Flucht treibt, ist bei uns sehr groß. Aber auch das Bewusstsein, dass die Solidarität, die wir jetzt zeigen, keine Frage von zwei oder drei Wochen ist, sondern einen langen Atem braucht. Meine Wahrnehmung ist, dass wir auch hier aus unseren Erfahrungen von 2015/2016 gelernt haben.
Herr Bundespräsident, wir danken Ihnen für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Berliner Schloss Bellevue.