Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wende in der Agrarpolitik Der heimliche Coup des Cem Özdemir
Die Grünen galten bei der Verteilung der Kabinettsposten nicht gerade als Gewinner. Doch sie sicherten sich zwei Ressorts, die bislang gegeneinander arbeiteten – und wollen nun eine Revolution in der Landwirtschaft lostreten.
Kaum eine Personalie im Kabinett hat für so viel Aufregung gesorgt wie die Berufung von Cem Özdemir zum neuen Landwirtschaftsminister. Viele Bauern waren geradezu entsetzt, schließlich ist der Grünen-Politiker bekennender Vegetarier. Und echten Sachverstand, so die Kritik, bringe der "anatolische Schwabe", wie sich Özdemir gern selbst augenzwinkernd bezeichnet, ja auch nicht eben mit.
Embed
Auch bei vielen Grünen war die Freude über die Berufung Özdemirs geringer als der Schock darüber, dass sich die FDP das Verkehrsministerium sicherte. Was allerdings weitgehend unterging: Die Partei sicherte sich nicht nur das Landwirtschafts-, sondern auch das Umweltministerium. In der Vergangenheit beharkten sich die von CDU und SPD geführten Ressorts eher, als dass sie gemeinsam etwas bewegten. Die Folge war weitgehender Stillstand an allen Fronten.
Dass sich die Bündelung beider Ministerien unter grüner Obhut noch als echter Coup erweisen könnte, zeigte sich jedoch am Dienstag beim Agrarkongress. Zum ersten Mal fand die Veranstaltung, die bislang verwirrenderweise vom Umweltministerium veranstaltet wurde, als gemeinsames Event beider Ressorts statt. Das zeigte sich natürlich auch bei der Wahl des Mottos: "Umwelt und Landwirtschaft im Aufbruch".
Özdemir war also im Gegensatz zu seinen Amtsvorgängern nicht bloß unliebsamer Pflichtgast, sondern Parteikollege und Mitorganisator. Und er nutzte diese Rolle, um gleich die große Linie für die Zukunft zu zeichnen und eine strategische Partnerschaft zwischen den beiden Häusern anzukündigen – oder um es mit Özdemirs Worten zu sagen: "Eine Hausfreundschaft".
Genug Arbeit für zwei Ministerien
Dieser Dienstag markierte einen längst überfälligen Schritt. Denn die Missstände in den Bereichen Landwirtschaft und Viehzucht sind so groß, dass ihre Beseitigung genug Arbeit für gleich zwei Ministerien bietet. Das fängt schon mit der Art und Weise an, wie wir Lebensmittel anbauen. Sie gefährdet den Lebensraum vieler wildlebenden Tiere und Pflanzenarten, und das schon seit Jahrzehnten.
Statt auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz wird in der Viehzucht und in der Produktion von Lebensmitteln noch immer auf Masse und eine möglichst günstige Produktion gesetzt. Kein Wunder: Gesunde Ernährung ist noch immer eine Frage des Geldbeutels. Noch immer müssen zu viele Verbraucher mehr auf den Preis gucken als auf ihre Gesundheit und Nachhaltigkeit.
Und was vielleicht das Schlimmste an den schlechten Zuständen ist: Am Ende kommt das Geld für die viel zu billig produzierte Ware nicht einmal bei den Erzeugern an. Wenn ein Stück Schweinefleisch einen Euro kostet, rechnete Özdemir vor, landen davon gerade mal 22 Cent beim Bauern. Das ist nur einer von vielen eklatanten Missständen.
Tierwohlsiegel-Vorstoß ist nicht neu
Nun soll sich das ändern: Umweltministerin Steffi Lemke und Özdemir kündigten an, dass sich Umweltschutz, Nachhaltigkeit und eine Tierwohl-gerechtere Haltung für die Landwirte künftig finanziell lohnen sollen.
Auch soll ein staatliches Tierwohlsiegel eingeführt werden. Neu ist dieser Vorstoß zwar nicht: Bereits 2018 fing der Discounter Lidl an, das Frischfleisch in den Selbstbedienungstheken mit sogenannten Haltungsstufen auszuzeichnen, die anderen Ketten mussten nachziehen. Doch wie es den Tieren tatsächlich erging, ließ sich bei der privaten Initiative nicht wirklich überprüfen.
Das soll sich jetzt ändern. So wie viele andere Bereiche – von der Verteilung der EU-Fördergelder bis zur Honorierung von Maßnahmen zur Bindung von CO2.
Steiniger Weg zu verbindlichen Regelungen
Versucht man ein Gesamtfazit aus all den Einzelmaßnahmen zu ziehen, lautet es am ehesten: Die Grünen wollen nicht weniger, als die Art und Weise, wie wir uns ernähren und wie wir unsere Lebensmittel produzieren, grundlegend zu verändern.
Noch sind es allerdings nur Ankündigungen. Und der Weg zu verbindlichen Regelungen ist immer steinig. Aber noch etwas fiel an diesem Dienstag auf: Der geplante Umbau ist riskant – und das gleich aus mehreren Gründen. Denn der Agrarwende droht das gleiche Schicksal wie der Energiewende.
Am Ende könnte eine Situation entstehen, in der die Fleisch- und Lebensmittelproduktion in Deutschland so teuer ist, dass wir am Ende billig produzierte Alternativen aus dem Ausland importieren. Die Landwirtschaft bei uns wäre dann vorbildlich, es gäbe nur fast keine mehr.
Bewusstseinswandel bei vielen Bürgern
Für die Grünen ist die von ihnen geplante Revolution nicht unbedingt deshalb gefährlich, weil die politischen Gegner jede Möglichkeit nutzen werden, sie erneut als "Verbotspartei" zu stilisieren. Dafür hat sich das Bewusstsein vieler Bürger für die Ernährung zu sehr geändert.
Aber viele Menschen wollen zwar, dass es den Tieren besser geht und Lebensmittel eine höhere Qualität bekommen. Nur können sie für die besseren Produkte nicht zahlen – oder wollen es zumindest nicht.
- Eigene Recherchen