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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Das ist ein Witz" Spahns große Pflegelüge
Gesundheitsminister Jens Spahn wollte die Bedingungen in der Pflege verbessern. Er stellt sich selbst ein gutes Zeugnis aus. Doch Fachleute aus der Branche widersprechen.
Die Pflege sollte das zentrale Thema seiner Legislatur werden: Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wollte die Arbeitsbedingungen verbessern und den Personalmangel bekämpfen, um so Deutschland mit seiner alternden Gesellschaft fit zu machen für die Zukunft. Er versprach den Pflegekräften, "schnell und spürbar zu handeln": So steht es auf der Seite des Gesundheitsministeriums – "um die Pflege endlich wieder attraktiv zu machen".
Spahn selbst hat nun eine positive Bilanz seiner Amtszeit gezogen. "Wir haben ziemlich viel angepackt", sagte er auf dem Deutschen Pflegetag Mitte Oktober, der großen Fachtagung der Branche. Es war wohl einer seiner letzten Auftritte als Gesundheitsminister und wahrscheinlich der letzte, bei dem er explizit über die Situation in der Pflege sprach. Dabei zählte er auf, welche Verbesserungen er in den vergangenen Jahren durchgesetzt habe.
Das Problem: Die Pflegebranche sieht das ganz und gar nicht so. t-online hat mit Wissenschaftlerinnen, dem wichtigsten Verband der Pflegekräfte in Deutschland sowie der Gewerkschaft Verdi, die Pflegepersonal vertritt, gesprochen. An vielen Stellen widersprechen sie ihm explizit: Vieles aus seiner Rede stimme so nicht.
"Die Abwärtsspirale ist gestoppt"
"Die Abwärtsspirale ist gestoppt", erklärte Spahn etwa. Das wäre wichtig angesichts des Personalmangels: Bereits jetzt fehlen in Deutschland 200.000 Pflegekräfte, bis 2030 sollen es sogar 500.000 sein – so eine Berechnung der Bertelsmann-Stiftung.
"Ich bin ganz gegenteiliger Meinung: Die Abwärtsspirale wurde nicht gestoppt", sagt die Pflegewissenschaftlerin Martina Hasseler von der Ostfalia Hochschule. "Die Maßnahmen, die Herr Spahn angestoßen hat, haben nicht einmal das Potenzial, die Abwärtsspirale zu stoppen", fügt sie hinzu.
Sylvia Bühler, Pflegeexpertin der Gewerkschaft Verdi, findet, dass Spahn schon viel getan habe. "Es kommt aber darauf an, das Richtige zu tun. Das ist nicht der Fall."
"Manches wurde angepackt, ja", sagt auch die Pflegewissenschaftlerin Inge Eberl von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. "Aber wir haben keine Verbesserung der Situation."
Und die Präsidentin des Deutschen Pflegerats, Christine Vogler, ist der Meinung, es habe gute Ideen gegeben in der vergangenen Legislatur, die in der Umsetzung dann aber wieder nicht zum Ziel führten.
"Das ist ein Witz"
Welche konkreten Ergebnisse konnte Spahn also erzielen?
"Mehr Kompetenzen" hätten die Pflegekräfte bekommen, sagte Spahn in seiner Rede. Mehr Aufgaben selbstständig übernehmen zu können – das fordern Vertreter der Pflege schon seit Langem. Expertinnen und Experten zufolge könnte so der Beruf langfristig attraktiver und der Fachkräftemangel bekämpft werden. Stimmt Spahns Aussage also?
"Das ist ein Witz", sagt die Pflegewissenschaftlerin Hasseler. "Pflegekräfte haben in Deutschland nicht mehr Kompetenzen bekommen." Darunter verstehe sie beispielsweise, dass diese – und nicht nur der Arzt – selbstständig Rezepte ausstellen oder Hausbesuche bei Patienten absolvieren könnten, so wie das in anderen Ländern auch der Fall sei. Doch davon sei Deutschland weit entfernt.
Auch bei einem anderen Punkt widerspricht die Wissenschaftlerin dem Gesundheitsminister: Dieser erklärte, er habe Projekte zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf gefördert. Mehr Familienfreundlichkeit wäre wichtig in einem Beruf, der von Wochenend- und Nachtschichten geprägt ist. Durch Engpässe müssen Pflegekräfte häufig einspringen. Für Hasseler steht fest: "Es gibt keine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf in diesem Feld, und es gab unter Spahn auch keine Maßnahmen dazu, die das hätten erreichen können."
Eine "enorme Erhöhung" der Löhne
Nun dann – ein weiterer Versuch: Bei den Löhnen habe es eine "enorme Erhöhung" gegeben, so Spahn. Das habe für "zigtausende" Pflegekräfte einen "echten Unterschied" gemacht. Tatsächlich wurde in seiner Legislatur der Mindestlohn in der Altenpflege angehoben, auf 2.700 Euro für Fachkräfte.
"Einen Mindestlohn von 2.700 Euro abzufeiern, da hat man wirklich den Pflegenotstand nicht verstanden", sagt Pflegewissenschaftlerin Hasseler. "Das ist kein Erfolg und reicht nicht, um Qualifizierte in dem Beruf zu halten."
"Das ist grundsätzlich schön"
In Bezug auf die Löhne überraschte Spahn viele aus der Branche mit der Aussage in seiner Rede, er könne mit einem Mindestlohn von 4.000 Euro "mitgehen". Diese Forderung hatte die Präsidentin des Deutschen Pflegerats, Christine Vogler, vorgebracht.
Auch sie wundert sich: "Dass Herr Spahn sich da jetzt dranhängt, ist grundsätzlich schön. Das sagt er aber nun am Ende seiner Legislatur. Warum hat er das nicht schon vorher getan? Für diese begründete Zahl von 4.000 Euro sprechen wir uns schon seit zwei Jahren aus", sagt Vogler t-online.
"So viele Auszubildende wie nie zuvor"
Weiter in Spahns Text: Eines der großen Probleme in der Pflege ist der Mangel an Fachkräften. Hier habe es deutliche Verbesserungen gegeben, so der Minister. "So viele Auszubildende wie nie zuvor, der Weg ist jedenfalls begonnen."
Doch was er in seiner Rede verschweigt: die hohe Abbruchquote bei den Auszubildenden in der Pflege. "Ich teile den Optimismus nicht", sagt die Pflegewissenschaftlerin Inge Eberl. "Viele brechen die angefangene Ausbildung ab. Denn Zeit und Raum fehlen für angemessene Praxisanleitung. Die Bedingungen in der Ausbildung sind oft unzumutbar."
Ihre Kollegin Hasseler von der Ostfalia Hochschule teilt diese Ansicht: "In allen Bundesländern sehen wir sehr hohe Abbruchquoten von etwa 30 Prozent bei den Auszubildenden. Und es kommt auch auf die Bedingungen in den Betrieben an: Viele verlassen den Job kurz nach dem Berufseinstieg schon wieder – wenn man sie nicht im Beruf halten kann, bringt das also alles nichts." Auch deshalb können zahlreiche Stellen nicht besetzt werden.
"Doch das stimmt nicht"
Spahn hat in seiner Amtszeit 13.000 Stellen für Fachkräfte in der Altenpflege per Gesetz geschaffen, vollständig finanziert. Ein deutlicher Fortschritt im Vergleich zum Beginn seiner Legislatur, betonte Spahn in seiner Rede. "Mittlerweile gibt es die Stellen, und das Geld zu diesen Stellen mit dazu."
Aus Sicht des Pflegerates habe das aber nichts gebracht, sagt dessen Präsidentin Vogler. Das sei ein "Tropfen auf dem heißen Stein". Die Pflegewissenschaftlerin Eberl stimmt mit ein: "Die Politik denkt: Wir finanzieren 13.000 Stellen, dann werden wir einiges lösen. Doch das stimmt nicht." Denn diese könnten durch die geringen Bewerberzahlen ohnehin nicht besetzt werden. Das räumt Spahn am Ende seiner Rede auch ein: Wie die Stellen besetzt werden könnten, sei nun die "große Aufgabe für die 20er-Jahre" und auch nicht "per Gesetz alleine aufzulösen". Die Pflegewissenschaftlerin Hasseler erwidert: "Die entsprechenden Bewerber zu den Stellen gibt es nur durch attraktive Bedingungen. Das ist Aufgabe der Politik."
Am Ende seiner Rede kommt Spahn zu dem Fazit, dass es nun an den Pflegekräften liege, "sich selbst zusammenzutun, um ihre Interessen durchzusetzen". Die Pflege sitze mittlerweile am "längeren Hebel", da alle Einrichtungen dringend Personal benötigten. Diesen müsse sie nutzen.
"Die Politik darf sich nicht rausziehen"
Dabei sprach er auch die Idee der Pflegekammern an – damit ist gemeint, dass sich Pflegekräfte in entsprechenden Berufskammern zusammenschließen, ähnlich wie Ärzte es tun. Das wäre ein Weg, um bei den wichtigen Entscheidungen im Gesundheitswesen mitbestimmen zu können. "Das klappt nur, wenn es Akzeptanz hat bei den Pflegekräften selbst", so Spahn.
Doch auch hier widersprechen die beiden Wissenschaftlerinnen: "Diese Aufgabe kann nicht einfach auf die Pflegekräfte abgewälzt werden", sagt Hasseler. Ihre Kollegin Eberl pflichtet ihr bei: "Die Politik darf sich nicht rausziehen, natürlich könnte sie etwas tun."
Entsprechende Kammergesetze könnten auf Landesebene umgesetzt werden. "Die Politik könnte und müsste die Verkammerung der Pflege selbst veranlassen, so war das bei den Ärztekammern auch", fordert Hasseler.
Ihr Resümee: "Es fehlt der politische Wille."
- Eigene Recherchen
- Gespräch mit der Pflegewissenschaftlerin Martina Hasseler am 28.10.2021
- Gespräch mit der Pflegewissenschaftlerin Inge Eberl am 28.10.2021
- Gespräch mit der Präsidentin des Deutschen Pflegerates Christine Vogler am 28.10.2021
- Gespräch mit Sylvia Bühler, Mitglied im Verdi-Bundesvorstand, am 28.10.2021
- Bertelsmann-Stiftung: "Pflegereport 2030"
- Bundesgesundheitsministerium: "Pflege besser konkret"
- Rede des Gesundheitsministers Jens Spahn auf dem Deutschen Pflegetag