Kassierer erschossen Innenministerium: Tat von Idar-Oberstein war Einzelfall
Gegen den Todesschützen von einer Tankstelle in Rheinland-Pfalz wird weiter ermittelt. Offenbar hat der 49-Jährige allein gehandelt. Er war auch nicht dem Verfassungsschutz bekannt.
Das Bundesinnenministerium schätzt die Tötung eines Tankstellenmitarbeiters in Idar-Oberstein als einen Einzelfall ein. Die Tat zeige "ein dramatisches Ausmaß an Verrohung in der Gesellschaft", sagte ein Sprecher. "Nach allen Erkenntnissen, die wir bisher haben, handelt es sich um einen Einzelfall" – wenngleich es ein extremer Einzelfall gewesen sei. Das sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. Daraus ließen sich aber keine "generalisierenden Rückschlüsse" ziehen. Es gebe derzeit keine Erkenntnisse über weitere Beteiligte "im strafrechtlichen Sinne".
Einem 49-Jährigen wird vorgeworfen, einen 20 Jahre alten Tankstellen-Mitarbeiter am Samstagabend im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein in den Kopf geschossen zu haben. Zuvor hatte dieser ihn gebeten, eine Maske zu tragen. Nach seiner Festnahme sagte der Täter den Ermittlern zufolge, dass er die Corona-Maßnahmen ablehne. Die Situation der Pandemie habe ihn stark belastet, er habe ein Zeichen setzen wollen. Dem Verfassungsschutz war der Mann nach eigenen Angaben nicht bekannt.
Warnung vor einer "Welle an Desinformation"
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) rief zu gesellschaftlichem Zusammenhalt auf. Es bleibe wichtig, "dass sich die Gesellschaft insgesamt gegen Hass und Hetze stellt und das auch deutlich zeigt", sagte sie. "Wir sehen bereits jetzt, dass dieser schreckliche Mord instrumentalisiert wird", sagte Dreyer mit Blick auf Äußerungen von Corona-Leugnern und Querdenkern. Die Gewalttat werde dort gerechtfertigt und sogar begrüßt. "Wir sehen, dass sich Angehörige dieser Szene zunehmend radikalisieren und auch vor Gewalttaten nicht zurückschrecken."
Dreyer betonte: "Wer einen Mord rechtfertigt oder sogar begrüßt, bereitet den Boden für neue Gewalt." Das Internet sei kein rechtsfreier Raum. "Hass tötet." Nach den Erkenntnissen des Bundesinnenministeriums und der Sicherheitsbehörden verkleinert sich die "Querdenker"-Szene. "Gleichzeitig gibt es aber einen radikalen Kern, der sich auch weiterhin radikalisiert", sagte der Ministeriumssprecher.
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Der zuvor nicht polizeibekannte Deutsche sitzt wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft. Die Tat löste bundesweit großes Entsetzen und Anteilnahme aus. Die Staatsanwaltschaft Bad Kreuznach geht von langwierigen Ermittlungen zu den Hintergründen aus. Unter anderem ist unklar, woher der Mann die Tatwaffe hatte.
Herkunft der Waffe weiter ungeklärt
Dabei handele es sich um einen großkalibrigen Revolver der Marke Smith & Wesson, sagte ein Sprecher der Anklagebehörde am Mittwoch. "Die Herkunft ist weiter ungeklärt. Wir müssen da tiefer forschen." In der Wohnung des Verdächtigen seien "weitere Gegenstände, die als Waffen bezeichnet werden können", sowie eine weitere Schusswaffe gefunden worden. Dabei handele es sich um eine kleinkalibrige Pistole. Für die Waffen besitze der Mann keine Erlaubnis. Auch Munition für die Schusswaffen sei gefunden worden.
Dem Sprecher zufolge wurden zudem elektronische Medien sichergestellt und würden nun ausgewertet. "Die Internetaktivitäten sind für uns von Interesse und werden überprüft."
Am Dienstagabend hatte die Polizei in Trier getwittert: "Es gibt Hinweise auf das Twitterprofil des Tatverdächtigen. Wir gehen diesen Hinweisen nach." Die Ermittler seien von sehr vielen Nutzern auf das Twitter-Profil des mutmaßlichen Täters hingewiesen worden, sagte der Sprecher der Polizei in Trier. Mit dem Tweet habe man den Bürgern signalisieren wollen: "Wir sind da dran, wir haben das im Blick."
Klöckner: "Schier unglaublich"
Nach gemeinsamen Recherchen des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" und des auf Verschwörungsideologien spezialisierten Thinktanks CeMAS fiel der mutmaßliche Schütze bereits vor zwei Jahren auf einem Twitter-Profil mit nebulösen Gewaltfantasien auf.
Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) zeigte sich betroffen von der Tat in Idar-Oberstein, das in ihrem Wahlkreis liegt. Sie kenne auch die Tankstelle, an der der junge Mann von einem Kunden erschossen wurde. "Warum? Weil es unterschiedliche Sichtweisen zu den Corona-Regeln gab", sagte Klöckner, die auch die rheinland-pfälzische Landesvorsitzende der CDU ist, in einem am Mittwoch veröffentlichten Video auf Twitter.
Der junge Mitarbeiter der Tankstelle habe nichts anderes verlangt, als das, was selbstverständlich sei, dass jeder, der die Tankstelle betrete, Mund-und-Nasen-Schutz trage, um sich und andere zu schützen. Als Folge dessen sei er erschossen worden – "eigentlich schier unglaublich", sagte Klöckner in dem Video weiter. "Mich treibt auch um, wie radikalisiert extreme Sichtweisen sein können und wozu sie führen können."
Spahn: "Nein" zu Pandemie-Extremismus
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bezeichnete die Tat als "kaltblütigen Mord", der nicht im Affekt geschehen sei. Das Umfeld und die Umstände hätten viel mit Hass und Hetze zu tun, die in sozialen Medien verbreitet würden. Auch auf Demonstrationen würden Begriffe wie "Volksverräter" gerufen. "Aus Worten werden irgendwann auch Taten", warnte Spahn. Ausdruck von Protest müsse es in einer Demokratie geben. Er könne aber nur sehr dafür werben, dass alle ihre Worte wägten und bei Hass und Verschwörungsmythen früh jemand aufstehe und sage: "Nein, bis hierhin und nicht weiter."
Nach 18 harten Monaten für die Gesellschaft dürften aus Spannungen nicht Spaltungen werden, sagte der CDU-Politiker am Mittwoch in Berlin. "Deswegen sollten wir klar und entschieden zu jeder Form von Pandemie-Extremismus Nein sagen." Die Hintergründe der Tat in Idar-Oberstein machten "nicht nur traurig, sondern auch wütend".
Auch SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat die sogenannte Querdenker-Bewegung für die Tat in Idar-Oberstein mitverantwortlich gemacht. "Denn es sind ja diejenigen, die hetzerische, spalterische Reden halten, die letztendlich mit ein Klima geschürt haben, in dem im Kopf dieses Mannes diese Tat möglich geworden ist", sagte Scholz am Mittwoch in Köln. "Und deshalb haben sie auch eine Mitverantwortung dafür, dass das passiert ist. Die ganzen Querdenker-Szenen, die solche Reden halten, und diejenigen, die von rechtsextremer Seite hetzen in dieser Frage, spalten nicht nur unser Land, sondern sie schaffen solchen Unfrieden, dass solche Taten passieren."
Seehofer: "Ich bin enttäuscht"
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) nahm die "tief erschütternde" Tat zum Anlass, das Scheitern mehrerer Initiativen im Bundestag zu kritisieren. "Ich bin enttäuscht, dass drei ganz wichtige Gesetze vom Bundestag gestoppt worden sind", sagte Seehofer der Süddeutschen Zeitung. Wichtige Vorschläge der Bundesregierung seien nicht aufgegriffen worden.
Konkret bezog er sich dabei auf das Wehrhafte-Demokratie-Gesetz, auf das er sich mit Bundesfamilienministerin Franziska Giffey verständigt habe. Es sollte Initiativen und Organisationen, die sich für demokratische Werte und gegen extremistische Tendenzen einsetzen, mehr Geld sichern. Leider sei der Vorstoß an "Nickeligkeiten" gescheitert. Seehofers eigene Fraktion (CSU/CDU) blockierte den Vorschlag.
Auch die Streichung des Begriffs "Rasse" aus dem Grundgesetz kam in der laufenden Legislatur nicht zustande, zum Bedauern des Ministers. "Wir müssen den Begriff Rasse aus dem Grundgesetz streichen", sagte er der Zeitung. "Das ist kein Sprachgebrauch von aufgeklärten Demokraten." Auch eine im Frühjahr von der Bundesregierung vorgeschlagene weitere Verschärfung des Waffenrechts habe den Bundestag nicht passiert.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hieß es mit Bezug auf das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer habe gesagt, dass der Täter aus Idar-Oberstein dem Verfassungsschutz bekannt gewesen sei. Inzwischen korrigierte der RND die Darstellung: Dreyer hatte das verneint. Der Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz teilte zudem t-online mit, dass der Tatverdächtigen nicht bekannt gewesen sei.
- Anfrage beim Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz
- Nachrichtenagenturen dpa und AFP