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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Priorisierung wird aufgehoben Impfung für alle? So einfach geht es nicht
Ab Montag kann jeder, der möchte, einen Impftermin vereinbaren. Klingt einfach, klappt so aber nicht. Die Aufhebung der Impfreihenfolge erfordert Geduld – von Patienten und Ärzten.
Deutschland hat in der Impfkampagne einen weiteren Meilenstein erreicht: Inzwischen ist jeder Fünfte vollständig geimpft, die Hälfte der Bevölkerung hat bald zumindest eine Spritze zum Schutz gegen das Coronavirus erhalten. Ein Grund zur Zuversicht? Auf jeden Fall. Doch in den kommenden Tagen dürfte es noch einmal kompliziert werden.
Denn am Montag startet eine entscheidende Etappe: Die Impfpriorisierung wird bundesweit aufgehoben. Eine feste Reihenfolge nach "höchster", "hoher" und "erhöhter" Priorität gibt es dann nicht mehr. Die Länder können die Priorisierung für ihre Impfzentren zwar noch beibehalten. In den Praxen ist sie aber passé.
Das weckt hohe Erwartungen bei allen, die noch auf eine Impfung warten. Doch eine Einschränkung gilt weiterhin: Der Anspruch für alle besteht "im Rahmen der Verfügbarkeit der vorhandenen Impfstoffe". Und an dieser Stelle kommen wir zum Problem.
Für den Monat Juni hat das Bundesgesundheitsministerium insgesamt rund 31,8 Millionen Dosen angekündigt. Mehr als 25,6 Millionen sollen von Biontech/Pfizer kommen, rund 2,9 Millionen von Moderna, mehr als 2,4 Millionen von Astrazeneca und fast 754.000 von Johnson & Johnson.
Nicht nur die Suche nach dem Termin wird knifflig
Das klingt zunächst viel. Doch für die allermeisten, die auf ihren Termin hinfiebern, dürfte es trotz der Aufhebung noch Wochen bis zur ersten Impfung dauern. Obwohl immer mehr geliefert wird, werden nun die Zweitimpfungen zum Hindernis für die Erstimpfungen. Die Patientinnen und Patienten, die bereits eine erste Dosis erhalten haben, sollten innerhalb eines bestimmten Zeitraums, je nach Vakzin, die zweite Spritze erhalten. Aus diesem Grund wird nun Impfstoff vom Bund zurückgehalten und die Erstimpfungen verzögern sich, wie der "Spiegel" nun offenlegte.
Konkret wurden in dieser Woche rund 1,2 Millionen Impfdosen weniger als geplant verspritzt, weil Dosen für die Zweitimpfungen gebraucht werden, die in den kommenden drei Wochen überproportional viel stattfinden werden, heißt es aus dem Bundesgesundheitsministerium.
Gleichzeitig wächst der Kreis der Impfkandidaten um die Jugendlichen im Alter von 12 bis 16 Jahren. Auch diese Altersgruppe kann ab kommender Woche geimpft werden. Die Europäische Arzneimittelagentur (Ema) hat das Vakzin von Biontech/Pfizer für diese Altersklasse längst zugelassen, nun wird es auch politisch freigegeben. Die Ständige Impfkommission (Stiko) hat allerdings noch keine Empfehlung für die Kinderimpfungen ausgesprochen.
Knifflig wird aber voraussichtlich nicht nur die Suche nach einem Termin – sondern auch die Situation in den Arztpraxen.
"Frust und Enttäuschung begleiten diese Impfkampagne"
"Der Ansturm war schon gewaltig und er bleibt gewaltig", sagt der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, zu t-online. Und er dämpft die Erwartungen: "Es werden nicht alle am Montag geimpft, das muss den Menschen natürlich klar sein." Der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Baden-Württemberg, Kai Sonntag, betont im Gespräch mit t-online: "Frust und Enttäuschung begleiten diese Impfkampagne, seitdem sie gestartet ist und das ändert sich auch nicht." Durch die Aufhebung der Impfpriorisierung würden Erwartungen in der Bevölkerung geweckt, die dann immer noch nicht erfüllt würden.
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Die Zahl der Impfberechtigten sei immer um ein Vielfaches höher als die Termine und die Impfstoffmengen. Dass die Dosen nun vermehrt für Zweit- anstatt für Erstimpfungen eingesetzt werden müssen, nimmt auch Sonntag wahr: "Der gesamte Impfstoff in den Arztpraxen in Baden-Württemberg muss für Zweitimpfungen genutzt werden."
"Tief besorgt über Massenansturm"
"Die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen zeigt sich tief besorgt darüber, dass ab Montag erst recht mit einem Massenansturm auf die Praxen zu rechnen ist", so der Sprecher Detlef Haffke zu t-online. Der Anspruch auf einen Termin sei nicht gleichbedeutend mit einer schnellen Impfung. Bundesärztekammer-Präsident Reinhardt macht allerdings deutlich: "Aufgrund der niedrigeren Inzidenz gibt es zwar noch keine vollkommene Entwarnung, aber als Bürger muss man nun auch nicht panisch reagieren, wenn man kommende Woche nicht sofort geimpft wird."
Dennoch werden kommende Woche wahrscheinlich die Telefonleitungen in vielen Arztpraxen heiß laufen – und die Hausärzte müssen den Frust der Patientinnen und Patienten zumeist ausbaden, wenn sie zunächst keinen Termin anbieten können. "Wenn Sie unbedingt sauer sein wollen, weil es vielleicht nicht gleich beim ersten Anruf klappt, dann seien Sie im Zweifel sauer auf mich", sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) diesbezüglich. Torsten Buchheit, Facharzt für Innere Medizin und Vorstandsmitglied des Hausärzteverbandes Rheinland-Pfalz warnt: "Was keinesfalls passieren darf, ist, dass der Routinebetrieb darunter leidet."
Frust entstehe nicht nur bei den Patienten, sondern auch in den jetzt schon "maximal belasteten Praxisteams": Etwa wenn dann endlich ein Patient zur Impfung einbestellt werden könne und sich herausstelle, dass die Person sich auch bei zehn anderen Arztpraxen angemeldet hatte und inzwischen ganz woanders geimpft wurde, ohne Bescheid zu geben.
Viele Menschen aus Priorisierungsgruppen noch nicht geimpft
Auch ein weiterer Konflikt bahnt sich an. Denn obwohl die Priorisierung entfällt, sind längst nicht alle Personen aus den bisherigen Prioritätengruppen geimpft – auch deshalb verzögern sich viele Impfungen weiterhin.
"Menschen, die gefährdeter sind, werden natürlich immer noch prioritär geimpft", sagt Bundesärztekammer-Präsident Reinhardt. Auch Haffke von der KV Niedersachsen betont: "Die Praxen bemühen sich, diese Gruppe primär zu impfen. Erst dann kommen die anderen dran. Die Priorisierungsgruppen haben Vorrang." Reinhardt meint, die Aufhebung der Reihenfolge könnte auch Vorteile mit sich bringen: "Man muss sich nicht mehr bemühen, alle zu trennen und komplizierte Listen anzulegen. Man kann jeden Tag schauen, wie viel Impfstoff man hat und dann die Leute impfen. Das macht auch vieles einfacher, was vorher viel Zeit in Anspruch genommen hat."
"Es ist völlig unsinnig, gesunde Kinder zu impfen"
Die Impfung für Jugendliche ab 12 Jahren sorgt bei vielen Ärzten für Kritik. Aufgrund des ohnehin schon fehlenden Impfstoffes beklagt die KV Sachsen die Freigabe des Biontech-Vakzins für jüngere Menschen: "Es ist völlig unsinnig – bei dem bekannten Impfstoffmangel – jetzt gesunde Kinder und Jugendliche zu impfen, solange nicht alle Älteren geimpft sind", so der Vorstandsvorsitzende Klaus Heckemann. Chronisch kranke Kinder schließe er dabei aus.
Zugleich gehe er davon aus, dass viele Ärzte ohne die Stiko-Empfehlungen ohnehin keine Jugendlichen impfen werden. Das könne besonders in Impfzentren zum Problem werden, in denen dann auch Kinder geimpft werden: "Die Termine werden online gebucht, ohne Vorgespräch, dann kommen die Jugendlichen zum Impfen und die Ärzte weigern sich womöglich, eine Spritze zu setzen, weil noch nicht genug über die Langzeitwirkung bei Kindern bekannt ist." Deshalb stellt Heckemann eine klare Forderung: "Die Impfungen sollten in den Kinderarztpraxen stattfinden."
Bundesärztekammer-Chef Reinhardt betont: "Wir sollten uns jetzt prioritär auf die Erwachsenen konzentrieren." Bei gesunden Kindern seien so gut wie keine Langzeitbeschwerden dokumentiert worden. "Die Restsymptomatik der Covid-Erkrankung klingt bei den jüngeren Menschen eher ab."
Haffke von der KV Niedersachsen ergänzt: "Die Nachfrage nach Impfungen für Kinder und Jugendliche ist die große Unbekannte. Wir wissen nicht, wie die Eltern reagieren." Nach den bisher vorliegenden Studiendaten hätten gesunde Kinder und Jugendliche ein minimales Risiko für schwere Verläufe durch Erkrankungen mit Sars-CoV-2.
Immunität nach Impfung "muss mit Hochdruck erforscht werden"
Während die Impfkampagne am Montag die nächste Phase erreicht, blicken die Ärzte schon weiter voraus. In den kommenden Wochen müssten auch die Auffrischimpfungen auf die Agenda, meint Bundesärztekammer-Präsident Reinhardt. Man wisse noch nicht, wie lange die Immunität nach einer Impfung anhalte. "Das muss jetzt mit Hochdruck erforscht werden."
Wenn zum Beispiel nur sechs Monate ein voller Impfschutz bestünde, müsse man im Juli schon wieder anfangen, die Älteren erneut zu impfen. "Sonst sind ausgerechnet diese Risikogruppen die ersten, die plötzlich wieder vermehrt erkranken und dann einen schweren Verlauf haben oder sogar sterben können." Es sei wichtig, mit der Planung alsbald zu beginnen. "Das müssen wir jetzt organisieren und nicht erst im September oder Oktober", fordert Reinhardt. Ab dem Herbst müsse man dann eine Art "Dauerumgang" mit der Pandemie pflegen – damit schwerwiegende Maßnahmen wie Lockdowns überflüssig würden.
Zunächst gilt es aber, mit so vielen Impfungen wie möglich durch den Sommer zu kommen. Und dafür brauche es viel Geduld der Bürgerinnen und Bürger, appelliert Daffke von der KV Niedersachsen.
- Gespräch mit Klaus Heckemann, Vorstandsvorsitzender der KV Sachsen
- Gespräch mit Kai Sonntag, Pressesprecher der KV Baden-Württemberg
- Gespräch mit Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer
- Gespräch mit Torsten Buchheit, Vorstandsmitglied des Hausärzteverbandes Rheinland-Pfalz
- Impfdashboard (Stand: 4. Juni 2021)
- Bundesgesundheitsministerium: Lieferprognosen für das 2. Quartal (Stand 2. Juni 2021)
- Nachrichtenagentur dpa