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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Lockerungen für Geimpfte Drohen jetzt Fälschungen und Tricks?
Mehr Freiheiten und Lockerungen für vollständig Geimpfte hat die Bundesregierung beschlossen. Dabei sind viele Fragen offen, die Kritik auch von Polizei und Medizinern ist groß.
Reisen ohne Quarantäne, Shoppen ohne Test, Familientreffen ohne Größenbeschränkung? Die Bundesregierung gibt Geimpften ihre Grundrechte zurück – in Hochgeschwindigkeit. An diesem Dienstag hat sie eine entsprechende Verordnung beschlossen, seit Sonntag gelten die neuen Bestimmungen. Viele Fragen aber sind noch offen. Unternehmen und Behörden, die die neuen Regeln kontrollieren sollen, sind verwirrt bis verärgert. Was steht bereits fest, was ist noch unklar? Ein Überblick.
Was beinhalten die neuen Regeln?
Für vollständig Geimpfte und Genesene entfällt die Test- und Quarantänepflicht. Sie werden in diesem Bereich mit negativ getesteten Personen gleichgestellt. Bedeutet: Sie dürfen ohne vorherigen Test in Geschäfte, den Zoo oder zum Friseur. Auch beim Reisen soll für sie weder Corona-Test noch Quarantäne nötig sein – es sei denn, sie reisen aus einem Virusvariantengebiet ein.
In anderen Punkten sind Geimpfte und Genesene sogar bessergestellt als Negativ-Getestete. So entfallen für sie die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen. Bedeutet: In Gebieten mit Ausgangssperren dürften sie dennoch nach 22 Uhr aus dem Haus – und auch private Feiern und Treffen sind ohne Personenobergrenzen möglich. Weiterhin für Geimpfte gelten soll die Maskenpflicht ebenso wie das Gebot, Abstand zu halten.
Was heißt "vollständig geimpft"?
Als vollständig geimpft gelten Menschen 14 Tage nach ihrer zweiten Impfung.
Wie weisen Geimpfte ihren Impfschutz nach?
Das ist eine der großen Unsicherheiten. Die Bundesregierung arbeitet an einem digitalen Impfnachweis – der ist aber noch nicht fertig. "Spätestens zwischen Mitte Mai und Ende Juni" solle der Digitalimpfpass verfügbar gemacht werden, kündigte Gesundheitsminister Jens Spahn am Montag an. "Bis dahin gilt natürlich der schriftliche Impfnachweis – entweder im Impfpass oder auf einem gesonderten Formular."
Wer soll das kontrollieren – und ab wann?
Neben Polizei und Ordnungsämtern sind an vielen Stellen privatwirtschaftliche Unternehmen als Kontrolleure gefragt: beim Shoppen die Angestellten des Einzelhandels, beim Fliegen die Beschäftigten der Airlines, bei Veranstaltungen die Veranstalter selbst.
Die Lufthansa teilt auf Nachfrage von t-online mit, dass sie nicht beabsichtige, einen verbindlichen Impfnachweis für Fluggäste und Crews einzuführen, wenn dies nicht staatlich vorgeschrieben sei. "Viele Staaten werden vermutlich jedoch in Zukunft bei Einreise einen verbindlichen Impfnachweis verlangen und Fluggesellschaften verpflichten, diesen vor Flugantritt zu kontrollieren."
Jan-Peter Haack, Pressesprecher der Flughafengesellschaft Berlin Brandenburg, sagte t-online: "Stand jetzt wissen wir noch nichts Neues. Aber natürlich freuen wir uns über alles, was das Reisen sicherer macht." Haack betont, dass etwa über Einreisebestimmungen nicht die Flughäfen zu entscheiden haben. "Wir machen die Vorgaben nicht, auch nicht die Kontrollen. Wir nehmen keine hoheitlichen Aufgaben wahr, das ist Sache der Behörden. Gleichwohl sind wir auf alle Eventualitäten eingestellt."
Kann man das überhaupt kontrollieren? Drohen Fälschungen und Tricks?
Kritik kommt vor allem von jenen, die in kürzester Zeit dafür verantwortlich sein werden, die neuen Freiheiten zu kontrollieren.
Die Gewerkschaft der Polizei kritisiert scharf, dass es den digitalen Impfausweis bisher nicht gibt – und damit auch kein fälschungssicheres Dokument für den Impfnachweis. "Die Menschen werden in ihrem Freiheitsdrang versuchen, zu fälschen oder an ge- oder verfälschte Dokumente heranzukommen", sagte Jörg Radek, stellvertretender Bundesvorsitzender der GdP, im Gespräch mit t-online. "Das Impfbuch, wie wir es jetzt haben, ist auf keinen Fall fälschungssicher." Es fehlten Sicherheitsmerkmale wie beispielsweise Wasserzeichen, die nicht am heimischen Küchentisch nachgemacht werden könnten.
Dass die Verordnung vor Inkrafttreten eines digitalen Nachweises verabschiedet ist, bezeichnet er schon im Vorfeld als "Fehler". "Die Leute vertrauen mit ihrem Leben darauf, dass die Dokumente sie korrekt als genesen und geimpft ausweisen. Diesem Vertrauen muss der Gesetzgeber gerecht werden." Das jetzige Vorpreschen von Bund und Ländern führe zu Verunsicherung. "Das trägt nicht zur Akzeptanz bei."
Mit den neuen Freiheiten bei Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen könnte es wieder voll werden auf Deutschlands Straßen – mit großen Gruppen, auch nach 22 Uhr. Wird dann jeder Passant nach seinem Impfpass gefragt? Klar ist laut Radek schon jetzt, dass die Polizei diese neuen Freiheiten nicht in der Breite wird kontrollieren können. "Wir können das nur stichprobenartig, nicht flächendeckend kontrollieren. Das ist sehr personalintensiv."
Was ist mit dem Datenschutz?
Auch der Einzelhandel ist verärgert über das rasche Vorpreschen bei den Impffreiheiten. Die Einträge im Impfpass seien komplex, viele andere sensible Daten zu anderen Impfungen seien darin vermerkt, sagte Nils Busch-Petersen, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg, zu t-online. Mitarbeiter im Einzelhandel dürften nicht zu "Querlesern aller Impfungen" werden.
In Berlin sind Angestellte in Geschäften (ausgenommen Supermärkte) schon jetzt dazu verpflichtet, Geimpfte wie Negativgetestete zu behandeln. "Bisher sind uns keine Klagen zu Ohren gekommen", sagte Busch-Petersen. Nach wie vor aber habe er starke Bedenken. "Ich hoffe, es kommt bald die digitale Lösung."
Was kritisieren Mediziner?
Auch die Amtsärzte äußerten im Vorfeld massive Kritik an den geplanten Ausnahmeregelungen für Geimpfte. Sie kritisieren vor allem, dass Geimpfte nicht mehr getestet werden. "Geimpfte müssen unbedingt weiterhin getestet werden. Es wäre fatal, wenn Geimpfte und Genesene künftig von allen Testpflichten etwa bei der Einreise ausgenommen würden", sagte die Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, Ute Teichert, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Ohne umfassende Tests verlieren wir den Überblick über das Infektionsgeschehen – gerade auch mit Blick auf Virusvarianten."
Auch Teichert kritisierte zuvor, dass die Bundesregierung Geimpften Rechte zurückgeben will, bevor ein einheitlicher Nachweis für den Impfstatus zur Verfügung stehe. "Die Politik darf nicht den zweiten Schritt vor dem ersten gehen: Bevor es bundesweit Erleichterungen für Geimpfte gibt, muss ein einheitliches Zertifikat als Impfnachweis eingeführt werden", sagte sie. Das Zertifikat müsse digital und in Papierform zur Verfügung stehen und unbedingt fälschungssicher sein.
- Gespräch mit Jörg Radek
- Gespräch mit Niels Busch-Petersen
- Gespräch mit Jan-Peter Haack
- Anfragen an das Bundesjustiz-, Bundesgesundheits- und Bundesinnenministerium
- Anfragen an das Sozialministerium Baden-Württemberg und die Senatsgesundheitsverwaltung Berlin
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa