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Türkei: Präsident Erdoğan ist schwach – und so gefährlich wie nie | Kolumne


Meinung
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Erdoğan in der Krise
Schwach und gefährlich wie nie

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 25.03.2021Lesedauer: 7 Min.
Recep Erdoğan: Die Versuche, seine Macht in der Türkei zu erhalten, haben auch eine Auswirkung auf Deutschland.Vergrößern des Bildes
Recep Erdoğan: Die Versuche, seine Macht in der Türkei zu erhalten, haben auch eine Auswirkung auf Deutschland. (Quelle: Xinhua/imago-images-bilder)
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Wer gedacht hatte, um Erdoğan werde es ruhiger, sieht sich getäuscht. Zinspolitik, HDP-Verbot, Ausstieg aus der Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen. Er verhält sich immer autokratischer – das hat Auswirkungen auf Deutschland.

Wenn autokratische Herrscher ihren Einfluss schwinden sehen, machen sie Konflikte auf. Sie präsentieren das Land als gefährdet durch finstere Mächte im In- und Ausland, die nach ihm greifen. So versuchen sie, möglichst viele patriotische und nationalistische Kräfte hinter sich zu vereinen. Das ist das kleine Einmaleins autoritären Machterhalts. Und ein großer Teil der Türkei ist erfüllt von Patriotismus und Nationalismus.

Es gibt, abgesehen von den USA, wenige Länder auf der Erde, in denen das im 18. und 19. Jahrhundert aus Europa importierte Konzept des Nationalismus so gut aufgegangen ist wie in der Türkei – übertroffen einst nur vom deutschen Nationalismus, dessen Weg mit dem Zweiten Weltkrieg in den tiefsten aller Abgründe führte und noch lange als Schatten über dem Land liegen wird.


Vor diesem Hintergrund machen gerade die aktuellen Entwicklungen in der Türkei eines deutlich: Staatschef Recep Erdoğan ist schwach wie nie – und damit gefährlich wie nie. Seit 2010 fällt die türkische Währung Lira. Die Arbeitslosenquote stieg in dem Zeitraum von rund 8 auf rund 14 Prozent – vor der Coronakrise! 2019 gingen Istanbul und Ankara für die Regierungspartei AKP an die sozialdemokratische CHP verloren. Jüngste Wahlbefragungen sehen die AKP bei 35 Prozent. 2011 lag sie bei 50 Prozent. 2015 büßte sie ihre absolute Parlamentsmehrheit ein.

Hauptgrund: der Einzug der pro-kurdischen HDP. Zudem machte der HDP-Erfolg zunächst Recep Erdoğans Plan zunichte, das Land in ein Präsidialsystem mit ihm als mächtigstem Mann, den die moderne Türkei je gesehen hat, an der Spitze umzubauen. Geschlagen gab er sich selbstredend nicht. Im Schatten des syrischen Bürgerkriegs mit Kurden, Regime-Anhängern und -Gegnern als zentralen Akteuren nutzte er Terrortaten der PKK dazu, um die HDP mit der verbotenen Organisation in Verbindung zu setzen, neue Kriege gegen die Kurden vom Zaun zu brechen und damit den 2009 von ihm selbst begonnen Friedensprozess zu verwerfen.

In diese unruhige Lage platzte 2016 der Putschversuch, für den Recep Erdoğan seinen früheren Verbündeten und heutigen Gegner, den Prediger Fethullah Gülen, verantwortlich machte. Kurze Zeit später und ein Jahr nach dem grandiosen Wahlsieg der HDP landetet dessen Chef, Selahattin Demirtaş, im Gefängnis, wo er bis heute sitzt. Recep Erdoğans Strategie ging auf. 2017 holte er sich das nötige Verfassungsreferendum, 2018 die Präsidentschaft. Inzwischen läuft in der Türkei nichts mehr ohne seine Billigung.

Die Gewaltspirale dreht sich

2021 setzt der Präsident wieder auf Altbewährtes. Anfang Februar startete die Türkei eine Offensive gegen die PKK im Irak. In der Folge wurden 13 entführte Türken ermordet. Als Reaktion folgte eine Verhaftungswelle – darunter wieder führende Vertreter der HDP. Die Gewaltspirale dreht sich. Jüngst gab es eine neue Razzia gegen Soldaten wegen angeblicher Gülen-Verbindungen. Zehntausende Menschen wurden seit 2016 bereits verhaftet, mehr als 100.000 aus ihren Jobs entlassen – darunter neben Militärs Staatsanwälte, Richter*innen, Bürgermeister*innen, Uni-Bedienstete, Journalist*innen.

Doch all das ist nicht genug. Vergangene Woche brachte Recep Erdoğan ein Verbotsverfahren gegen die HDP vor dem Verfassungsgericht auf den Weg. Nachdem er sich die Justiz weitgehend gefügig gemacht hat, wird er anders als seine Widersacher vor 13 Jahren damit wohl durchkommen. Nach und nach greift er sich einen Bereich nach dem anderen – so wie es Autokraten halt tun. Selbst die Zinspolitik muss seinem Willen unterworfen werden. Am Wochenende tauschte der Präsident nach nur vier Monaten mit Naci Ağbal den zweiten Notenbankchef aus. Dieser hatte es gewagt, gegen dessen Willen den Leitzins weiter zu erhöhen – satte zwei Prozentpunkte auf 19 Prozent –, um den Verfall der Lira zu stoppen.

Zugleich ging Recep Erdoğan gegen die Frauen im Land vor: Die Türkei soll aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt aussteigen. Der völkerrechtliche Vertrag wurde vor fast genau zehn Jahren in Istanbul signiert und ist deshalb als Istanbul-Konvention bekannt.

Der Schritt ist bezeichnend, legte Recep Erdoğan in dieser Dekade doch eine atemberaubende Reise hin vom einst durchaus geachteten Ministerpräsidenten, der wirtschaftspolitische Erfolge verbuchen konnte, Kurden und Frauen mehr Rechte einbrachte, zum autokratischen Präsidenten, der alles niederwalzt. Sein Wendepunkt waren die Gezi-Proteste 2013, als er mit seiner Fast-Zwei-Drittel-Mehrheitspartei nicht verkraften konnte, dass einige seiner "Kinder" es wagten, lautstark gegen den "Vater" aufzubegehren, und er die Sicherheitskräfte mit brachialer Gewalt gegen die Demonstrierenden vorgehen ließ.

Für Erdoğan geht es um andere "Probleme"

In Ländern, die sich in Richtung autokratischer Verhältnisse bewegen, geht es irgendwann immer gegen die Frauen. Das war gerade erst in Polen bei der Verschärfung des Abtreibungsrechts zu beobachten. Wenn die Opposition eingeschüchtert ist, Presse und Justiz geschleift sind, ist das – schließlich sind die Autokraten dieser Welt für gewöhnlich männlich – bald danach der nächste Schritt. Natürlich wird der Antifeminismus (noch) nicht offen zugegeben. In Polen wurde der Schutz des ungeborenen Lebens vorgeschoben, in der Türkei der Schutz der Familie. Dazu zählt die Verhinderung von Femiziden offenbar nicht – die Plattform gegen Frauenmorde ("Kadın Cinayetlerini Durduracağız") registrierte in der Türkei 300 allein in 2020. Aus Sicht von Recep Erdoğan geht es um andere "Probleme". Sein Sprecher Fahrettin Altun teilte als Grund für den Ausstieg aus der Konvention mit, manche benutzten die Übereinkunft, um Homosexualität zu "befördern" und traditionelle türkische Werte zu untergraben.

Exakt an dieser Stelle gibt es nun wieder einmal einen fatalen Brückenschlag nach Deutschland. Wie "Die Welt" berichtete, hatte in Rheinland-Pfalz der dortige Ableger des deutschen Islamverbands DITIB, der bekanntlich aus Ankara dominiert wird, den Professor für Osmanische Geschichte an der Marmara-Universität Istanbul, Ahmet Şimşirgil, für letzten Sonntag als Redner zu einer Online-Veranstaltung eingeladen. Am Abend zuvor war der Liebling der AKP-Anhänger*innen noch im türkischen Fernsehen zu sehen, wo er die Istanbul-Konvention zu einem europäischen Diktat erklärte, das Homosexualität verbreite und Familienstrukturen zerstöre.

Ahmet Şimşirgil vertrat schon zuvor offen reaktionäre, homophobe und antisemitische Ansichten (Die Schlagzeile: "IS übernimmt Verantwortung für Explosion in Beirut" kommentierte er mit den Worten: "Also der Terrorstaat Israel…"). Hätte "Die Welt" nicht auf die Veranstaltung mit ihm aufmerksam gemacht, wäre sie vermutlich nicht kurzfristig abgesagt worden.

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Im Nachhinein folgte das übliche Prozedere, angeblich bedauere der Landesverband die Einladung und in Wirklichkeit sei alles ganz anders gewesen. Bei der deutschen Politik hat DITIB damit trotzdem gute Chancen, Gehör zu finden. Insbesondere Bund und Länder wie eben Rheinland-Pfalz oder Hamburg und Niedersachsen aber auch NRW sind so vernarrt in DITIB, dass sie sie ungeachtet aller Probleme bis heute die erste Geige spielen lassen, wenn es um deutsche Islampolitik geht. DITIB kann sich alles erlauben – nach außen wird sich über den Verband empört, hinter den Kulissen wird er hofiert.

Erdogan ist unberechenbar

Der Vorfall in Rheinland-Pfalz zeigt mal wieder, wie direkt uns die Entwicklung von Recep Erdoğan betrifft. Der 67-Jährige ist unberechenbar, und seine zunehmende Schwäche macht ihn noch unberechenbarer. Er schlägt um sich und sucht mehr und mehr die Unterstützung von Faschisten, Ultranationalisten und Fundamentalisten, die ihn vergangenes Jahr zur Rück-Umwandlung des Museums Hagia Sophia in eine Moschee getrieben hatten und die schon seit Längerem auf den Austritt aus der Istanbul-Konvention drängen. Nicht über DITIB allein, ebenso über rechtsradikale Gruppen wie die Grauen Wölfe (und andere Islamverbände) wirken er und sein Umfeld in Deutschland.

Dennoch sind die deutsche und europäische Politik nicht in der Lage, eine klare Haltung zu Recep Erdoğan zu finden. Dessen Türkei hat Europa mit dem Flüchtlingspakt, als wichtiger Handels- sowie NATO-Partner und als Herkunftsland zahlreicher europäischer Bürgerinnen und Bürger vielfach in der Hand. Niemand kann auf ernste Konsequenzen Europas setzen, sollte es tatsächlich zum HDP-Verbot und zum Austritt aus der Istanbul-Konvention kommen. Vom EU-Gipfel heute und morgen ist jedenfalls gar nichts zu erwarten. Im Gegenteil.


Die EU bietet bereits wieder ein dickes Zuckerbrot an, indem sie der Türkei die Modernisierung der Zollunion in Aussicht stellt, und versteckt die Peitsche hinter dem Rücken. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) meinte, es gebe schließlich in der Türkei Licht und Schatten und lobte dann die jüngste Entspannungspolitik Ankaras im östlichen Mittelmeer im Konflikt mit Griechenland und Zypern um gigantische Erdgasvorkommen.

Die Türkei ist nicht nur Recep Erdoğan

Der Umgang mit der Türkei in Europa und in Deutschland ist ein Trauerspiel. Einerseits geprägt von türkenfeindlichen und antimuslimischen Ressentiments, andererseits von Floskeln oder leeren Worten der Mahnung und Sorge zu türkischen Menschenrechtsverstößen. Die Politik muss ehrlicher und mutiger werden. Wir dürfen den Gesprächsfaden zwar nicht abreißen lassen, die Türkei ist nicht nur Recep Erdoğan, aber wir müssen auch die wirtschaftlichen und politischen Hebel nutzen. Deutsche Parteien könnten darüber hinaus viel stärker die Nähe zur HDP oder CHP suchen.

Der "Welt"-Redakteur Deniz Yücel regte unlängst an, die Wahlen in den diplomatischen Vertretungen hierzulande zu untersagen. Recep Erdoğan ist von Europa abhängig. Das weiß jeder. Die entsprechenden Hebel betätigen, erfordert allerdings die Bereitschaft, eigene Nachteile in Kauf zu nehmen. Dazu sind Deutschland und Europa unter ihren aktuellen politischen Führerinnen und Führern nicht bereit.

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Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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