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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Stimmung im Landtag Stuttgart "Wie soll ich erklären, dass die nicht Kretschmann wählen sollen?"
Gleich nach den ersten Hochrechnungen gehen im Stuttgarter Landtag die Spekulationen über mögliche Regierungskoalitionen los. t-online Reporter Tilman Baur und watson-Reporter Sebastian Heinrich haben sich vor Ort umgehört.
Als die ersten Hochrechnungen um 18 Uhr auf den Fluren im Stuttgarter Landtag über den Bildschirm flimmern, erklingen "Jawohl"-Rufe unter den FFP2-Masken, stoßen sie einander an den Ellenbogen: Es ist Corona-konformes Jubeln. Die Grünen können ihre Macht im Land ausbauen. Vor den Fraktionsräumen tummeln sich Dutzende Journalisten und Fotografen, deutlich mehr als bei den anderen Parteien. Pandemie-Abstandsregeln scheinen hier zeitweise ausgesetzt.
Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit dem Nachrichtenportal watson entstanden.
Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg hat der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann laut vorläufigem amtlichen Ergebnis klar gesiegt – seine Partei landet bei 32,6 Prozent. Ein Desaster für die CDU, die das Land jahrzehntelang politisch dominiert hatte. Die CDU kommt nur noch auf etwas über 24 Prozent. Die Grünen verbessern sich gegenüber der vergangenen Landtagswahl von 2016 um mehr als zwei Prozentpunkte. Für die Christdemokraten ist es wohl das mit Abstand schlechteste Resultat der Geschichte im Bundesland mit der drittgrößten Bevölkerung. Sie verschlechtern sich im Vergleich zur bisherigen Tiefstmarke von 2016 um fast drei Prozentpunkte.
Keine Äußerungen zu möglichen Koalitionspartnern
Grünen-Landesparteichefin Sandra Detzer spricht in einem ersten Statement am Abend schon nach den Hochrechnungen vom "stärksten Ergebnis der Grünen überhaupt", auch Landtagspräsidentin Muhterem Aras und Fraktionschef Andreas Schwarz wirken gelöst. Detzer vermeidet es zunächst, sich auf mögliche Koalitionen festzulegen. Das muss sie auch nicht. Die Grünen haben die CDU deutlich distanziert und halten im Hinblick auf mögliche Koalitionsverhandlungen alle Trümpfe in der Hand.
Auch bei der CDU beginnen schon mit Bekanntwerden der ersten Prognose die Erklärungsversuche. Fest steht: Kultusministerin Susanne Eisenmann ist als Spitzenkandidatin gescheitert. Guido Wolf, Justizminister unter Grün-Schwarz und 2016 selbst Spitzenkandidat der CDU und Wahlverlierer gegen Kretschmann, spricht gegenüber t-online und watson von einem "schwierigen Wahlkampf, von Anfang an." Man habe aus der Bundespolitik "massiv Gegenwind" bekommen, durch die Maskenaffäre in der Unionsfraktion im Bundestag – aber auch durch die Fehler der Bundesregierung in der Corona-Politik: Wolf nennt das "Impfchaos", die "unsäglichen Debatten" über die Teststrategie – und der ständige Lockdown, der die Menschen zermürbe.
Aber es war natürlich auch ein Personalproblem, das wissen sie bei der CDU. Eisenmann hat als Spitzenkandidatin nicht gezündet, offensichtlich. Jemand aus der Landtagsfraktion sagt gegenüber t-online und watson wörtlich: "Die Wahlkämpfer haben uns gefragt: 'Wie soll ich bitte den Leuten erklären, dass sie nicht den Kretschmann wählen sollen?'" Kretschmann, der Landesvater, der auch vielen konservativen Schwaben und Badenern zusagt, hat es wieder gerissen. 71 Prozent der Bürger waren laut einer Befragung von infratest dimap mit seiner Arbeit zufrieden – nur 22 mit der von Eisenmann.
Muss Eisenmann gehen?
Eisenmann selbst will offensichtlich eines nicht: schönreden. Sie nennt das Ergebnis "desaströs". "Selbstverständlich übernehme ich die Verantwortung", sagt die amtierende Kultusministerin – ein Satz, der nach Niederlagen bei Landtagswahlen oft bedeutet, dass jemand seinen Job verliert. Die CDU müsse nun analysieren, "wieso man seit Jahren Schritt für Schritt in Baden-Württemberg schlechter geworden ist".
Die AfD, die aus der Wahl 2016 als stärkste Oppositionsfraktionen herausgegangen war, liegt nach dem amtlichen Ergebnis bei 9,7 Prozent. Damit liegt die Partei mehr als fünf Prozentpunkte unter dem Ergebnis von 2016: Bei der vergangenen Landtagswahl hatten die Rechtspopulisten über 15 Prozent erreicht, ihr bis heute stärkstes Ergebnis in einem westdeutschen Bundesland.
Bundessprecher Jörg Meuthen tritt schon um 18.05 Uhr vor die Kameras. Er bemüht sich, den Dämpfer als "Konsolidierung auf hohem Niveau" darzustellen. Die AfD habe einen Wahlkampf unter schwersten Bedingungen geführt, so Meuthen mit Hinweis auf das Ansinnen des Verfassungsschutzes, die AfD als Verdachtsfall zu führen. Seine Partei sei eine feste Größe in den Landesparlamenten, ergänzt er noch. Fest steht: Der Höhenflug der AfD ist auch in Baden-Württemberg vorbei, auf die Euphorie von 2016 folgt erst einmal Ernüchterung.
Scholz: Regierungsbildung ohne CDU möglich
Die SPD holt mit 11 Prozent erneut ein schlechtes Ergebnis: fast zwei Prozentpunkte weniger als 2016. Auch für die Sozialdemokraten ist es, wie für die CDU, das schlechteste Ergebnis der Geschichte. Die Volksparteien der alten Bundesrepublik schrumpfen weiter, auch in Baden-Württemberg. Und trotzdem könnte die SPD Teil einer wichtigen Wendung in Baden-Württemberg sein – die zumindest manche Sozialdemokraten glücklich machen kann.
Denn von Baden-Württemberg könnten in den Stunden und Tagen nach der Wahl ein Signal für eine Ampelkoalition ausgehen, für ein Bündnis aus Grünen, FDP und SPD. Wäre das was auch für den Bund? Man kann SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil und den Kanzlerkandidaten Olaf Scholz so verstehen, wenn man ihre Statements am Wahlabend anhört. Klingbeil sagt, die SPD stehe in Baden-Württemberg bereit für eine Regierung. Und Scholz sagt in der ARD: "Es ist ein guter Tag, weil er auch zeigt, dass Regierungsbildung ohne die CDU möglich ist in Deutschland."
FDP will raus aus der Opposition
Die FDP verbessert sich laut der Prognose deutlich auf 10,5 Prozent und legt damit etwas über zwei Prozentpunkte zu. Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke sieht darin einen Regierungsauftrag, wie er auf dem Flur des Landtags sagt. "Wir sind die Partei, die am meisten hinzugewonnen hat." Man sei bereit, zu regieren. Die Grünen seien klarer Wahlsieger. "Wenn ein Gesprächsangebot kommt, wollen wir das ausloten", sagt Rülke. Vor fünf Jahren hatte er eine Regierungsbeteiligung unter den Grünen ausgeschlossen. Warum die Kehrtwende? "Die Grünen haben sich bei wesentlichen Punkten bewegt, so etwa beim Verbrennungsmotor", lässt der Fraktionschef wissen. Das habe man wohlwollend zur Kenntnis genommen. An der FDP dürfte eine Koalition mit den Grünen und ohne die CDU wohl nicht scheitern.
Die CDU in Baden-Württemberg will das verhindern, auch das hört man an diesem Abend in Stuttgart sehr deutlich. Der ehemalige Spitzenkandidat Wolf meint gegenüber t-online und Watson: "Der Ball liegt jetzt bei Herrn Kretschmann." Er sagt das zweimal. Und ein prominenter CDU-Abgeordneter meint gegenüber Journalisten in Richtung des Ministerpräsidenten: "Warum soll er in eine Dreierkoalition gehen, wenn er eine Zweierkoalition haben kann?" Und: "Klimaschutz ist doch mit uns kein Problem." Es klingt wie eine laute Bitte an den Regierungschef. Und das in dem Bundesland, das die CDU zwei Jahrzehnte lang mit absoluter Mehrheit regiert hat.
- Eigene Beobachtungen vor Ort