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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Talk bei "Markus Lanz" Müller über Inzidenz-Werte: "Ich staune da auch"
Berlins Bürgermeister Müller "staunt" über die Corona-Politik seines Brandenburger Kollegen – das Bundesland hatte bei der mit dem Bund ausgehandelten Notbremse einen umstrittenen Alleingang hingelegt. Für eine Überraschung sorgte Reinhold Beckmann.
Vergangenen Mittwoch konnte Berlins Regierender Bürgermeister Müller nicht wie geplant in Markus Lanz' Talkshow gastieren, weil die Bund-Länder-Ministerpräsidentenkonferenz bis tief in die Nacht gedauert hatte. Kein Problem, genug Sendetermine hat Lanz ja zu bieten. Der SPD-Politiker war dann eben diesen Mittwoch zugeschaltet. Mit ihm und dem Journalisten-Ehepaar Katja Gloger/Georg Mascolo, das sein Buch "Ausbruch. Innenansichten einer Pandemie" vorstellte, diskutierte Lanz über ein Jahr Corona, weil vor einem Jahr die ersten nachgewiesenen Corona-Toten in Deutschland zu beklagen waren. Warum Talkshow-Veteran Reinhold Beckmann in der Runde saß, zeigte sich erst am Ende der Sendung so richtig.
Die Gäste
- Michael Müller, Regierender Bürgermeister Berlins (SPD)
- Katja Gloger, "Stern"-Journalistin, die gemeinsam mit ihrem Mann Georg Mascolo das Buch "Ausbruch. Innenansichten einer Pandemie" schrieb
- Georg Mascolo, Journalist, Ex-"Spiegel"-Chefredakteur
- Reinhold Beckmann, Ex-Talkshow-Moderator und Musiker mit neuem Album
War es am Abend zuvor zwischen Sascha Lobo und CDU-Politiker Ralph Brinkhaus scharf kontrovers zugegangen, so herrschte in dieser Runde weithin Einigkeit. Den Begriff "Staatsversagen" wollte ausdrücklich niemand bemühen. Müller nannte den Masken-Skandal der Unionsparteien "bitter", auch weil die Gefahr drohe, dass alle Politiker "in einen Topf geworfen" würden, obwohl die Politik doch Vertrauen braucht. Der SPD-Mann, der in den nächsten Bundestag einziehen will, verzichtete weitgehend auf Wahlkampf. Vieles sei dem Staat durchaus gut gelungen, sagte er. Schon weil künftig Infektionswellen "in dichterer Folge" kommen könnten, sei allerdings wichtig, die Daseinsvorsorge im Gesundheitswesen besser zu finanzieren. Der deutsche Staat müsse mehr investieren, um "aus unserem Knowhow mehr zu machen".
Zur Entscheidung seines Brandenburger Kollegen und SPD-Parteifreundes Woidke, die Corona-Regeln erst ab einer Inzidenz von 200 statt wie beim Bund-Länder-Gipfel vereinbart von 100 wieder zu verschärfen, sagte Müller nur: "Ich staune da auch". Es gebe in den Konferenzbeschlüssen "kein Komma, über das wir uns nicht Stunden unterhalten", daher müssten die Bundesländer in der aktuellen Situation eigentlich "in den Grundsatzbeschlüssen sehr nahe beieinander bleiben".
"Sommer der Sorglosigkeit und des Wunschdenkens"
Ansonsten talkte sich die Runde anhand der Gloger/Mascolo-Neuerscheinung (Lanz: "wirklich packendes" Buch, das "sich liest wie ein Krimi") durch die Chronologie des ersten Corona-Jahres in Deutschland. Lanz nahm für sich in Anspruch, früh die Bedeutung von Mund-Nasen-Masken betont zu haben. Mascolo nannte als den "entscheidenden Fehler" der Politik, nachdem Deutschland in der ersten Phase der Pandemie zurecht gelobt worden sei, zu lange den Ausbau der Produktionskapazitäten für Impfstoffe vernachlässigt zu haben. Dieser Fehler werde inzwischen behoben, doch sechs bis neun Monate zu spät
Gloger sprach vom "Sommer der Sorglosigkeit und des Wunschdenkens". Mascolo nahm den Ball auf: "Der Fehler lag im Sommer der Sorglosigkeit", der nicht einmal genutzt wurde, um im ersten Lockdown so offensichtliche Probleme wie die Digitalisierung der Schulen zu beheben.
Von der "Arbeitsgruppe Schwarzer Schwan" und von im Auftrag der Bundesregierung entwickelten "Szenarien, die Angst machen sollten", die die dann aber nicht lange genutzt wurden, hätte man gerne mehr gehört. Stattdessen wurden bekannte Argumente ausgetauscht.
Die abwägende Einigkeit bedeutete zwar, dass Fehler, die sich etwa auch der Berliner Landespolitik machen ließen, nicht zur Sprache kamen. Dafür konnte das Bemühen, Lehren für die noch längst nicht abgeschlossene Bewältigung der Pandemie oder sogar für künftige Pandemien zu ziehen, durchaus konstruktiv wirken. Müller gab sogar einen eigenen Fehler zu. Er habe im ersten Lockdown "nicht richtig eingeschätzt, wie sehr Menschen belastet sind und an Grenzen kommen". Was genau er daraus für den aktuellen Lockdown und Lockerungen gelernt hat, blieb offen, weil Müller sich gut eine Viertelstunde vor Sendungsnde verabschiedete.
Zum Ende der Sendung widmet sich Lanz Beckmanns Musik
Moderator Lanz vollzog zugleich einen harten Schnitt in der Show-Dramaturgie und widmete sich allein Reinhold Beckmann. Der einstige Talkshow-Kollege, der inzwischen vor allem als Musiker aktiv ist, schilderte zunächst, wie er 2018 nach Alexander Gaulands viel zitierter "Vogelschiss"-Rede gemeinsam mit seiner hochbetagten, inzwischen verstorbenen Mutter eine letzlich erfolglose Klage gegen den AfD-Politiker eingereicht hatte. Dann ging er im Schnelldurchlauf durch seine Familiengeschichte: Um vier Brüder seiner Mutter, die im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen waren, ging es, um "Angstträume" seine Vaters und um seine eigene Kriegsdienstverweigerung als "Woodstock-Kind" mit langen Haaren. So gelangte er letztlich zum Musikvideo "Vier Brüder" zu seinem neu erschienenen Album "Haltbar bis Ende", aus dem am Ende ein Ausschnitt zu sehen war. "Es ist so gut!", schwärmte Moderator Lanz.
Nun, darüber lässt sich streiten. Eine überraschende Wendung, die die zwischendurch etwas zähe Talkshow am Ende wieder spannend machte, haben Lanz und Beckmann allerdings hingelegt.
Am heutigen Donnerstag gibt es keine Lanz-Show zu sehen, sondern die in Schweden – über dessen spezielle Corona-Strategie ja auch viel diskutiert wird – gedrehte Markus-Lanz-Reportage "Schweden ungeschminkt". "Wie ich finde, sehr sehenswert", machte Filmemacher Lanz schon mal gespannt.
- Markus Lanz vom 11. März 2021