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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Warten aufs Corona-Vakzin "Deutschland hat beim Impfen fünf Wochen verloren"
Großbritannien impft schon länger, die USA nun auch. Doch die Deutschen müssen noch warten auf ihre Spritze gegen Corona. In der Politik wächst nun die Kritik an der Verzögerung.
Sie hatte es erst für einen Witz gehalten. Als Margaret Keenan erfährt, dass sie Geschichte schreiben wird, kann sie es nicht so recht glauben. Keenan, 90 Jahre alt, ist Patientin Nummer 1. Sie bekommt am vergangenen Dienstag als Erste den Corona-Impfstoff von Biontech-Pfizer. Die heiß ersehnte Spritze gegen die Seuche.
Keenan ist Britin. Und damit wird der vermeintliche Witz gewissermaßen zum Treppenwitz der Geschichte. Denn der Impfstoff, der von einem deutschen und einem amerikanischen Unternehmen entwickelt wurde, darf zuerst in Großbritannien angewendet werden. Während es in den USA nun auch losgeht, muss Deutschland wohl noch Wochen warten.
Wie kann das sein?
"Es ist schwer nachvollziehbar"
Die Wissenschaft ist in der Corona-Krise über sich hinausgewachsen. Was eigentlich Jahre dauert, ist nun in wenigen Monaten gelungen: Es gibt einen hochwirksamen Impfstoff gegen eine gefährliche Krankheit, made in Germany.
Doch damit ein Impfstoff auch verabreicht werden darf, braucht es eine behördliche Zulassung. Und genau da hapert es in Deutschland.
- Die britische MHRA hat dem Biontech-Pfizer-Impfstoff am 2. Dezember eine Notfallzulassung erteilt.
- Von der amerikanischen FDA bekam er am 11. Dezember eine Notfallzulassung.
- Deutschland wartet derweil auf die EU. Die Ema will bis zum 29. Dezember ihr Urteil fällen. Bis dahin sind es noch mehr als zwei Wochen.
"Es ist schwer nachvollziehbar, dass in Deutschland der erste Impfstoff entwickelt wurde, dieser aber zunächst in anderen Ländern zum Einsatz kommt", sagt Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch t-online. FDP-Fraktionsvize Michael Theurer wütet: "Herr Spahn hat die Latte so hochgelegt, dass er nun selbst darunter durchspazieren kann."
Doch nicht nur die traditionell kritikfreudige Opposition, auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hält es inzwischen für "erklärungsbedürftig, dass Großbritannien schon einen deutschen Impfstoff einsetzen kann, wir aber noch nicht".
Bloß kein politischer Druck
Für Linken-Fraktionschef Bartsch ist die Sache deshalb klar: "Das EU-Zulassungsverfahren ist für diese medizinische Ausnahmesituation ziemlich langwierig", sagt er. "Die Bundesregierung muss das Mögliche dafür tun, das europäische Verfahren zu beschleunigen."
Doch genau da wird es heikel.
Natürlich wünscht sich auch die Bundesregierung möglichst schnell einen Impfstoff. Doch sie bemüht sich derzeit zugleich, auch nur den Anschein zu vermeiden, politischen Druck auf die Prüfung der Ema auszuüben. Als Kanzlerin Angela Merkel am Sonntag die neuen Härten in der Corona-Krise verkündet, sagt sie zu der Prüfung, die Erleichterung bringen könnte, deshalb auch diesen Satz: "Wir wollen natürlich, dass das sorgfältig geschieht, und deshalb werden wir da auch keinen politischen Druck machen."
Gesundheitsminister Jens Spahn sagte t-online vor einigen Tagen, die Zulassung sei "doch kein Wettrennen, sondern ein Prozess, der möglichst schnell, aber unter Achtung der notwendigen Standards abgeschlossen werden muss". Wenn das einige Tage oder wenige Wochen länger dauere als in Großbritannien, sei das hinnehmbar. "Gründlichkeit ist gerade hier wichtig, die Menschen wollen sich auf die Sicherheit des Impfstoffes verlassen können."
Die Sorge vor der Impfskepsis
Dahinter steckt eine durchaus ernst zu nehmende Sorge. Denn ein noch so schnell zugelassener Impfstoff nützt wenig, wenn die Menschen ihn nicht haben wollen – weil sie das Vertrauen in seine Sicherheit verlieren. In den USA haben Beobachter schon länger die Sorge, dass Donald Trump der Impfbereitschaft nachhaltig schadet. Der US-Präsident hatte bis zuletzt ganz unverhohlenen Druck auf den FDA-Chef Stephen Hahn ausgeübt. "Geben Sie die verdammten Impfstoffe jetzt raus, Dr. Hahn", wütete Trump auf Twitter.
Nun gibt es keinen Trump in Deutschland. Aber auch hierzulande könnte die Impfskepsis zum Problem werden. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag von RTL und ntv wollen 50 Prozent Deutschen erst einmal mit der Corona-Impfung warten. Sicherheit vor Schnelligkeit – so lautet das Mantra, mit dem die Bundesregierung Vertrauen schaffen will.
"Deutschland hat beim Impfen fünf Wochen verloren"
Doch Schnelligkeit ist eben auch wichtig, gerade in einer Pandemie, in der die Infektionszahlen schon wieder exponentiell ansteigen. Aus der EU-Behörde Ema selbst hieß es am Montag, das Zulassungsverfahren sei kaum zu beschleunigen. Man arbeite rund um die Uhr.
SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach sagt trotzdem: "Deutschland hat beim Impfen fünf Wochen verloren. Das kostet mitten in der zweiten Welle viele Todesopfer."
Doch jetzt ist man zum Abwarten verdammt, so sieht auch Lauterbach das. "Wir hätten neben dem europäischen Zulassungsverfahren gleichzeitig ein nationales laufen lassen sollen", sagt er t-online. "Es ist ein trauriger Nachteil, der sich jetzt nicht mehr ändern lässt."
- Eigene Recherchen
- Mit Infos der Nachrichtenagentur dpa
- tagesschau: Erste Britin gegen Corona geimpft
- t-online: "Spätestens im Sommer wird es Massenimpfungen geben"