Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Coronavirus-Krise Die Politik nimmt Hunger und Mangelernährung in Kauf
In Windeseile hat die Regierung Corona-Hilfspakete in Milliardenhöhe geschnürt. Doch die, die jetzt dringender denn je Hilfe brauchen, wurden vergessen. Ein Gastbeitrag von Foodwatch-Geschäftsführer Martin Rücker.
Auch den Minister*innen der Bundesregierung dürfte der Kopf geschwirrt haben angesichts der Milliardenpakete, die sie binnen weniger Tage schnürten – nur wenige Tage, nachdem die Koalitionäre die "schwarze Null" noch mantra-artig beschworen hatten. Die Corona-Krise hat die Staatsschatulle weit geöffnet, um einen nie dagewesenen Rettungsschirm zu spannen.
Umso fataler, dass der Schirm dort am löchrigsten ist, wo die Schwächsten unserer Gesellschaft bereits heute im Regen stehen: Einkommensschwache Familien, in Armut lebende Rentner*innen und andere, denen durch die Corona-Krise die Möglichkeiten genommen wurde, sich ausreichend und ausgewogen zu ernähren. Steuert die Bundesregierung hier nicht schnellstmöglich nach, droht die Corona-Pandemie auch ein Programm für Ernährungsarmut zu werden – es wäre eine Schande.
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und Bundessozialminister Hubertus Heil haben oft genug betont, dass sie Einkommensschwache vor Armut bewahren und jedem Kind ein warmes Mittagessen ermöglichen wollen. Es ist inakzeptabel, wie sie bislang die Augen davor verschließen, dass die Corona-Folgen genau dies gefährden. Und unverständlich, wie laut die stets gesellschaftliche Solidarität betonende SPD-Spitze um Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans dazu schweigt.
Die Grundsicherung kann den Bedarf nicht decken
Dabei ist die Not offensichtlich: Mehrere Millionen Menschen – Empfänger*innen von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe, Asylbewerber*innen sowie Rentner*innen in Grundsicherung – erhalten über die Regelsätze höchstens rund 150 Euro für Lebensmittel pro Monat. Vielen reicht das nicht, auch weil sie mit den Beträgen andere Bedarfe (Bildung, Energiekosten, Verkehr) finanzieren müssen: Sie sind angewiesen auf Lebensmittelspenden bei den Tafeln oder auf kostenlose Mittagstische. Mehr als nur fürs Protokoll sei gesagt, dass es sich um ein schwerwiegendes Staatsversagen handelt, wenn in einem reichen Land eine ausreichende Ernährung vieler Menschen ohne kostenlose Mittagessen in philanthropischen Einrichtungen nicht sichergestellt ist.
Doch nun fallen diese Angebote auch noch weg, von einem Tag auf den anderen: Bundesweit hat allein die Hälfte der Tafeln Corona-bedingt geschlossen. Gleiches gilt für zahlreiche Sozial-Mittagstische und Einrichtungen für Wohnungslose.
Das ist längst nicht alles: Hatten Kinder aus Familien mit geringem Einkommen bisher Anspruch auf ein kostenloses Mittagessen in Schule oder Kindergarten, ist auch das angesichts geschlossener Schulen und Kitas ersatzlos gestrichen – für Familien in Armut bedeutet dies signifikante Mehrkosten.
Preiswerte Produkte sind am schnellsten ausverkauft
All dies fällt in eine Zeit, in der Jobverluste und Kurzarbeit viele Einkommen noch zusätzlich verringern. Und in der die Preise für Lebensmittel steigen – was ausgerechnet besonders für jene Nahrungsmittel zutrifft, die relevant für eine ausgewogene Ernährung sind. So kostete frisches Obst im März rund 13 Prozent mehr als vor einem Jahr, Gemüse rund 6 Prozent. Zumindest bei Gemüse sehen die Experten bereits einen direkten Zusammenhang zwischen den Teuerungen und der gestiegenen Nachfrage durch die Corona-Krise, und sie erwarten mehr solcher Effekte in der Zukunft.
Und zu allem Übel machen Verbraucher*innen beim Einkauf die Erfahrung, dass günstige Produkte in einer Kategorie schneller ausverkauft sind. Man bekommt zwar Nudeln oder Reis, muss dafür immer wieder jedoch auf die höherpreisigen Produkte zurückgreifen.
Mit dem Ernährungsmediziner Hans-Konrad Biesalski und der Ökotrophologin Ulrike Arens-Azevêdo, bis vor kurzem noch Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, haben zwei Berater der Bundesregierung bereits vor den Folgen der Mangelernährung gewarnt – vor allem für kleine Kinder. Fehlt es ihnen an den nötigen Vitaminen und Mineralien infolge von zu wenig oder zu unausgewogener Nahrung, so müssen sie mit einem geschwächten Immunsystem und mit körperlichen wie geistigen Entwicklungsstörungen rechnen. Grund genug für staatliche Hilfen, doch die Warnungen blieben bislang unerhört.
Giffey und Heil müssen unverzüglich handeln
Schnell muss die Bundesregierung diesen Fehler korrigieren. Es bedarf eines Sofortprogramms gegen Ernährungsarmut, um Hunger und Mangelernährung vorzubeugen. Wenn Wohlfahrtsverbände wie der Paritätische Gesamtverband und das Deutsche Kinderhilfswerk einen vorübergehenden Aufschlag auf den Regelsatz um 100 Euro pro Monat fordern, so ist dies zu unterstützen.
Dazu müssen Bund und Länder Koordinierungsstellen für Ernährungssicherheit schaffen, die unbürokratisch und mit ausreichendem Etat helfen können, wo Menschen akut von Hunger bedroht sind. Denn nicht alle haben Anspruch auf Sozialleistungen: Hilfsorganisationen berichten etwa von Menschen aus einigen osteuropäischen Ländern, die keinerlei Anspruch auf staatliche Unterstützung haben und die zum Teil keinen Cent mehr für die eigene Ernährung haben. Sie hatten bislang ihren Unterhalt auf der Straße verdient, mit Musik, dem Verkauf von Zeitungen oder durch Bettelei. Doch auf den Straßen ist kaum noch jemand, der Geld geben würde.
Frau Giffey und Herr Heil müssen unverzüglich handeln, wollen sie das Recht auf eine ausreichende und ausgewogene Ernährung nicht grundsätzlich in Frage stellen. Am Geld darf, am Geld sollte das nicht scheitern: Es bedarf dafür nicht annähernd der Summen, mit denen manch anderer Teil des Corona-Hilfspakets in Rekordtempo ausgestattet wurde.