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Ethikrat-Chef zur Corona-Krise: "Man riskiert, dass Viele Vertrauen verlieren"


Interview
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Ethikrat-Chef zur Corona-Krise
"Man riskiert, dass Viele das Vertrauen in die Politik verlieren"

  • Johannes Bebermeier
InterviewVon Johannes Bebermeier

Aktualisiert am 05.05.2020Lesedauer: 7 Min.
Prof. Peter Dabrock: Der Ethikrat-Chef plädiert für eine breite Debatte über Einschränkungen und mögliche Lockerungen in der Corona-Krise.Vergrößern des Bildes
Prof. Peter Dabrock: Der Ethikrat-Chef plädiert für eine breite Debatte über Einschränkungen und mögliche Lockerungen in der Corona-Krise. (Quelle: Dt. Ethikrat/R. Zensen)

In der Corona-Krise geht es buchstäblich um Leben und Tod. Politik und Gesellschaft stehen vor gewaltigen Entscheidungen. Wie kann das funktionieren? Der Ethikrat-Chef sieht Verbesserungsbedarf.

Der Deutsche Ethikrat muss immer dann helfen, wenn es richtig schwierig wird. Das Gremium aus Sachverständigen berät Politik und Gesellschaft, wenn es um Gewissensfragen geht: etwa bei Organspende, Impfpflicht oder Gentechnik.

In der Corona-Krise ist der Ethikrat deshalb besonders gefragt. Politiker müssen Entscheidungen treffen, obwohl sie immer noch nicht genug über das Coronavirus wissen. Menschen müssen sich stark einschränken, damit sie nicht schwer krank werden, zugleich leidet die Wirtschaft.

Prof. Peter Dabrock ist Theologe an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er ist der Vorsitzende des Ethikrats und erklärt im Gespräch mit t-online.de, wie Politik und Gesellschaft aus diesem Dilemma herauskommen könnten – und warum es aus seiner Sicht geradezu geboten ist, die Folgen für die Wirtschaft einzubeziehen.

t-online.de: Prof. Dabrock, was ist in der Corona-Krise verantwortungsloser: Jetzt schon über die Lockerung von Einschränkungen zu sprechen – oder gerade das Gegenteil: noch nicht darüber zu diskutieren?

Prof. Peter Dabrock: Ich würde die Alternativen gerne erweitern, denn es gibt ja noch ein paar andere Szenarien…

… nur zu!

Am verantwortungslosesten wäre es jetzt, einfach die Einschränkungen zu lockern und weiter nicht darüber zu reden. Eine Debatte zu führen und jetzt schon zu lockern, wäre aber derzeit ebenso unverantwortlich. Schlecht wäre es auch, wenn es möglich wäre, die Einschränkungen nicht zu lockern und darüber dann nicht zu sprechen. Am besten ist aus meiner Sicht unter den gegebenen Umständen: Derzeit noch nicht zu lockern, aber offen über mögliche Perspektiven zu diskutieren.

Warum?

Wir leben in einer freiheitlichen Demokratie, die ihre Kraft daraus schöpft, dass sie in eine lebendige Zivilgesellschaft eingebettet ist. Und diese Zivilgesellschaft brauchen wir in der Corona-Krise. Nachdem wir in einer ersten Hauruckphase schnell Maßnahmen ergreifen mussten, liegt jetzt eine große Chance darin, kontrovers zu diskutieren: Sind die Einschränkungen weiter notwendig? Wenn ja: Warum? Welche Nebeneffekte haben sie? Und: Wie kommen wir da mit welchen Mitteln wieder raus – und dann erst: wann?

Diese Debatte wollen weite Teile der Politik aber gerade offensichtlich nicht führen. Woran liegt das?

Es ist interessant, dass manche Politiker vor Kurzem noch gesagt haben: Lasst uns darüber reden und nun wieder zurückgerudert sind. Zugleich gibt es andere, die jetzt plötzlich verstärkt darüber reden wollen.

An wen denken Sie?

Ich möchte das nicht an Personen festmachen, aber es gibt diese verschiedenen Typen.


Aber warum ist das so?

In die Handlungsrationalität von Politikern fließen persönliche Motive und allgemeine Gründe ein. Das muss man voneinander unterscheiden. Bei der Motivlage ist klar: Politiker stehen in einem Profilierungswettbewerb, auch parteiintern. Das ist völlig legitim und gut, solange es nicht kippt und dem entgegensteht, worum es eigentlich geht: Nämlich in dieser katastrophalen Situation das Beste für das Gemeinwesen im Blick zu behalten.

Das war das Motiv, das erst einmal wenig mit der Sache zu tun hat. Was ist der Grund, der sich aus dem Problem selbst ergibt?

Der Grund ist, dass bei vielen Politikern die Sorge mitschwingt, Erwartungen zu wecken, die sie nachher nicht mehr einfangen können.

Klingt nach einem ernsthaften Problem.

Ich sehe das Risiko auch, keine Frage. Aber es kommt auf das Wie der Kommunikation an. Ganz ohne Debatte gerät ein höheres Gut in Gefahr: Man riskiert, dass viele Menschen das Vertrauen in die Politik verlieren. Der Rechtfertigungsdruck für Einschränkungen steigt mit jedem Tag. Deshalb muss die Politik eine Debatte als – eingestandenermaßen nicht leichte – Herausforderung begreifen, die letztlich eine große Chance bietet: Sie kann die Menschen wirklich mitnehmen und Autorität genau dadurch entwickeln, dass sie auf möglichst Viele hört und bereit ist, sich davon anregen zu lassen.

Wie müsste so eine Kommunikation aussehen, damit sie eben nicht entgleitet und falsche Hoffnungen weckt?

Mir leuchtet ein, dass Politiker zu Beginn recht forsch vorangehen mussten. Aber diese Anfangsphase ist vorbei. Jetzt muss die Politik stärker in den Austausch- und Beteiligungsmodus wechseln. Sie muss die Menschen ernsthaft nach ihren Sorgen und Nöten fragen: Wie geht es euch? Wie könnt ihr euch mit der Situation arrangieren? Was würde euch helfen, jetzt, aber auch bei möglichen Lockerungen? So können Politik und Gesellschaft im wechselseitigen Lernmodus Öffnungsperspektiven entwickeln.

Wie genau?

Es sollte einen Ideenwettbewerb um die besten Öffnungsperspektiven geben. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten, das zu organisieren. Man kann Hackathons veranstalten, Ministerien können Ideenbörsen ins Leben rufen, es könnten virtuelle Gesprächsgruppen organisiert werden. In Nordrhein-Westfalen hat Ministerpräsident Armin Laschet jetzt einen Corona-Beirat gegründet, in dem eben nicht nur Virologen, sondern auch Ökonomen, Soziologen, Psychologen, Ethiker und andere vertreten sind. Diese gute Idee könnte man online auf eine noch breitere Basis stellen und deutschlandweit Ideen für die jetzige Situation, aber auch die zu bedenkenden Renormalisierungsstrategien sammeln.

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Die Politiker sollten also nicht nur mit Wissenschaftlern sprechen, sondern auch mit anderen Menschen?

So ist es. Wissenschaftler sind nicht die besseren Bürger. Sie sind Experten in ihrem begrenzten Fachgebiet. Aber wenn es um so große, gesellschaftliche Probleme geht wie jetzt, ist es genau so wichtig, mit möglichst vielen Menschen zu sprechen. Und auch mit Vertretern vulnerabler Gruppen…

…also Vertretern von Gruppen, die verletzlicher sind wegen Behinderungen, Vorerkrankungen, Armut.

Genau. Diese Gruppen sind jetzt durch die Einschränkungen, aber auch durch mögliche Lockerungen stärker gefährdet als andere. All diese Menschen muss man hören und nicht nur die Wissenschaft. Da sehe ich derzeit noch Verbesserungsbedarf bei der Bundesregierung aber auch bei Landesregierungen.

Welche Interessen müssen da gegeneinander abgewogen werden, wenn man über Öffnungsperspektiven spricht, wie Sie es formulieren?

Das ist sehr schwierig und kann nur funktionieren, wenn die Gesellschaft miteinander ins Gespräch kommt. Ich habe zuletzt Reaktionen von Menschen aus Risikogruppen bekommen, die den Eindruck haben, dass sie bei einer Öffnung in eine Selbstisolation gedrängt würden. Es wird ja diskutiert, dass Ausgangsbeschränkungen für ältere und kranke Menschen vielleicht noch länger andauern könnten. Sie haben Angst, zu Sündenböcken der Krise gemacht zu werden. Das gibt mir schon sehr zu denken und das nehme ich sehr ernst. Aber ich glaube nicht, dass die Einschätzung richtig und fair gegenüber anderen ist.

Sondern?

Man muss deutlich machen, dass niemand mit Zwang weggesperrt werden soll. Es geht vielmehr darum, auch und gerade für diese Menschen die Gesellschaft und Wirtschaft wieder ans Laufen zu bekommen. Denn das Leben wird gerade auch für sie schwieriger, wenn wir das wirtschaftliche Level nicht mehr halten können. Das muss uns bewusst sein. Unabhängig davon: Selbst-Quarantäne gefährdeter Gruppen sollte aus meiner Sicht nur unter Bedingung von Freiwilligkeit und Zustimmung erfolgen. Und es muss klar sein, dass arbeitende Menschen, die das erwägen, abgesichert bleiben und nicht beruflich abstürzen. Da stellen sich so viele Fragen. Da muss es eine offene Debatte geben, gerade über Ängste und Befürchtungen. Sonst braucht man das gar nicht zu erwägen.

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Das Ifo-Institut hat berechnet: Drei Monate Shutdown könnten Deutschland bis zu 729 Milliarden Euro kosten. Wie können Politik und Gesellschaft das gegen die Risiken abwägen, die Lockerungen für die Gesundheit bedeuten?

Wenn man sich Pressekonferenzen führender Politiker anschaut, hört man dort immer wieder: "Auf der einen Seite steht die Wirtschaft, aber der Gesundheits- und Lebensschutz ist für uns wichtiger." Das ist eine unterkomplexe Alternative. Damit macht man es sich zu leicht. Denn daran, dass das wirtschaftliche System läuft, hängt eben auch ganz viel Gesundheit und ganz viel Leben. Ich rate der Politik eindringlich, die erheblichen gesundheitlichen Folgen der Beschränkungen miteinzubeziehen.

Zum Beispiel?

Wir wissen schon lange, welche schweren Folgen es für die Gesundheit hat, wenn Menschen der wirtschaftliche Boden unter den Füßen wegbricht: Solo-Selbständige, die Privatinsolvenz anmelden müssen, oder Angestellte, die gekündigt werden. Das kann zu Depressionen aber auch anderen schweren Krankheiten führen. Und es gibt ja auch Operationen, die zwar notwendig sind, aber derzeit nicht durchgeführt werden, wie etwa bei Bandscheibenvorfällen. Da kann ein Verschleppen zu schlimmen irreparablen Schäden führen. Es gibt wichtige Vorsorgeuntersuchungen, die nicht stattfinden, oder Alkohol- und Anti-Gewalt-Therapien. Das sind unglaubliche Schäden, die im Lockdown gerade passieren, individuell und gesellschaftlich.

Oft wird in diesen Tagen auch über die dramatische Lage an den Außengrenzen der EU gesprochen, wo viele Migranten festsitzen. Die Corona-Krise ist eine globale Katastrophe. Ist es da ethisch zu rechtfertigen, dass sich Deutschland erst einmal vor allem um Deutschland und weniger um Flüchtlinge in Griechenland kümmert?

Um das fair zu beurteilen, müssen wir die zeitliche Dimension miteinbeziehen. Die Zeit hat eine ethische Qualität. Das heißt: Es ist nachvollziehbar, wenn man sich nach der Überwältigung, die diese Corona-Krise bedeutet hat, erst einmal neu aufstellen muss. Im Bild gesprochen, das allerdings nur auf das Moment der Dringlichkeit zu beziehen ist: Wenn im eigenen Haus der Tisch brennt, dann ist man zunächst damit beschäftigt, den zu löschen, bevor man rausrennt, weil es dort einen Unfall gegeben hat. Das ist eine natürliche Haltung.

Aber?

Wenn man sich einigermaßen wieder gefangen hat, muss man schon schauen, wo es andere Nöte und himmelsschreiende Ungerechtigkeiten gibt. Da drängen sich die Verhältnisse an der griechisch-türkischen Grenze auf. Ich würde mir wünschen, dass wir den Blick bald wieder weiten. Das ist ein Gebot der Humanität. Auch das gehört zur Öffnungsperspektive. Aber wir müssen schauen, dass wir uns beim Maß der Hinwendung nicht überfordern.

Das sind viele Bedingungen für Hilfe.

Es ist keine befriedigende Antwort. Aber das ist der Unterschied zwischen Ethik und Moral. Der Moralist würde sich für das eine oder das andere klar entscheiden. Der Ethiker reflektiert auch die Spannungen zwischen den Positionen und Alternativen genau.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Interview mit Prof. Peter Dabrock
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