Nach vier Jahren Untersuchung 2.200 Seiten Behördenversagen – der NSU-Bericht im Original
Von Thüringen aus gingen die NSU-Terroristen in den Untergrund. Die Behörden waren offenbar weitgehend überfordert. Bei der Aufklärung blockierte schließlich das Innenministerium.
Vier Jahre lang haben die Mitglieder des zweiten Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses Zeugen vernommen, Akten gelesen und dabei nach der Antwort auf eine große Frage gesucht: Haben die Thüringer Sicherheitsbehörden Fehler bei der Suche nach der Neonazi-Terrorzelle um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe gemacht? Die drei wuchsen in Jena auf und gingen von Thüringen aus in den Untergrund.
Der Abschlussbericht des Ausschusses ist nun öffentlich – und geht von weitreichendem Behördenversagen aus, sowohl vor als auch nach dem Auffliegen der Terrorgruppe. t-online.de stellt den mehr als 2.000 Seiten umfassenden Bericht im Original zur Verfügung. Er enthält massive Kritik an Verfassungsschutz, Polizei, Justiz und Innenministerium – und stützt damit den Abschlussbericht des ersten Untersuchungsausschusses im Thüringer Parlament, der 2014 vorgestellt wurde.
Das Original-Dokument
Im Nachrichtendienst mangelte es demnach an Sach- und Fachkompetenz, die Polizei habe unprofessionell ermittelt, die Justiz habe zu wenige Erkenntnisse gehabt, das Innenministerium die Arbeit des Ausschusses behindert. "Es bleibt der Eindruck, dass alles, was wir über das rechte Netzwerk wissen, nur der Spitze eines Eisberges ähnelt", sagte dazu der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Zahlreiche Mitglieder des Ausschusses befürworten weitere Untersuchungsarbeit des Parlaments.
Der Bericht umfasst fünf Eckpunkte, ist aber im Ausschuss selbst im Detail nicht unumstritten. Der Überblick.
1) Polizei: Im Abschlussbericht wird kritisiert, dass die Polizei nicht nur bei der Suche nach dem Terror-Trio, sondern auch unmittelbar nach dem Auffliegen des NSU am 4. November 2011 Fehler gemacht habe. In der Halle eines privaten Abschleppunternehmers sei nur zwei Tage lang sichergestellt gewesen, dass keine unbefugten Personen Zugang zu dem Wohnmobil der Rechtsterroristen hatten. Zudem sei daran zu zweifeln, dass die Polizistin Michèle Kiesewetter ein Zufallsopfer gewesen ist. Es gebe mögliche Tatmotive, denen die Ermittler nicht intensiv nachgegangen seien.
2) Verfassungsschutz: Auch mit der Arbeit des Thüringer Verfassungsschutzes sind die Mitglieder des Ausschusses nicht zufrieden. Zuständigkeitsprobleme und der "Mangel an Sach- und Fachkompetenz bei Teilen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen" habe zu Fehleinschätzungen bei Veranstaltungen, Strukturen und Akteuren der rechten Szene geführt, heißt es in dem Bericht. Eine ehemalige Mitarbeiterin des Amtes hatte vor dem Ausschuss erklärt, sie habe es während ihrer Tätigkeit nicht für möglich gehalten, dass Rechtsextremisten andere Menschen töten würden.
3) Justiz: Auch der Thüringer Justiz werden im Abschlussbericht Fehler vorgeworfen. Bei Richtern und Staatsanwälten seien nur wenige Erkenntnisse dazu vorhanden gewesen, wie sich die rechtsextreme Szene mit der Organisierten Kriminalität überschnitten habe. Dabei habe der Ausschuss festgestellt, dass es sehr wohl Verknüpfungen zwischen Neonazis und etwa Rocker-Gruppierungen gegeben habe. Die CDU-Mitglieder des Ausschusses bestreiten in ihrem Sondervotum allerdings derartige Zusammenhänge.
4) Zusammenarbeit von Behörden: Im Abschlussbericht heißt es weiter, der Informationsaustausch zwischen den Thüringer Sicherheitsbehörden, aber auch zwischen Landes- und Bundesbehörden sei ungenügend gewesen. Es habe bei der Suche nach dem untergetauchten Trio keine umfassende Weitergabe von Informationen des Thüringer Verfassungsschutzes an die Polizei gegeben. Bei der Zusammenarbeit zwischen Polizei und dem Bundeskriminalamt könnten sogar Daten verloren gegangen sein.
- Neonazis: Neue Rechtsterroristen kommen aus dem Schwarm
- Mordfall Lübcke: Was wir über die Ermittlungen wissen
- Meinung: Deutschland droht ein zweiter NSU
5) Innenministerium: Über die schwierige Zusammenarbeit zwischen dem zweiten Untersuchungsausschuss und dem Thüringer Innenministerium beklagen sich die Abgeordneten im Abschlussbericht ausführlich. Das Ministerium habe den Parlamentariern – anders als während der Arbeit des ersten Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses – nicht alle erbetenen Akten zur Verfügungen gestellt. Sogar ein Rechtsstreit stand zeitweilig im Raum. Wichtige Akten der Landespolizei zu von den Beamten geführten Spitzeln seien für die Abgeordneten nicht einsehbar gewesen.
- Nachrichtenagentur dpa
- Abschlussbericht des ersten NSU-Untersuchungsausschusses Thüringen 2014