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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Welche Rolle spielte Seehofer? Nun widerspricht auch die Staatsanwaltschaft Maaßen
Hat der oberste Verfassungsschützer Maaßen auf Anweisung gehandelt, als er Berichte zu Gewalt gegen Ausländer in Chemnitz anzweifelte? In Berlin wittert mancher eine Verschwörung gegen Merkel.
Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen hat Video-Aufnahmen aus Chemnitz in Zweifel gezogen und damit eine heftige Debatte über rassistische Übergriffe dort losgetreten. Recherchen mehrerer Medien legen nahe, dass die Aufnahmen authentisch sind – und davon geht auch die Generalstaatsanwaltschaft Dresden aus, wie "Zeit Online" berichtet. Im Zusammenhang mit der gezeigten Szene liegt eine Anzeige wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung vor, ein Strafverfahren läuft.
Kein Anlass für Zweifel an Echtheit
"Wir haben keine Anhaltspunkte dafür, dass das Video ein Fake sein könnte", sagte Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein dem Nachrichtenportal. Daher werde es auch für die Ermittlungen genutzt. Auch t-online.de hat minutiös aufgeschlüsselt, welche Informationen über die im Video gezeigte Szene verfügbar sind. Fazit des Faktenchecks: Es gibt keinen Anlass, an der Echtheit der Aufnahmen zu zweifeln. Das ZDF sprach sogar mit den mutmaßlich Geschädigten.
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Deswegen stellen sich viele im politischen Berlin nun die Frage, was den obersten Verfassungsschützer der Bundesrepublik bewogen haben könnte, im Interview mit der "Bild"-Zeitung die Echtheit des Videos in Zweifel zu ziehen. Die Bundesregierung, so stellte sich später heraus, hatte der dem Innenministerium unterstellte Beamte nicht über eine angebliche "gezielte Desinformation" informiert. Warum?
Gab Seehofer eine Anweisung an Maaßen?
Eine Antwort auf diese Fragen könnten Recherchen von "Focus Online" andeuten. Die Nachrichten-Seite will aus Sicherheitskreisen erfahren haben, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer seinem Beamten vor dem Interview eine Anweisung gab: Maaßen solle seine vorläufigen Erkenntnisse preisgeben. Über die Einschätzung des BfV-Chefs sei Seehofer vorab informiert gewesen.
Andere Informationen des Berichts sind allerdings erwiesenermaßen falsch. Deswegen scheint fraglich, wie zuverlässig oder gut informiert die Quellen sind. Denn sowohl Polizei als auch Generalstaatsanwaltschaft sind gewaltsame Übergriffe auf Migranten bekannt – es existieren außerdem weitere Video-Aufnahmen von der fraglichen Szene. "Focus Online" behauptet jeweils das Gegenteil unter Berufung auf "die Behörde".
Spekulationen über "Intrige" gegen Merkel
Trotzdem spekulieren im politischen Berlin erste Beobachter und Parteienvertreter über ein mögliches Komplott: Wollten Seehofer und Maaßen über den Umweg der "Bild"-Zeitung auf Konfrontation mit der Kanzlerin gehen? Sowohl Merkel als auch ihr Sprecher Steffen Seibert hatten nach den Ausschreitungen von Chemnitz unter Berufung auf die Aufnahmen von "Hetzjagden" gesprochen. Einen Tag nach dem offenbar lancierten Interview fragte ein "Bild"-Reporter Seibert, "ob er persönliche Konsequenzen ziehen wird".
Seehofers Motiv für eine solche Intrige scheint klar: Schon lange wird von einem Zerwürfnis mit der Kanzlerin berichtet, das vor einigen Wochen sogar in einer handfesten Regierungskrise mündete. Doch welches Motiv hätte Maaßen? Eine mögliche Antwort lieferte die "Welt": Merkel sei im Kreise der Geheimdienste nicht sonderlich beliebt, da sie stets auf Abstand zu den Diensten geblieben sei. Reicht das schon? Oder sympathisiert Maaßen tatsächlich mit der AfD, wie ihm einige nach seinen Treffen mit Funktionären der Rechten unterstellen?
Linke fordert Maaßens Rücktritt
Aus Sicht der meisten Bundestagsparteien hat sich Maaßen mit seiner Einschätzung, für die er bislang keine Belege geliefert hat, zu weit aus dem Fenster gelehnt. Linke und Grüne legten ihm den Rücktritt nahe. Auch aus der CDU kam Kritik. Die SPD will wegen seiner Äußerungen das für die Geheimdienste zuständige Parlamentarische Kontrollgremium anrufen. Außerdem wird sich der Innenausschuss des Bundestages in einer Sondersitzung mit Maaßens Einlassungen befassen.
Grünen-Chef Robert Habeck warf Maaßen politische Einflussnahme zugunsten von Rechtspopulisten vor. "Einen politischen Geheimdienst darf es aber nicht geben. Genauso wenig darf eine Bundesregierung zulassen, dass der Verfassungsschutzchef offen gegen die Bundeskanzlerin intrigiert", sagte er der ARD. Linken-Chefin Katja Kipping sagte, Maaßen sei "in diesem Amt nicht mehr haltbar". Er missbrauche "die Autorität seines Amtes".
- Echtheit bestätigt: Das fragliche Video im Faktencheck
- Verfassungsschutz: Höcke geht von baldiger Diktatur aus
Am Abend versicherte das Bundesamt für Verfassungsschutz, die Prüfung "möglicher 'Hetzjagden' von Rechtsextremisten gegen Migranten" dauere an. Informationen, die die Einschätzung Maaßens untermauern könnten, nannte auch das BfV in seiner Stellungnahme vom Abend nicht. Und Bundesinnenminister Seehofer? Der antwortete in Wiesbaden auf die Frage, ob Maaßen noch sein volles Vertrauen habe mit: "Ja". Sein Informationsstand zu den Vorfällen in Chemnitz sei mit dem von Maaßen identisch.
Am Abend wurde dann allerdings ein weiterer Vorfall bekannt: Bei den rechten Demonstrationen am Montag, 27. August, hätten vermummte Neonazis das jüdische Restaurant "Schalom" in Chemnitz angegriffen, berichtete die "Welt am Sonntag". Der Wirt sei verletzt worden, ein Schaufenster zu Bruch gegangen. Eine Anzeige liege dem Landeskriminalamt vor. Die Rufe der Männer: "Hau ab aus Deutschland, Du Judensau!"
- mit Material von dpa, AFP, Reuters
- Welt: "Attacke von Neonazis auf jüdisches Restaurant in Chemnitz"