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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Europas Rolle in der Nato Ischinger: "Als lebten wir noch im 19. Jahrhundert"
Lässt Donald Trump die Nato platzen? Der Top-Diplomat Wolfgang Ischinger erklärt im Interview, wo der US-Präsident Recht hat und wo Europa dringend nachbessern muss.
Wie enden die Trump-Festspiele in Europa? Heute ist der US-Präsident beim Nato-Gipfel in Brüssel, anschließend trifft er sich mit Russlands Präsident Wladimir Putin. Schon vor dem Gipfel attackiert Trump die Nato-Partner scharf.
Über Trumps Absichten, aber auch die Versäumnisse Europas sprach t-online.de mit dem Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger.
t-online: Herr Ischinger, in dieser Woche sind wieder einmal Trump-Festspiele. Zuerst tritt er bei der Nato-Tagung in Brüssel auf, dann trifft er Wladimir Putin in Helsinki. Lassen Sie uns zunächst über die Nato reden: Was erwarten Sie, was befürchten Sie?
Wolfgang Ischinger: Ich erwarte, was wir seit Jahrzehnten von einem Nato-Gipfel erwarten – ein Zeichen der Geschlossenheit, eine Demonstration der Verteidigungsbereitschaft und des Dialogs, auch gegenüber Russland, trotz der Ereignisse in der Ukraine seit 2014. Befürchten müssen wir aber, dass die Tagung nicht mit einem Bekenntnis zur transatlantischen Gemeinsamkeit endet. Es wäre fast eine Überraschung, wenn der Gipfel ohne Blessuren, ohne Kontroversen ausginge, da ja Präsident Donald Trump die finanzielle Lastenteilung im Bündnis so stark ins Zentrum gerückt hat. Mehr noch als die anderen Nato-Staaten dürfte Deutschland auch in dieser Sache im Fadenkreuz der Angriffe Trumps stehen. Für Angela Merkel könnte das ein unangenehmes Ereignis werden.
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Trump schätzt größere Bündnisse wenig, selbst wenn sie in der Vergangenheit so erfolgreich waren wie die Nato. Für ihn ist sie eine Finanzgemeinschaft, für die er Geld eintreiben will, weil ja jedes Land zwei Prozent seines Bruttosozialproduktes aufbringen sollte. Dafür maßregelt er schriftlich und mündlich.
Wolfgang Ischinger, 72, gehört zu den herausragenden deutschen Diplomaten. Seine Laufbahn begann er als Referent von Hans-Dietrich Genscher. Im Kosovo-Krieg war er Staatssekretär, wechselte kurz vor den Terroranschlägen am 11. September 2001 als Botschafter nach Washington und anschließend nach Großbritannien. Auf Wunsch Angela Merkels übernahm er 2008 die Münchner Sicherheitskonferenz. Daraus machte er eine Großveranstaltung, zu der viele Außen- und Verteidigungsminister und Regierungschefs aus aller Welt anreisen.
Besser noch wäre es natürlich, wenn die europäischen Nato-Länder militärisch besser abgestimmt wären.
Ja, denn wir leisten uns den Luxus von 178 schweren Waffensystemen, verglichen mit 30 auf amerikanischer Seite. So erbringen wir den schlagenden Beweis, dass wir unser Geld außerordentlich ineffizient anlegen. Wir haben immer noch nicht gelernt, dass wir kleine Länder sind, die sich eigene Waffensysteme eigentlich nicht leisten können – Kampfpanzer, Haubitzen, Luft-Luft-Raketen, Fregatten etc. Jedes Land unterhält eigene Truppen, als lebten wir noch im 19. Jahrhundert. Das Motto muss deswegen lauten: Mehr ausgeben, aber intelligent. Künftig mehr Gemeinsamkeit, mehr Zusammenarbeit. Das geht nicht über Nacht, das ist ein Jahrzehnt-Projekt, wenn nicht eine Generationen-Aufgabe.
Das Ziel wäre dann eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft mit einer Armee und gemeinsamen Waffen?
Das Ziel ist eine Europäische Verteidigungsunion, die auch dann handlungsfähig ist, wenn Amerika, aus welchem Grund auch immer, bei einer Aktion nicht dabei sein will. In kleinem Umfang hat die EU schon einen Einsatz am Horn von Afrika und vor der Küste Somalias übernommen, wobei sie die Seeräuberei einzudämmen suchte. Oder denken Sie an die Ausbildungsmission der EU in Mali. Solche Aktionen können und werden vermehrt auf uns zukommen – und sicher auch an Intensität zunehmen.
Sind das Übungen in Selbständigkeit?
Ja, aber sie sollen uns nicht von der Nato wegführen, sondern uns zu einem wertvolleren Bündnispartner machen, der nicht bei jeder Bewegung abhängig ist von der Aufklärung und Information der USA, von der Munition und der Luftbetankung.
Emmanuel Macron hat vorgeschlagen, die EU sollte einen europäischen Finanzminister mit eigenem Budget einführen. Wäre ein europäischer Verteidigungsminister mit eigenem Budget die bessere Lösung?
Es gibt ja den Begriff der europäischen Verteidigungsautonomie, der in manchen Kreisen Freunde findet. Ich bin da eher skeptisch. Das klingt wie ein interessantes Ziel, ich glaube nur, es ist nicht erreichbar, jedenfalls nicht auf mittlere Frist. Das Ziel einer Verteidigungsunion ist richtig, aber dass wir damit auch strategische Autonomie, und das hieße ja auch nuklear, erreichen werden, halte ich für fraglich.
Frankreich hat Atomwaffen, Großbritannien hat Atomwaffen. Wenn man weit denkt, könnten sie zu strategischer Autonomie beitragen.
Da muss man schon sehr weit denken. In der Realität besitzen die USA und Russland zusammen mehr als 90 Prozent aller nuklearen Sprengköpfe. Verglichen damit sind die britischen und französischen Nuklearstreitkräfte auf einem minimalen Stand. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass der französische Präsident mit dem Präsidenten der EU-Kommission oder dem deutschen Bundeskanzler eine nukleare Option teilen will. Nuklear ist Autonomie nicht vorstellbar.
Bei allem, was uns Donald Trump zumutet, ist es gut, dass er uns klar macht: So wie es seit fast 70 Jahren üblich war, wird es mit der Nato nicht weiter gehen. Das wussten wir vorher schon, aber jetzt gibt es keine Ausreden mehr. Trump ist eben auch ein Symptom dafür, dass sich das Hauptinteresse Amerikas vom Atlantik in den Indischen Ozean, von Europa nach Asien verlagert.
In der Tat verstärkt Trump einen Weckruf, den wir schon vor Jahren hätten hören müssen. Wir haben ihn ignoriert, weil wir dachten, wir könnten ihn ignorieren. Jetzt müssen wir einsehen, dass wir kaum in der dritten Generation oder gar darüberhinaus unsere Verteidigungslast im Kern an die USA outsourcen können. Da hat Trump einen Punkt. Wir Europäer haben allen Grund uns zu fragen: Wie können wir unsere Sicherheit gewährleisten? Ohne die USA können wir es auf absehbare Zeit nicht. Deshalb dürfen wir die Nabelschnur mit Amerika auch nicht vorschnell durchtrennen.
Welche Rolle spielt Syrien auf der Nato-Tagung? Wer übernimmt die Verantwortung für die Beendigung dieses Kriegs?
Ich befürchte niemand. Regierungen wie die deutsche haben alles dafür getan, dass Syrien kein Thema in Brüssel wird. Es gibt jetzt Bestrebungen im Bündnis, die Nato-Trainingsaktivitäten im Irak in eine echte Mission umzuwandeln. Gegen eine deutsche Beteiligung aber gibt es Bedenken in Berlin. Das klassische Argument lautet: Wir wollen nicht als Nato in die Region, weil das Anti-Nato-Ressentiments weckt.
Schon seltsam, dass Syrien die Nato nicht beschäftigen darf. Was steckt dahinter?
Sicherheitspolitisch ist Syrien eine Bankrotterklärung der Europäer. Die Wunde im kollektiven Verantwortungsbewusstsein geht meiner Ansicht nach tiefer als in Bosnien in den neunziger Jahren, als wir auch unfähig waren, den Krieg zu beenden. Unser Resümee muss lauten, dass wir seit damals nicht weiter gekommen sind. Seit sieben Jahren dauert der Krieg in Syrien an. Kein Flüchtling hat auf dem Roten Platz in Moskau Einlass begehrt, keiner vor dem Weißen Haus. Sie kommen nach Europa, und trotzdem hat die Europäische Union nicht das Selbstbewusstsein zu sagen: Wir wollen diesen Krieg jetzt beenden. Wir zwingen alle Beteiligten an einen Tisch.
Vor zwei Jahren haben ausgerechnet die USA und Russland nach Wien und Genf eingeladen, um einen Friedensprozess einzuleiten – wie im Kalten Krieg. Warum hat die Europäische Union das nicht schon drei Jahre vorher getan? Ich bin mir sicher, wenn sich die EU einig gewesen wäre, dann wären die Beteiligten schon gekommen. Es ist heute ja so, dass sich die USA weigern, sich mit Iran an einen Tisch zu setzen. Das hätten wir uns nicht bieten lassen sollen. Dass die EU sich um Syrien nicht ausreichend gekümmert hat, wird lange nachwirken.
Vor vier Jahren hat der damalige Bundespräsident Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz mehr Engagement von Deutschland eingefordert. Das Echo war freundlich bis enthusiastisch. In Syrien hätte sich das Engagement beweisen lassen.
Es war damals ja so, dass Barack Obama seine berühmte rote Linie für einen Giftgasangriff gezogen hatte. Dann aber fiel sein Partner Großbritannien für eine Militäraktion aus. Frankreich wäre dazu bereit gewesen. In Berlin wiederum ertönte der laute Ruf: Baschar al-Assad muss weg. Allerdings hatten diejenigen, auch führende Politiker in der Regierung, nicht einmal ansatzweise einen Plan für dieses Ziel. Das war ein unverantwortliches Abblasen von heißer Luft. Das ist das Schlimmste, was man sich in der Außenpolitik leisten kann.
Obama beging den schwerwiegenden Fehler, folgenlos eine rote Linie zu ziehen.
Als er mangels Partner auf militärische Konsequenzen verzichtete, war in Berlin deutlich ein leises Aufseufzen der Erleichterung zu vernehmen. Man war nicht gefragt worden, ob man mitmacht. Man war noch einmal davon gekommen. Man kann sich auch schuldig machen, indem man sich heraushält. Es gibt Schuld durch Handeln und genau so gibt es Schuld durch Nichthandeln.
In Syrien mischen viele mit, die Türkei, Iran, Russland, Saudi-Arabien, gelegentlich Israel. Keiner hat Interesse am Frieden. Was bleibt zurück, wenn irgendwann dann doch einmal der Krieg vorbei ist?
Wir wissen, dass solche Konflikte auf dramatische Weise eskalieren, je länger sie andauern. Es ist falsch zu glauben, dass sie ausbluten. Aus Geplänkel wird Hass. Aus Hass wird Vernichtungswut. Am Schluss kommt es zu genozidartigen Ausschreitungen. Dieses Muster erleben wir in Syrien. Dort wieder Ruhe zu schaffen, wird um ein Vielfaches schwieriger sein als in Bosnien. In Bosnien wird seit 20 Jahren zwar nicht mehr geschossen, aber es ist keine positive Entwicklung eingetreten.
Der Krieg geht nicht in Frieden über, sondern in Nachkrieg und Unfrieden.
Deshalb ist es notwendig, dass Europa lernt, frühzeitig zu handeln, wenn seine Interessen berührt sind, und zwar natürlich zunächst diplomatisch. Abwarten vermindert die Chance auf Erfolg. Ein britischer Premier hat einmal gesagt, die Diplomatie mache um so mehr Freude, wenn sie durch ein paar Regimenter unterfüttert ist. Das ist salopp gesagt, aber wahr. Diplomatie wirkt mit einer militärischen Option überzeugender als ohne. Wer nur für Frieden beten will, kann das gleich den Kirchenfürsten überlassen.
Durch das Nichteingreifen Obamas ist in Syrien eine Vakanz entstanden, die Russland für sich genutzt hat. Russland stützt Assad, weil es dadurch eine Macht am Mittelmeer bleibt. Ist Russland der große Profiteur des Krieges?
Russland hat argumentiert, Assad sei der legitime Herrscher und nur mit seiner Armee sei eine angemessene Bekämpfung des IS möglich. Kurzfristig scheint diese Politik gar nicht erfolglos zu sein. In den letzten beiden Jahren hat sie sich durchgesetzt. Der Westen hatte nichts entgegenzusetzen. Das ist aber nur ein Scheinerfolg, der sich mittel- und langfristig in sein Gegenteil verkehren wird. Wer Assad stützt, schafft ganze Generationen sunnitischer Terroristen. IS wird Nachfolger haben. Deswegen ist es wichtig, dass sich die USA nicht noch mehr aus Syrien verabschieden, sie sind ja eh nur mit halber Kraft dort.
Wenn die Nato tatsächlich Syrien unerwähnt lässt, ist es doch wenig wahrscheinlich, dass Trump einige Tage später in Helsinki mit Putin zusammentrifft, ohne über Syrien zu reden. Was erwarten Sie, was befürchten sie?
Man muss damit rechnen, dass die beiden einen Deal eingehen. Trump würde es natürlich gefallen, wenn er sagen könnte: Wir gehen aus Syrien vollends heraus und Russland sorgt dafür, dass sich die Iraner nicht mehr als 30 Kilometer der israelischen Grenze annähern. Das fände ich ganz verhängnisvoll, weil damit der Westen jede Möglichkeit aufgäbe, Syrien eine andere Regierung zu bescheren als Assad, der seine eigene Bevölkerung seit nunmehr sieben Jahren massakriert.
Herr Ischinger, vielen Dank für das Gespräch.