Schwere Vorwürfe Hat der NDR kritische Berichterstattung verhindert?
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Eine neue Recherche belastet den NDR schwer: Von "politischen Filtern" ist die Rede. Nicht nur die Opposition in Schleswig-Holstein fordert Antworten.
Erst RBB, jetzt NDR: Die öffentlich-rechtlichen Rundfunksender der ARD geraten immer weiter in Bedrängnis. Neueste Recherchen des "Business Insider" legen offen, dass in den vergangenen Monaten neun Angestellte des Landesfunkhauses in Kiel Missstände beim Norddeutschen Rundfunk angeprangert haben. Die Journalistinnen und Journalisten sprechen dem Redaktionsausschuss zufolge von "politischen Filtern" in der Berichterstattung und einem "Klima der Angst in der Redaktion".
Konkret geht es darum, dass die Politikchefin Julia Stein und der Chefredakteur des NDR Landesfunkhauses Schleswig-Holstein Norbert Lorentzen kritische Berichte über Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) verhindert haben sollen. Wurde der Sender politisch beeinflusst? Der NDR weist die Vorwürfe vehement zurück. Die Berichterstattung sei unvoreingenommen und unabhängig, hieß es in einer Stellungnahme. Lesen Sie hier mehr zu den Vorwürfen und der Reaktion des NDR.
SPD fordert schnellstmögliche Aufklärung
Die SPD in Schleswig-Holstein drängt auf schnelle Aufklärung: "Wir nehmen die Vorwürfe sehr ernst", teilte der Landesfraktionsvorsitzende Thomas Losse-Müller auf Anfrage von t-online mit. Als SPD stehe man fest an der Seite des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und seinen Aufgaben. Dazu gehöre die unabhängige und kritische Berichterstattung über die Verantwortungsbereiche des Staates und der Politik.
"Gerade deshalb ist es wichtig, die im Raum stehenden Vorwürfe, die geeignet sind, Zweifel an dieser Unabhängigkeit zu säen, schnellstmöglich, lückenlos und vor allem transparent aufzuarbeiten", forderte Losse-Müller. Die Landesregierung solle transparent machen, welche Kontakte zwischen dem Kabinett mit seinen Staatssekretärinnen und Staatssekretären sowie Mitarbeitenden des NDR mit Leitungsfunktion zwischen April 2020 und Juni 2022 stattgefunden haben. Eine entsprechende Kleine Anfrage, die t-online vorliegt, stellte Losse-Müller am Donnerstagnachmittag an Günthers Regierung. Darin ging es auch um den Inhalt der Gespräche zwischen Landesregierung und NDR-Vertreterinnen und -Vertretern.
"Professioneller Umgang"
Der Regierungssprecher von Ministerpräsident Günther, Peter Höver, teilte t-online mit, dass die Landesregierung und die Landespressekonferenz "einen professionellen Umgang" miteinander pflegten. "Die gilt selbstredend und unterschiedslos auch für Vertreterinnen und Vertreter von Medien, die nicht der Landespressekonferenz Schleswig-Holstein angehören", so Höver. Bei den Vorwürfen gehe es um eine Angelegenheit, die der NDR, gegebenenfalls unter Einbeziehung seiner Gremien, zunächst autonom klären müsse. Die Grünen in Schleswig-Holstein, die zusammen mit der CDU regieren, teilten auf Anfrage von t-online mit, sich derzeit nicht zu den internen Angelegenheiten des NRD zu äußern.
In den sozialen Medien gab es wegen der jüngsten Vorwürfe gegen die NDR-Senderleitung umso mehr Reaktionen. Linken-Politiker Marlon Borchers twitterte etwa am Donnerstagnachmittag: "Der NDR hat ein Problem. Es braucht einen politisch unabhängigen Rundfunk." Der Regierung müsse auf die Finger geschaut werden.
Die Chefin der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, Gitta Connemann, teilte auf Anfrage von t-online mit, dass der RBB kein Einzelfall sei und sprach vom "Tatort ÖRR". "Auch in anderen Führungsetagen wird offenbar getrickst, verschwendet und verschleiert", so die CDU-Politikerin. "Der Missstand scheint Methode zu haben. Und wieder hat die Kontrolle versagt." Die Vorgänge beim NDR müssten jetzt extern durch Unabhängige untersucht werden.
"Hat mit ernst zu nehmender Transparenz nichts zu tun"
Die Enthüllungen sorgen auch in der norddeutschen Medienbranche für Aufsehen. Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) verwies am Donnerstag auf Anfrage von t-online an seinen Regionalverband, den DJV Nord. Dessen Geschäftsführer Stefan Endter sprach von "schwerwiegenden Vorwürfen", die man sehr ernst nehme.
In der kommenden Woche will die Journalisten-Gewerkschaft mit Vertretern ihrer Mitglieder aus dem Kieler NDR-Haus den Fall beraten. Endter kritisierte den Sender: Der NDR habe sich in dieser Woche zu Transparenz, offener Kommunikation und Selbstkritik bekannt. "Man muss feststellen, dass dieses Versprechen hier nicht eingelöst worden ist." Es habe sehr unterschiedliche Erklärungen des NDR zu diesem Vorgang gegeben. Das sei sehr irritierend, so der Geschäftsführer von DJV Nord. "Das Ganze hat mit ernst zu nehmender Transparenz nichts zu tun."
Nächster ARD-Skandal
Mit den Recherchen zum NDR kommen nun die nächsten Ungereimtheiten bei einer ARD-Senderanstalt ans Tageslicht. Immer noch ist der Fall Patricia Schlesinger in den Schlagzeilen – und damit die Frage, wie gut die Kontrollmechanismen beim RBB funktionieren.
In der Affäre geht es um Vetternwirtschaft und Verschwendung von Beitragsgeldern, inzwischen ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf Untreue und Vorteilsannahme. Hier lesen Sie mehr zu den Vorwürfen gegen die ehemalige RBB-Intendantin.
- Anfrage an die Landesregierung Schleswig-Holstein am 25. August 2022
- Anfrage an die SPD Schleswig-Holstein am 25. August 2022
- Anfrage an Grüne Schleswig-Holstein am 25. August 2022
- Telefongespräch mit Stefan Endter vom DJV Nord am 25. August 2022
- Anfrage an Gitta Connemann am 25. August 2022
- Kleine Anfrage von Thomas Losse-Müller an die Landesregierung Schleswig Holstein
- businessinsider.de: "'Politischer Filter', 'Klima der Angst': NDR-Redakteure erheben laut vertraulichem Untersuchungsbericht schwere Vorwürfe gegen Senderleitung"
- ndr.de: "NDR-Stellungnahme zum 'business insider'-Artikel"
- twitter.com: Tweet von @MarlonBorchers