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Zum journalistischen Leitbild von t-online.100-Jähriger vor Gericht Das fatale Desinteresse an den Verbrechen der Nazis
Das Landgericht Neuruppin hat einen ehemaligen KZ-Wachmann wegen Beihilfe zum Mord im Holocaust angeklagt. Josef S. beteuert seine Unschuld, die Rufe nach Gerechtigkeit sind laut.
Ihre Haut hatte eine rosige Farbe angenommen, war übersät von grünen Punkten. Einige hatten sich im Todeskampf die Haare ausgerissen, andere ihre Körper blutig gekratzt. So erzählt es der Staatsanwalt. Tatort: KZ Sachsenhausen. Waffe: das Giftgas Zyklon B. Allein in Europa wurden sechs Millionen Juden im Holocaust getötet, 75 Jahre sind seit dem Ende des Krieges vergangen. Erst jetzt steht der Ex-Wachmann Josef S., 100 Jahre alt, für seine Arbeit in einem Konzentrationslager vor Gericht.
Am 7. Oktober hat das Landgericht Neuruppin in Brandenburg an der Havel den Prozess gegen ihn begonnen. Die Anklage: Beihilfe zum Mord in 3.518 Fällen. Der in wenigen Wochen 101 Jahre alte Mann hält sich in einer Turnhalle, die für den Prozess bereitgestellt worden ist, eine blaue Mappe vor das Gesicht. Fotografen schießen dennoch ihre Bilder. Es sind vielleicht die letzten Aufnahmen in einem Prozess wie diesem.
Ist es noch sinnvoll, diese Menschen vor Gericht zu stellen?
Denn nur wenigen ist ein Leben vergönnt, das so lang ist wie das von Josef S. Er gilt als bislang ältester Angeklagter in einem Prozess wie diesem. Parallel findet derzeit auch ein Prozess gegen die 96-jährige Irmgard F. in Itzehoe statt. Sie arbeitete als Sekretärin im KZ Stutthof. Immer wieder stellt sich die Frage: Ist es überhaupt noch sinnvoll, Menschen heute noch vor Gericht zu stellen? Vor allem, wenn sie ohnehin nicht mehr lange leben?
Leon Schwarzbaum hat lange auf den Prozess gewartet. Die Jahre haben sein Gesicht gezeichnet, wie zum Gebet hält er die knochigen Finger ineinander verschränkt. Er ist Überlebender des KZ Auschwitz sowie des KZ Sachsenhausen und inzwischen 100 Jahre alt. Während des kurzen ersten Verhandlungstages schließt er immer wieder die Augen, lauscht den Ausführungen des Staatsanwalts, als die Anklage gegen Josef S. verlesen wird. Nun ist er Zeuge eines "Verfahrens von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung", wie der Staatsanwalt sagt. Im Laufe des Prozesses soll er noch über seine Erfahrungen sprechen und als Zeuge aussagen.
Wie dumpfe, schmerzende Schläge in sein Gedächtnis
Es scheint, als habe jedes Wort über die Schrecken von damals eine Wirkung auf Schwarzbaum. Als wären es dumpfe, schmerzende Schläge in sein Gedächtnis hinein. Seine ganze Familie ist in Auschwitz getötet worden. Er selbst wurde 1945, nach anderen Stationen, im KZ Sachsenhausen befreit. Er war dort und überlebte, sitzt nun in einem Saal, nur wenige Schritte von dem Mann entfernt, der die Regeln am schlimmsten Ort von Schwarzbaums Leben durchsetzte.
Josef S. war von 1942 bis 1945 im KZ Sachsenhausen als Wachmann im Einsatz. Er und Leon Schwarzbaum sind sich wahrscheinlich begegnet, beide waren Anfang des letzten Kriegsjahres am gleichen Ort. Der Wachmann wird nun angeklagt, weil er Zeuge bei "heimtückischen und grausamen Morden" war, heißt es in der Anklageschrift. S. sei Mitglied im SS-Totenkopf-Wachbataillon gewesen.
Seine Aufgaben bestanden darin, das Lager zu bewachen, Flucht und Revolte der Häftlinge zu verhindern und durchzusetzen, was von der Schutzstaffel (SS) vorgegeben wurde. Die Arbeitszeiten hätten bei sieben Tagen die Woche mit je 10 bis 12 Stunden gelegen. "Während dieser Zeit fanden systematische Tötungen statt", sagt der Staatsanwalt. Der Angeklagte habe durch seine Arbeit als Wachmann diese Tötungen unterstützt.
Josef S. wird mehrmals vom Richter gefragt, ob er auch alles verstehe. Er bejaht, erhält dennoch Kopfhörer. Als der Staatsanwalt vorliest, was ihm vorgeworfen wird, schüttelt er einmal den Kopf.
"Es gab nur sehr selten mal den Fall, dass sich ein Täter bei Hinterbliebenen oder noch lebenden Opfern entschuldigt hat", weiß Hajo Funke. Der 76-Jährige ist Politikwissenschaftler und Experte für Rechtsextremismus und Antisemitismus. Jahrelang lehrte er an der Freien Universität Berlin. Dass erst jetzt, 75 Jahre nach dem Krieg, zwei frühere Angehörige der SS, KZ-Wachmann Josef S. und Irmgard F., die Sekretärin im KZ Stutthof war, in hohem Alter vor Gericht stehen, ist für Funke unentschuldbar. Zu lange dauerten die Ermittlungen, zu wenige Täter sind bislang vor Gericht belangt worden, sagt er.
Wegweisend für folgende Prozesse war Demjanjuk-Urteil
Die Rechtsprechung, nach der auch Mitarbeiter von Konzentrationslagern verfolgt und angeklagt werden, änderte sich erst mit dem Fall um John Demjanjuk. 2009 war er von den USA nach Deutschland überstellt und angeklagt worden. Ihm wurde Beihilfe zum Mord in 28.000 Fällen im Vernichtungslager Sobibor vorgeworfen. Das Gericht klärte damals die Frage, ob der in der Ukraine geborene, damals 22-jährige Soldat, zum Dienst gezwungen worden war. Er war als Kriegsgefangener zum KZ-Wachmann ausgebildet worden. In den 80er Jahren war Demjanjuk bereits von einem israelischen Gericht freigesprochen worden. In Deutschland hatte der Richter an seiner Schuld keinen Zweifel mehr und verurteilte ihn 2011 zu fünf Jahren Haft. Demjanjuk war zu diesem Zeitpunkt 91 Jahre alt. Noch bevor das Urteil rechtskräftig wurde, starb er.
Kennzeichnend für die Mordmaschinerie in den Konzentrationslagern sei ihre arbeitsteilige Organisation gewesen, erklärt Horst Seferens von der Gedenkstätte Sachsenhausen t-online. Jeder SS-Angehörige habe dazu beigetragen, dass sie reibungslos funktioniere. "Von den Tausenden SS-Männern, die im KZ-Sachsenhausen im Einsatz waren, sind bisher lediglich rund 60 für ihre Verbrechen verurteilt worden", so der Pressesprecher. Nicht zuletzt angesichts der jahrzehntelangen Versäumnisse der Justiz bei der Verfolgung von NS-Verbrechen sei man es den Opfern und ihren Nachkommen schuldig, alle Anstrengungen zu unternehmen, um diese Taten aufzuklären und die letzten Tatbeteiligten zur Rechenschaft zu ziehen.
"Für die Öffentlichkeit ist es nach wie vor wichtig, dass die Täter angeklagt werden", sagt Hajo Funke. Die Prozesse würden Debatten anregen, welche Schuld und welche Verantwortung die Täter und Mittäter tragen müssen. In den frühen 50er Jahren seien viele Täter laufen gelassen worden. "Mit Aufarbeitung wollte man damals nichts am Hut haben, in dieser ersten Regierung nach Hitler unter Konrad Adenauer." Es sei eine bewusste Politik des Verschweigens gewesen. Deutschland habe die eigene Verantwortung in der Verfolgung der Täter nicht übernommen.
Eichmann 1961 in Israel zum Tode verurteilt
Das änderte sich auch nicht, als Otto Adolf Eichmann, der für die Organisation der Vernichtung von schätzungsweise sechs Millionen Juden in Europa verantwortlich war, 1961 zum Tode verurteilt wurde. Eichmann war der erste Nationalsozialist, der in Israel nach dem Gesetz zur Bestrafung von Nazis und Nazihelfern angeklagt und verurteilt wurde. Und Deutschland? Tat nichts.
Ab 1963 folgten die Auschwitz-Prozesse, maßgeblich initiiert von dem jüdischen Juristen Fritz Bauer. Vor allem die SS-Lagerführer standen damals vor Gericht. "Ein richtiger Durchbruch war das nicht", erklärt Politikwissenschaftler Hajo Funke t-online. Erst das Urteil gegen NS-Befehlsempfänger John Demjanjuk habe geändert, dass "man den Beteiligten nicht mehr nachweisen musste, dass sie wirklich einen Menschen getötet haben, sondern die Mittäterschaft rückte mehr in den Fokus der Ermittlungsbehörden." Es sei inzwischen völlig auszuschließen, dass die SS-Mitarbeiter nichts von dem Grauen in den Konzentrationslagern gewusst haben können. Niemand könne das behaupten. "Nun geht es um das Mordsystem in Sachsenhausen. Nachdem die Wachmänner einmal eingewöhnt waren, trat ihr Gewissen in den Hintergrund."
Immer wieder habe es Blockaden im deutschen Justizsystem gegeben, die die Aufklärung und mögliche Prozesse erschwerten. "1968 etwa, als den Mitarbeitern des früheren Reichssicherheitshauptamtes der Prozess gemacht werden sollte", erzählt Funke. Damals hatte Eduard Dreher, Mitarbeiter im Justizministerium, ein Gesetz eingebracht, das einen Prozess verhinderte. Ein Skandal. Doch Schuld sei immer individuell zu bewerten. "Je mehr wir uns mit der Geschichte auseinandersetzen, desto besser haben wir die Chance, Gefahren zu wittern", sagt der Holocaust-Experte.
Deutschland hätte Täter schon vor 50 Jahren anklagen sollen
Dieses Ziel verfolgen viele von jenen, die noch heute um die Gerechtigkeit für Millionen Tote kämpfen. Efraim Zuroff ist Direktor des Simon Wiesenthal Centers in Jerusalem und zum Prozess gegen Josef S. nach Brandenburg gekommen. Er ist wütend darüber, dass Deutschland so lange gebraucht hat, überhaupt Täter vor Gericht zu stellen. Tausende Mitarbeiter der SS, die an der Massenvernichtung im Zweiten Weltkrieg beteiligt waren, seien auf freiem Fuß geblieben und nie juristisch verfolgt worden, als es noch die Möglichkeit dazu gab. Inzwischen seien viele gestorben. "Mit Prozessen hätte es Gerechtigkeit gegeben. Hätten die deutschen Behörden eben diese Täter vor Gericht für ihre Taten verantwortlich gemacht und zwar schon vor 50 Jahren", sagt Zuroff t-online.
Die Mitarbeiter des Simon Wiesenthal Centers gelten auch als "Nazi-Jäger". Zuroff selbst machte einen Zeugen ausfindig, der gegen Irmgard F., die angeklagte Sekretärin des KZ Stutthof, in Itzehoe aussagen wird. Fünf Jahre habe es in diesem Fall gedauert, bis es zur Anklage kam. "Damals war sie 91 Jahre alt, heute ist sie 96. Durch solche Verzögerungen schwindet die Hoffnung, dass es noch rechtzeitig zu einem Urteil kommt", so Zuroff.
Im Konzentrationslager Sachsenhausen sind zwischen 1936 und 1945 mehr als 200.000 Menschen inhaftiert worden. Zehntausende Häftlinge sind durch Unterernährung, Krankheiten, Zwangsarbeit, medizinische Versuche und Misshandlungen gestorben oder wurden Opfer von systematischen Vernichtungsaktionen der SS, etwa durch die Gaskammer.
Mit dem Ende des Krieges begann in den Morgenstunden des 21. Aprils 1945 die Räumung des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Zu diesem Zeitpunkt waren mehr als 30.000 Menschen inhaftiert.
Josef S. war wohl bis zum 18. Februar 1945 in Sachsenhausen, heißt es in der Anklage. Am Freitag hat Josef S. gesagt: "Ich habe überhaupt nichts getan, ich bin unschuldig". Die wenigen Überlebenden, die Gerechtigkeitskämpfer auf der ganzen Welt hören genau zu. Sie werden nicht aufgeben, bis der letzte noch lebende Wachmann seinen Prozess erhält. Doch die Zeit wird knapp.
- Prozessauftakt am 7. Oktober 2021 in Brandenburg an der Havel
- Gespräch mit Dr. Efraim Zuroff, Direktor des Standorts Jerusalem des Simon Wiesenthal Centers
- Gespräch mit Hajo Funke, Experte für Nationalsozialismus
- Mail-Austausch mit Horst Seferens, Gedenkstätte Sachsenhausen
- Internetseite der Gedenkstätte Sachsenhausen