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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gefährliche Corona-Leugner Diese radikalen Gruppen sind aus "Querdenken" hervorgegangen
Nach der Tat in einer Tankstelle in Idar-Oberstein ist wieder viel von "Querdenken" die Rede. Doch was genau
Es ist nur ein kurzer Videoausschnitt einer Corona-Demonstration in Australien, geteilt im Kanal des "Demokratischen Widerstands". Aber er sagt vielleicht alles über die Auswüchse der Anti-Corona-Bewegung aus. Zu sehen ist ein Demonstrant, der auf Polizisten losstürmt und drei von ihnen umwirft. "Zum Genießen", heißt es dazu.
Der "Demokratische Widerstand" ist mit allen Protestorganisationen vernetzt, er gibt eine gedruckte "Zeitung" in sechsstelliger Auflage heraus. Er steht beispielhaft für viele Anti-Corona-Gruppen. Gewalt erntet dort Beifall, der Staat ist Feind – oder die, die seine Regeln umsetzen.
Offenbar waren das auch die Gedanken im Kopf eines 49-Jährigen in Idar-Oberstein, als er mutmaßlich abdrückte und dem Kassierer einer Tankstelle in den Kopf schoss. Der 20-Jährige hatte auf die Einhaltung der staatlich verordneten Maskenpflicht bestanden – so zumindest erklärte der Tatverdächtige später sein Motiv. Wie konnte es so weit kommen, was hat das mit "Querdenkern" zu tun? Es stellen sich viele Fragen, t-online gibt Antworten.
Wie ging es mit "Querdenken" los?
Am 18. April 2020 lud Michael Ballweg in Stuttgart zur ersten angemeldeten Demo gegen die Corona-Politik. Ballweg ist Software-Unternehmer, der nach einem Unfall seine Firma verkauft hatte und eine Auszeit machen wollte. Aus gerade mal zwei Dutzend Teilnehmern bei der ersten Demo wurden in den kommenden Wochen immer mehr, auch mithilfe eines Scientologen.
Er nannte die Bewegung "Querdenken", forderte andere auf, auch Gruppen zu gründen – und die entstanden deutschlandweit mit der jeweiligen Vorwahl ohne die Null.* Demokratisch ging es dabei nicht zu: Ballweg setzte missliebige Ansprechpartner ab. An seiner Seite hatte er Anwalt Ralf Ludwig, der bis dato vor allem versucht hatte, Kindergartenplätze gerichtlich zu erstreiten, und dafür auch einen Verein gegründet hatte.
Wer ist "Querdenker"?
Der Begriff ist irreführend, weil er oft für alle jene gebraucht wird, die sich gegen die Corona-Maßnahmen richten oder diese auch nur als Vorwand nehmen. Das verunglimpft zum einen Menschen, die zwar den Sinn der Maßnahmen infrage stellen, Angst vor dem Impfen oder wirtschaftliche Nöte haben, jedoch mit den Verschwörungs- und Opfererzählungen nichts zu tun haben wollen. Zum anderen gibt es eine wachsende Gruppe im "Corona-Widerstand", die "Querdenker" fast verachtet. Sie sehen in ihnen Schwächlinge, die sich von Spendensammlern an der Nase herumführen lassen. "Querdenker" – das sind in dieser Welt die harmlosen Naiven.
Zu den "Querdenkern" zählten ursprünglich viele Menschen, die die Grundrechtseinschränkungen übertrieben fanden, Sorge um die Demokratie hatten und deshalb mit Grundgesetz, Herzchenluftballon und Gleichgesinnten demonstrierten.
Um zu beweisen, dass die Bewegung vermeintlich in der Mitte der Gesellschaft steht, verweisen Anhänger gerne auf eine Studie der Universität Basel**: "21 Prozent wählen Grüne." Das kann auf diejenigen zugetroffen haben, die am Rande von Demonstranten bereit waren, mit der Presse zu sprechen und die auch Wissenschaftlern Antworten gaben. Gefragt hatten die Forscher aber in Gruppen mit 75.000 "Querdenkern" und "Corona-Rebellen" – Antworten erhielten sie jedoch nur von 622 unter ihnen.
Heute zeigt sich, dass in der neuen Initiative oft Menschen nach vorne drängten, die bereits seit Jahren mehr oder weniger erfolglos versucht hatten, Widerstand zu organisieren. Auf manchen Demos standen auf der Bühne fast ausschließlich Redner, die schon lange vor Corona an Impfgegner-Protesten teilgenommen hatten.
Auch aus der "Reichsbürgerszene" und Kleinstparteien sahen Menschen die Chance, Gleichgesinnte zu finden, und stiegen bei "Querdenken" ein. Sie waren zum Teil bereits vor der Pandemie vernetzt und erfahren im Demonstrieren. Ein Mann aus dem Ruhrgebiet meldete deutschlandweit mehr als 50 Demos an. Bei manchen Demos übernahmen Aktivisten aus der "Friedensmahnwachen"-Bewegung.
Was wurde daraus?
"Querdenken" selbst spielt heute öffentlich keine so große Rolle mehr, weil Gründer Ballweg wenig charismatisch und ein schlechter Redner ist. Mit einem heimlich eingefädelten Treffen mit "Reichsbürgern" hat er viele Mitstreiter zudem vor den Kopf gestoßen. Zuletzt erklärte er, sich zurückhalten zu wollen.
Von den einstmals rund 60 lokalen "Querdenken"-Initiativen sind etliche zerfallen. Einigen war "Querdenken" nicht radikal genug. "Für extrem Rechte hatten die Demonstrationen zu viel Festivalcharakter", sagt Josef Holnburger vom gemeinnützigen Thinktank CeMAS, der Verschwörungsideologien und Desinformation analysiert. "Zu viel Singen und Klatschen. Zu wenig Krawall und Umsturz."
Die Teilnehmerzahlen bei den Demos gingen zurück, auch auf ihrem zentralen Kommunikationskanal Telegram stagniert die Reichweite von "Querdenken" seit einem halben Jahr. "Sie ist sogar leicht rückläufig", so Holnburger. Unter der "Querdenken"-Oberfläche ist unterdessen ein unüberschaubares Gewirr von Initiativen und Gruppen entstanden. "Das Netzwerk, das Ballweg angestoßen hat, bleibt", erklärt er. Einzelne Protagonisten haben bis zu 150.000 Abonnenten.
Diese Menschen sagen von sich, sie seien keine "Querdenker" – was insofern stimmt, als sie nicht den originären "Querdenken"-Gruppen angehören.
Bei dem Todesschützen von Idar-Oberstein gibt es bisher keine Erkenntnisse, dass er bei "Querdenken" aktiv war. Das Gedankengut der Szene sei ihm aber sehr vertraut, erklären Ermittler. Seine Postings zeigen, dass er früh Maskengegner war und die Corona-Todeszahlen infrage stellte.
Welche Initiativen sind entstanden?
"Es hat sich eine Prominenz aus Personen herausgebildet, welche sich als unabhängig bezeichnen, aber eigentlich stark vernetzt und auch voneinander abhängig sind", erläutert Holnburger. Organisationen wie "Anwälte für Aufklärung", "Ärzte für Aufklärung" oder "Polizisten für Aufklärung" arbeiten sehr abgestimmt und professionell – erwecken mit Ankündigungen und Nachrichten aber regelmäßig falsche Hoffnungen oder schüren Ängste. Ehemalige Soldaten haben im "Reservisten-Pool" geschlossene regionale Gruppen gegründet.
Daneben gibt es Graswurzel-Gruppen wie "Eltern stehen auf" oder "Freiheitsboten". Auch dort wurde professionell eine Struktur mit Ortsgruppen geschaffen. Den "Freiheitsboten" schlossen sich mehr als 30.000 Menschen an, um Flyer zu verteilen.
Wieso engagieren sich Menschen dort?
Diese Gruppen haben mehrere Effekte: Sie geben den Menschen einerseits das Gefühl, andere überzeugen zu können. Dahinter steckt die Hoffnung, mit mehr "Aufgewachten" auch die Gesamtsituation ändern zu können, vielleicht in hehrer Mission sogar die bedroht geglaubte Demokratie retten zu können – oder Kinder vor "schlimmen" Masken. Kurz: Man glaubt, etwas gegen die eigene Machtlosigkeit zu tun.
Andererseits führten sie dazu, dass sich Maßnahmengegner kennenlernten, persönlich treffen und neue Freunde finden konnten. Das trieb Menschen noch tiefer in Kreise, in denen es keinen Widerspruch gibt. "Die Menschen bestärken sich in den eigenen Positionen weiter gegenseitig und können ein eigenes Bild der Realität zeichnen und aufrechterhalten", sagt Holnburger.
Außerdem könnten konzertierte Aktionen wirklich Erfolge erzielen: Durch Brief- und Anrufaktionen bekommen Politiker oder Behörden den Eindruck, dass die Gruppe der Gegner groß ist und lassen sich davon leiten.
Welche Rolle spielen Opfererzählungen?
Während die Köpfe der Bewegung immer davon redeten, dass "die Politik" und "die Medien" den Menschen absichtlich mit Corona Angst machten, nutzen sie das selbst exzessiv. Erstmals wurde das vielen Menschen bewusst, als "Jana aus Kassel" auf einer Bühne stand und weinend erzählte, sie fühle sich wie Sophie Scholl – die von den Nazis ermordete junge Frau, die Flugblätter gegen Hitler verteilt hatte. Sie erntete Spott und Fassungslosigkeit, mehr nicht.
Aber in der Szene werden dennoch nacheinander Maskenverweigerer und inzwischen Ungeimpfte mit den Opfern des Holocausts gleichgesetzt und Symbole wie Judensterne genutzt. Widerspruch gibt es diesbezüglich intern nicht. Dazu heißt es, Geimpfte würden massenhaft sterben. In der Realität ist trotz regelmäßiger Umsturzaufrufe und Verachtung für staatliche Regeln noch keiner der führenden Köpfe in Haft gelandet.
Im Gegenteil: CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet wirbt in einem aktuellen Spot damit, dass er sich mit dem rechtsextremen Redner Thomas Brauner unterhalten hat. Brauner war erstmals damit aufgefallen, dass er Kinder in einem Schulbus zum Absetzen der Maske aufgefordert hatte. Deswegen läuft ein Verfahren wegen Nötigung gegen ihn, vorbestraft ist er bereits. Bei Demonstrationen behindert er regelmäßig Journalisten.
Wozu führt die Opferrolle?
CeMAS-Experte Josef Holnburger: "Wer glaubt, dass es eine übermächtige Gruppe gibt, die weltweit Böses im Schilde führt und Kontrolle über Medien, Polizei und Wissenschaft hält, ist eher bereit, Mittel der Gewalt als vermeintliche Notwehr gegen diese Übermacht einzusetzen." Das zeigten auch aktuelle Studien. Und nach dem Tötungsdelikt in Idar-Oberstein war von Corona-Leugnern vielfach zu lesen, die Schuld trage ja eigentlich der Staat durch die Einführung der Maskenpflicht.
Die Protagonisten sind überzeugt davon, dass sie das Recht auf Widerstand haben. Anwalt Ralf Ludwig, der einst Kindergartenplätze einklagte und dann Ballweg bei der Genehmigung der ersten Demos half, geht heute unter dem Motto "Zwanzig4" auf Sendung. In der jüngsten Folge sprach er über Pläne für den vergangenen Samstag, die auf eine Revolution hinauslaufen sollten.
"Zwanzig4" bezieht sich auf Artikel 20, Absatz 4 im Grundgesetz, das Recht der Bürger auf Widerstand gegen "jeden, der es unternimmt, diese [verfassungsmäßige] Ordnung zu beseitigen, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist". Unter Juristen ist fast einhelliger Tenor, dass das nicht auf die heutige Situation zutrifft. Doch in der Szene sehen das viele Menschen anders. So demonstrierten etwa vor einer Gebirgsjägerkaserne "Querdenker", damit die Soldaten ihnen helfen. Ihr Vorwurf: Die Polizei schütze die Kinder nicht mehr, die Richter nähmen den Eltern die Kinder weg. Die letzte Instanz sei die Bundeswehr.
Mit solchen Szenarien wird legitimiert, dass Menschen Demonstrationsverbote missachten, Polizeiabsperrungen durchbrechen, vielleicht auch Impfteams angreifen. Deshalb beobachtet der Verfassungsschutz inzwischen führende Köpfe.
Ludwig behauptet dagegen weiter, es würden Menschen beobachtet, weil sie "für Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auf die Straße" gingen. Die Bewegung feierte eine Ankündigung des UN-Folterbeauftragten, einzelne Vorgehen der Polizei gegen Teilnehmer einer nicht genehmigten Demonstration zu untersuchen. Die Polizei geht konsequenter vor, seit die Demos vermehrt verboten wurden.
Welche Gewalt gibt es?
Wo es "Opfer" von "Gewalt" und Unterdrückung gibt, muss es nach der Logik auch "Täter" geben, die dafür verantwortlich sind: Politiker, Wissenschaftler, Ärzte, die sich öffentlich fürs Impfen aussprechen, oder Journalisten, die kritisch berichten, werden bedroht. Als "Todesliste" kursierte eine Aufstellung jener Bundestagsabgeordneten, die im April 2021 nicht gegen die Änderung des Infektionsschutzgesetzes gestimmt hatten. Offenbar kann aber auch ein Kassierer, der auf die Einhaltung der Maskenpflicht pocht, als "Täter" und Teil des Systems wahrgenommen werden – wie beim Angriff in Idar-Oberstein.
Hass auf Institutionen im Zusammenhang mit Corona zeigte sich früh: Im Oktober 2020 warfen mehrere Täter Brandsätze auf das Robert Koch-Institut. Wissenschaftler, denen die Politik vertraut, erscheinen als mächtig, als Teil von "denen da oben" und sind damit Zielscheibe. Inzwischen sind mehrfach Impfbusse und Impfzentren angegriffen worden, in Sachsen stellt sich die Polizei bereits auf besonderen Schutz ein. Eine weitere Gefahr dabei: Es setzt eine "Gewöhnung" ein. Einfache körperliche Gewalt von Impfgegnern ist oft nur noch eine kleine Meldung.
Facebook, für die Bewegung zumindest wichtig, um neue Menschen zu erreichen, reagierte inzwischen: 150 Seiten und Gruppen wurden gesperrt, weil dahinter eine Gruppe zur "koordinierten Schädigung der Gesellschaft" stecke. Auf Telegram geht es aber weiter.
t-online-Redakteur Lars Wienand beobachtet die Szene von Anfang an. Für seine Berichte haben Akteure der Szene gefordert, ihn bei "Nürnberger Prozessen" lebenslang hinter Gitter zu bringen.
*Wir hatten an dieser Stelle zunächst Postleitzahl anstelle von Vorwahl geschrieben.
**Die Studie ist von der Universität Basel, nicht von der uNiversität Bern, wie zunächst geschrieben.
- Eigene Recherchen
- Gespräch mit Josef Holnburger