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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gespaltene Loyalität "Markus Söder ist der populistischste Politiker"
War die Welt früher besser? Nein, aber sie hat sich dramatisch verändert. Nicht nur, aber auch in der Politik. Das sagt Autor Rainer Hank – und erklärt im Gespräch, was daraus folgt.
t-online: Herr Hank, seit mehr als einem Jahr leiden wir unter dem Coronavirus. Zu Beginn der Pandemie gab es eine regelrechte Nostalgiewelle: Früher, vor 20, 30 Jahren, sei alles besser gewesen. Stimmt das überhaupt?
Rainer Hank: Unser Leben war früher keineswegs besser. Da muss man sich nur den Kalten Krieg angucken: Die Welt war in Ost und West gespalten, ein alles zerstörender militärischer Konflikt jederzeit möglich.
Woher kommt dann die Nostalgie?
Dafür gibt es einen einfachen Grund: Die Welt war früher nicht besser, aber deutlich übersichtlicher. Im Kalten Krieg war klar, wer Freund und wer Feind ist.
Heute wirkt es, als träten Krisen in immer kürzeren Abständen ein.
Ich glaube, es wirkt nicht nur so. 2008 begann die Weltfinanzkrise, gefolgt von der Eurokrise seit 2010. 2015 erlebten wir dann die Flüchtlingskrise und …
… schließlich kam 2020 Corona über uns.
Genau. Und die nicht enden wollenden Krisen sorgten immer wieder für Ängste – wenn auch aus verschiedenen Gründen: Einmal fürchteten wir, dass unser Geld nichts mehr wert ist, dann herrschte Sorge vor Überfremdung.
Und während der Corona-Pandemie waren wir um fast alles besorgt: von Gesundheit bis zu den Jobs.
Und dazu kommt noch die Klimakrise, die genauso wenig verschwinden wird wie das Virus.
In der vermeintlich "guten alten Welt" war zumindest die politische Landschaft übersichtlicher: Mit SPD und der CDU/CSU dominierten zwei große Volksparteien, sekundiert von FDP und Grünen. Heute erodieren hingegen die Lager, nicht nur in den sozialen Medien erleben wir Deutungskämpfe, wohin es politisch und gesellschaftlich gehen soll.
Wer rechts und wer links ist, war früher in der Tat relativ einfach zu beantworten. Heute kann man hingegen von einer "neuen Unübersichtlichkeit" sprechen – frei nach dem Philosophen Jürgen Habermas. Die Anpassungsbereitschaft der Menschen wird durch die vielen Krisen und Veränderungen auf die Probe gestellt. Das könnte ein Grund sein, warum sie sich eher einigeln und auf bestimmten politischen Sichtweisen beharren.
Rainer Hank, Jahrgang 1953, ist Publizist und Kolumnist. Von 2001 bis 2018 leitete er die Wirtschafts- und Finanzredaktion der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Hank, der unter anderem mit dem Karl-Hermann-Flach-Preis ausgezeichnete wurde, ist Autor zahlreicher Bücher. Kürzlich erschien "Die Loyalitätsfalle. Warum wir dem Ruf der Horde widerstehen müssen" im Münchner Penguin Verlag.
Bitte führen Sie das näher aus.
Es herrscht die Tendenz, Argumente – egal aus welcher politischen Richtung – nicht mehr grundsätzlich als Argument zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen wird immer öfter jene Position eingenommen und anerkannt, die die Kleingruppe, der Stamm, die Horde, der man selbst angehört oder angehören möchte, gelten lässt. Für den Diskurs in Deutschland ist das sehr gefährlich.
Trägt das alte Schema von rechts und links überhaupt noch?
Eine echte rechte Partei hat es in Deutschland bis zur Gründung der AfD gar nicht gegeben – ohne die NPD und andere rechtsextreme Gruppen verharmlosen zu wollen. Aber zu Ihrer Frage: Die sogenannte Hufeisentheorie, nach der sich die extremistischen Parteien von links und rechts näher sind als die jeweiligen Vertreter der Mitte, würde ich nicht zu schnell über Bord werfen. Die Verhaltensökonomie zeigt sehr deutlich, dass es in vielen Gruppen Konformitäts- und Radikalisierungsmechanismen gibt, die unabhängig von den Inhalten rechter oder linker Ideologie funktionieren. Insofern existiert das Rechts-Links-Schema weiter.
Demnach wäre es egal, ob diese Radikalisierung von rechter oder linker Seite erfolgt?
Richtig. Das neue Freund-Feind-Denken lässt sich besonders gut an einem Beispiel aufzeigen: dem Gegensatz zwischen kosmopolitischen Eliten und dem "Rest der Gesellschaft", einem Konflikt, der sich in den vergangenen Jahren verschärft hat. Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Lebenswelt in abgeschlossenen sozialen Brennpunkten und Milieus von Menschen, die im Internat unterrichtet wurden und nun als Anwälte in internationalen Großkanzleien arbeiten. Diese Gegensätze lassen sich gut populistisch instrumentalisieren.
Man kann Viktor Orbán vieles vorwerfen, aber nicht, dass er undemokratisch gehandelt hätte. Im Gegenteil: Populistische Anführer wie Orbán in Ungarn, Jarosław Kaczyński in Polen oder Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei nutzen ja gerade die Zustimmung des Volkes zum Angriff auf die Eliten. Das müssen wir uns immer wieder klarmachen: Diese Länder sind keine lupenreinen Demokratien, aber sie sind Demokratien. Was in Ungarn passiert ist, war kein Angriff auf das demokratische System an sich, sondern auf die Rechtsstaatlichkeit. Das ist aus meiner Sicht noch viel schlimmer.
Wobei beides Werte für sich sind.
Natürlich, die Vorgänge in den genannten Ländern sind hochproblematisch. Rechtsstaatliche Institutionen sind eben auch ein Korrektiv gegen populistische Demokratien. Deshalb ist es fast noch gefährlicher, wenn sie demoliert werden, als wenn die Demokratie beschädigt wird.
Kommen wir auf das Thema Ihres neuen Buches zu sprechen: Illoyalität. Wie wichtig ist es für eine Gesellschaft, dass einige ihrer Mitglieder den Mut zum illoyalen Verhalten aufbringen?
Illoyalität ist als Tugend überaus bedeutsam. Nehmen wir den Volkswagen-Konzern und den Dieselbetrug. Für das Unternehmen war es nützlich, dass eine Gruppe von Ingenieuren und Technikern illegal die Software ganzer Baureihen manipuliert hat. Das war kein Betriebsunfall, sondern eine Wirkung von Loyalität.
Eine Loyalität, die sich für zahlreiche Autobesitzer und letztlich auch für den VW-Konzern als überaus schädlich erwiesen hat.
Und wie. Deswegen ist es sehr wichtig, die Illoyalität zu stärken. Es gab ja durchaus VW-Mitarbeiter, die zu ihren Vorgesetzten gegangen sind und sich über die Manipulation beklagt haben. Es hat nur nichts geholfen. Daher plädiere ich dafür, Strukturen zu schaffen, in der gute und sinnvolle Illoyalität angstfrei möglich ist und nicht bestraft wird.
Viele Menschen, die Missstände offengelegt haben, mussten dafür bitter büßen. Edward Snowden wäre ein Beispiel.
Absolut. Dass er für sein Handeln einen so hohen Preis bezahlen musste und muss, ist ein großes Problem.
Wenn man so will, war Markus Söder so etwas wie der Whistleblower in der Union, der gesagt hat: "Der Laschet ist nicht der stärkste Kandidat, den es gibt."
Markus Söder ist in Deutschland – wenn man die AfD einmal weglässt – der populistischste Politiker, den wir haben.
Warum?
Weil Söder mehr als jeder andere Stimmungen im Volk empathisch erspürt, aufgreift und auf den Punkt bringt. Im Machtkampf mit Laschet hat er sich außerdem explizit gegen die etablierten Strukturen wie Entscheidungen von gewählten CDU-Gremien gestellt. Dabei hat er mehr als deutlich gemacht, wie sehr die CDU mit dem Problem der gespaltenen Loyalitäten kämpft.
Das müssen Sie genauer erklären.
Die CDU saß in der Falle: Annegret Kramp-Karrenbauer war als Parteichefin und damit Merkel-Nachfolgerin bereits gescheitert. Nun konnte die Partei es sich nicht erlauben, binnen kurzer Zeit den zweiten Vorsitzenden scheitern zu sehen. Sie musste Laschet zum Kanzlerkandidaten machen. Das war die Falle. Söder hat gegen diesen politischen Zwang die populistische Karte gezogen: Um zu gewinnen, brauchen wir Wählerstimmen und nicht nur Stimmen in irgendwelchen Gremien. Das haben viele in der CDU genauso gesehen, aber trotzdem Laschet durchgewunken. Wenn man so will, hat in der Partei die falsche Loyalität gesiegt.
Lohnt sich Illoyalität in der Politik eher als in der Wirtschaft?
In der Wirtschaft ist Illoyalität fast immer Selbstmord.
In der Politik nicht: Angela Merkel ist auch durch Illoyalität gegenüber ihrem Förderer Helmut Kohl zur Parteichefin geworden. Um nur ein Beispiel zu nennen.
Der Machtkampf in der Wirtschaft läuft über Wettbewerb: Wer bessere oder billigere Produkte hat, gewinnt. Das gilt in der Politik so klar nicht. Wie wir bei Söder und Laschet gesehen haben, hat sich eben nicht das populärste Produkt durchgesetzt, sondern die klebrige Loyalität. Wird Laschet Kanzler, ist es der Sieg von Mittelmaß und Bravheit ohne Ecken, Kanten und Profil
Wo wir gerade bei der Union sind: Was bedeutet heute eigentlich noch konservativ?
Der Ökonom Friedrich August von Hayek hat eine wunderbare Definition des Konservativen geschaffen: Bremse am Motor des Fortschritts. Das ist die beste Beschreibung der Merkel-CDU. Wenn die Grünen fordern "Wir müssen mehr Tempo beim Klimaschutz machen", antwortet der Konservative à la Merkel: Stimmt im Prinzip, das geht uns so aber zu schnell. Wir müssen alle mitnehmen.
Armin Laschet fordert aber doch ein Modernisierungsjahrzehnt – und nicht eins mit Bremse.
Das ist bislang lediglich nichtssagende Rhetorik, ohne Substanz.
Das heißt: Die Realität des Regierens wird bei ihm als Bremse dienen?
Es gibt ja noch kein Programm der Union. Aber Laschet sagt bereits: Wir müssen Klimaschutz machen, aber auch auf die Wirtschaft aufpassen. Das ist nichts anderes als das, was Hayek auf den Punkt gebracht hat.
Wenn diese Definition stimmt, ist die SPD aber auch eine konservative Partei.
Eine sehr konservative sogar. Die SPD war im 19. Jahrhundert eine Fortschrittspartei. Und sie war es vielleicht auch noch unter Willy Brandt. Danach ist sie von einer optimistischen Technikpartei zu einer pessimistischen Partei der Technikfolgenabschätzung geworden, wie es der ehemalige Vorsitzende Franz Müntefering ganz treffend gesagt hat. Das ist nichts anderes als konservativ.
Die Grünen klingen in ihrem Programm alles andere als konservativ. Aber wenn man sich anschaut, wie sie regieren, liegt ihnen revolutionäres Handeln ebenfalls völlig fern. Heißt das: Egal, wer den Kanzler stellt, alle werden ähnlich gemäßigt regieren?
Grundsätzlich ja. Das Paradebeispiel grüner Regierungspolitik ist Winfried Kretschmann. Der war vielleicht früher mal ein Revolutionär. Er ist Ministerpräsident geworden und wurde zweimal wiedergewählt – und eben nicht Claudia Roth oder Jürgen Trittin. Das ist kein Zufall. Wahlen gewinnen alle Parteien in der Mitte. Und die ist in Deutschland ziemlich konservativ.
Das klingt jetzt beinahe so, als gäbe es in Deutschland fast nur konservative Parteien.
Interessanterweise gibt es die größte Abgrenzung zwischen den beiden Parteien, die am ehesten als konservativ gelten.
Sie meinen Union und AfD?
Genau. Die AfD behauptet, sich schon allein dadurch von der Union zu unterscheiden, dass sie sich nicht mit irgendeiner Bremsfunktion begnügt, sondern ein eigenes Konzept des Konservatismus will. Und man darf nicht unterschätzen, wie viele Konservative auf der Suche sind. Nicht nur diejenigen, die sich nach mehr Heimat und mehr Nation sehnen. Ich denke auch an jene Liberal-Konservativen, die den Eindruck haben, dass der Sozialstaat immer mächtiger wird und überall reinregiert.
Und trotzdem: Egal, wer von den drei aussichtsreichsten Kandidaten im Herbst Kanzler wird, die große Revolution fällt aus?
Das hängt theoretisch von der Koalition ab. Rot-rot-grün würde etwa in der Steuerpolitik eine Zäsur bei der Umverteilung von Einkommen und Vermögen bedeuten. Allerdings sehe ich im Moment nicht, dass die drei Parteien eine realistische Chance auf eine Mehrheit im Bund haben. Alle anderen Konstellationen würden wohl eher ein "Weiter so" bedeuten.
Schließen wir den Bogen: Die Corona-Pandemie bedeutete einen großen Druck zur Loyalität, weil man sich an die Maßnahmen halten musste ...
... in der ersten Phase der Pandemie hat die Angst überwogen, da haben viele Bürger ihren autoritären Charakter entdeckt, häufig zu ihrem Missvergnügen. Das hat dann aber zum Glück nachgelassen. Die Illoyalität nahm zu.
An wen denken Sie dabei vor allem?
In der Wissenschaft vor allem an die Staatsrechtler. Viele von ihnen haben früh Stellung bezogen und wichtige Begriffe wie Freiheit, Verhältnismäßigkeit und Kosten-Nutzen-Abwägungen in die Debatte eingebracht. Eher hätte ich das von liberalen Ökonomen erwartet. Die haben aber leider in der Krise überwiegend keine bella figura gemacht.
Haben Sie denn Sympathien für Bürger, die sich nicht an die Maßnahmen gehalten haben?
Oh ja, beim gezielten Unterlaufen der staatlichen Übermacht gab es schon auch sehr schöne Illoyalität! Meine Hauptkritik and der Pandemie-Politik ist: Statt unsere Widerstandsfähigkeit zu stärken, indem wir seelisch und körperlich – auf Abstand – in Bewegung bleiben, haben wir die Menschen einfach ruhiggestellt und weggesperrt. Das macht auf Dauer alle krank.
Jetzt klingt Ihr Lob der Dissidenz und der Illoyalität so begeistert, dass wir nachfragen müssen: Haben Sie mitgemacht?
Je schärfer die Regeln, desto größer der Freiheitsdrang. Deshalb gehörte ich auch zu den subversiven Bürgern, die sich dosiert ihre Freiheit genommen haben. Ich möchte aber betonen, dass ich dabei verantwortungsvoll geblieben bin: Ich saß mit dem tüchtigen Friseur, der mir die Haare geschnitten hat, allein in einem riesigen Raum; die Abstandsregeln waren somit okay.
Herr Hank, wir danken für das Gespräch.
- Gespräch mit Rainer Hank per Video