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Holocaust: Franz Michalski hat überlebt – mit der Hilfe "stiller Helden"


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Holocaust-Zeitzeuge berichtet
Das wundersame Überleben des Franz Michalski

Von Madeleine Janssen

25.01.2020Lesedauer: 9 Min.
Franz Michalski: Als Zehnjähriger hielt er seine verzweifelte Mutter davon ab, mit dem kleinen Sohn zusammen Suizid zu begehen. "Das Bild sehe ich bis heute vor mir", sagt Michalski.Vergrößern des Bildes
Franz Michalski: Als Zehnjähriger hielt er seine verzweifelte Mutter davon ab, mit dem kleinen Sohn zusammen Suizid zu begehen. "Das Bild sehe ich bis heute vor mir", sagt Michalski. (Quelle: Michael Hübner)

Franz Michalskis Mutter ist Jüdin, sein Vater Katholik. In Hitler-Deutschland fliehen sie mit den beiden Kindern vor den Nazis. "Stille Helden" wie das Kindermädchen und eine Kollegin sichern das Überleben.

Die Kerzen brennen, der Geburtstagskuchen ist angeschnitten, warmer Kakao steht in den Tassen der Kinder. Dann geht ein Luftzug, die Tür des Dienstmädchenausgangs öffnet sich, und die drei Verschwörer stehlen sich durch die Hintertür davon. Keine Sekunde zu früh, denn an der Vordertür poltert bereits die Gestapo. Die Geburtstagsfeier wird nur zum Schein ausgerichtet, damit die Verfolger nicht sofort Verdacht schöpfen. Jede Minute zählt.

"Runter, runter, runter, pssssssst!" So erinnert sich Franz Michalski 76 Jahre später an den Moment ihrer Flucht aus Breslau. Franz, sein kleiner Bruder Peter und ihre Mutter Lilli hasten zum Bahnhof. Ihre Sinne sind geschärft im Angesicht der Gefahr. Jetzt bloß nicht auffallen! Lilli Michalski hat nur das Nötigste in eine Handtasche und ihren Rucksack gestopft, Fotos, Erinnerungen. Es ist der 17. Oktober 1944, Franz' zehnter Geburtstag und zugleich der Abschied vom alten Leben der Michalskis in der niederschlesischen Metropole. Es beginnt eine monatelange Odyssee durch Tschechien, Österreich, Sachsen und Berlin. Später wird sich Franz Michalski vor allem an ein Gefühl erinnern, das er in jener Zeit verspürt hat: alles gut, solange nur alle zusammen sind.

"Solange wir zusammen sind"

Herr Michalski, haben Sie während der Flucht jemals gedacht: Jetzt kann ich nicht mehr?

Franz Michalski sitzt ein Dreivierteljahrhundert nach Kriegsende in seiner Wohnung in Berlin-Schöneberg. Er lächelt verschmitzt und schüttelt den Kopf.

Nein?

"Nein", erläutert seine Frau Petra. Seit einem Schlaganfall vor zehn Jahren kann Franz Michalski nicht mehr flüssig sprechen, geistig ist er aber vollkommen fit. Seine Partnerin kennt ihn seit 1953. Sie verstehen sich blind. Sie kennt seine ganze Geschichte. "Nein", sagt sie also, "er wusste immer: Ich schaffe das, solange wir als Familie zusammen sind." Außerdem habe Franz Verantwortung für seinen kleinen Bruder empfunden. "Das hat ihn stark gemacht."

Der vierte im Bunde ist Herbert Michalski, der Familienvater. Er ist Anker und Beschützer der Familie, nicht nur, weil er ein durchsetzungsstarker und cleverer Mann ist. Nein, er schützt die Familie im Dritten Reich auch dadurch, dass er Katholik ist. Lilli entstammt der jüdischen Familie Brann. Die Branns wohnen schräg gegenüber von den Michalskis in der Breslauer Hohenzollernstraße, nur einen Steinwurf vom pittoresken Südpark mit seinen alten Bäumen und dem Ententeich entfernt. Herbert und seine älteren Geschwister Lucy, Richard und Frieda wachsen behütet auf. Hedwig Michalski richtet als Köchin große Festessen aus, Franz Michalski arbeitet als Schuhmachermeister. Für beide Familien spielt die Religion keine Rolle dabei, wie man mit seinen Mitmenschen umgeht. Herbert macht etwa seine Ausbildung zum Getreidekaufmann bei der jüdischen Großhandlung Lipschütz & Peiser in Breslau.

Lilli konvertiert – aber es wird sie nicht schützen

Und so lädt Herbert, Jahrgang 1909, die ein Jahr jüngere Lilli von gegenüber irgendwann zu einer Spritztour mit seinem Motorrad ein. Und wieder. Und immer wieder. Lillis Vater Berthold ist ein erfolgreicher Textilkaufmann, aber er ist auch ängstlich und egozentrisch. Er sorgt sich um seine Tochter und ihre ältere Schwester Clara und verbietet die Motorradfahrerei. Doch Herbert bleibt hartnäckig. Später heiraten Lilli und er und ziehen nach Görlitz, wo Herbert eine Handelsvertretung für Kosmetika und Medikamente aufbaut. Franz kommt zur Welt. Da sind die Nazis schon an der Macht. Die 17-jährige Erna Scharf, Tochter eines überzeugten Kommunisten, kommt als Kindermädchen ins Haus. Sie wird bald zur Familie gehören. Lilli hat vor der Hochzeit dem Drängen beider Familien nachgegeben und sich katholisch taufen lassen. Es bedeutet ihr nichts. Und schützen wird es sie auch nicht.

Ihre Ehe mit einem "Arier" dagegen verschafft ihr zunächst ein wenig Freiraum. 1938 zieht sie mit Franz zurück nach Breslau, Herbert arbeitet bei Schwarzkopf in Berlin und kommt nur alle paar Wochenenden nach Hause. 1940 wird Peter geboren. Die Eltern nennen ihn Pittchen. "Wenn Pittchen einmal Peter heißt, ist der ganze Spuk vorbei", sagen sie.

Auch privilegierte Juden, die in einer "Mischehe" leben, werden gedemütigt und beleidigt. Ihre Kinder gelten als "Mischlinge ersten Grades". Franz erinnert sich später, wie seine Mutter versucht hat, in der Fleischerei einzukaufen. Juden dürfen demnach nur kurz vor Ladenschluss kommen und die Reste abgreifen. Und sie werden grundsätzlich als Letzte bedient, auch wenn nach ihnen noch andere Kunden kommen. Nur wenn die Kinder dabei sind, haben die Verkäuferinnen manchmal noch Mitleid. Bald geht Franz deshalb nur noch zusammen mit Peter einkaufen. Als er noch in den katholischen Kindergarten geht, wird Franz von den Nonnen als "Judenbengel" beschimpft. Aber: Jüdische Menschen in einer Mischehe sind länger als "reinrassige Juden" vor der Deportation geschützt. Zumindest eine Zeit lang.

Dabei helfen ihnen unerschrockene Nazigegner. Alfons Thienelt, ein zum Dienst als Polizist verpflichteter Schneider, versteckt die Karteikarte der Michalskis solange weit hinten im Karteikasten, bis nur noch so wenig Juden in Breslau übrig sind, dass er die Karte nicht mehr verbergen kann. Die Gestapo setzt zum Schlag auf die Michalskis an – Thienelt warnt die Familie. Lilli fingiert die gedeckte Kaffeetafel, spart fürs Kuchenbacken Lebensmittelmarken an.

Als Lilli mit den beiden Jungen zum Bahnhof in Breslau eilt, empfängt sie dort Gerda Mez. Die hübsche blonde Frau ist eine Berliner Schwarzkopf-Kollegin von Herbert Michalski. Gerdas Freund ist Jude, er ist nach Danzig geflohen. Gerda hegt einen Groll gegen die Nazis. Gerda Mez, Lilli und die Kinder zwängen sich in den völlig überfüllten Zug Richtung Steiermark. Gerda und Lilli tragen Kopftücher. Wenn Kontrolleure nach den Ausweisen fragen, zeigt erst Gerda ihre Kennkarte und steckt sie dann im Gedränge heimlich Lilli zu. Keinem fällt die Schummelei auf.

Auf dem steirischen Schloss Poppendorf treffen sie Herbert und wohnen mit jugoslawischen Partisanen zusammen. Kälte, Hunger und herumstreifende deutsche Soldaten und Gestapo-Leute: Als sich die Lage zuspitzt, fliehen die vier weiter nach Thiemendorf bei Görlitz. Dort lebt die Familie Erna Scharfs, das geliebte Kindermädchen aus Görlitzer Tagen. Scharfs sind Kommunisten, und obwohl sie sich selbst in große Gefahr begeben, nehmen sie die Kinder auf ihrem Hof auf und geben sie als Ausgebombte aus Breslau aus.

Jetzt ist der Notfall eingetreten

"Das ist ganz wichtig, ganz wichtig", sagt Franz Michalski in seinem Sessel in Berlin, als es um all die "stillen Helden" geht. So nennt er seine Helfer. Er wackelt bedeutsam mit dem Zeigefinger und tippt auf das laminierte Porträtfoto von Gerda Mez. Sie und die Scharfs werden später von Yad Vashem für ihre Hilfe als "Gerechte unter den Völkern" ausgezeichnet – aber erst 2012. Sie haben das nicht mehr erlebt. "Sie sind der Grund", sagt Petra Michalski, "warum wir davon erzählen. Wir wollen sie nachträglich ehren und ihnen danken." Und so erinnern sie immer wieder in Schulen und mit Geschichtsprojekten an die dramatischen Monate im Winter 1945.

Während Franz und Peter bei den Scharfs bleiben, kehren Herbert und Lilli ins österreichische Partisanengebiet zurück. Sie suchen einen neuen Unterschlupf, denn es ist klar: In Thiemendorf sind sie nicht lange sicher. Zehn Wochen lang durchforsten sie das Gebiet, entschlossen, zu überleben. Gelegentlich bekommen sie von Antifaschisten etwas zu essen, finden aber keine Bleibe. Als sie über verschlungene Wege erfahren, dass Franz und Peter aus Thiemendorf weg müssen, greifen sie nach ihrem letzten Strohhalm: Schwarzkopf hat seine Produktion wegen der Bombardements in Berlin teilweise ins Sudetenland verlagert und bietet seinen Mitarbeitern dort Hotelzimmer an. Gerda Mez wohnt in einem solchen. Im äußersten Notfall, hat sie Herbert und Lilli gesagt, dürfen sie dorthin kommen. Sie sind völlig erschöpft. Der Notfall ist jetzt da.

In einer Nacht-und-Nebel-Aktion schlagen sich die beiden zuerst zum Scharf-Hof nach Thiemendorf durch, wollen Franz und Peter mitnehmen in den kleinen Ort Tetschen-Bodenbach (das heutige Děčín, Anm. d. Red.) an der Elbe. Zunächst aber stranden sie zu viert in Dresden. Es ist der 13. Februar 1945. Als ihr Zug in den Bahnhof einrollt, heulen die Sirenen. Fliegeralarm! Die Türen des Zuges öffnen sich, panisch strömen die Menschen in die nächstgelegenen Luftschutzkeller. Herbert, Lilli, Franz und Pittchen sitzen im Bunker vor dem Bahnhof fest. Die Erde bebt. Die Michalskis überleben. Als das Inferno vorbei ist, stellen sie fest: Der Zug nach Tetschen-Bodenbach ist ausgebrannt. In den Straßen liegen Verletzte und Tote, aus Trümmerteilen steigt Rauch empor. Die Reichsbahn müht sich, möglichst viele Menschen schnell aus der Stadt zu bringen – das Glück der Michalskis. So gelangen sie, ohne kontrolliert zu werden, zu Gerda in Tetschen.

Pittchen lacht nicht mehr

Fünf Menschen leben fortan auf unbestimmte Zeit in einem Doppelzimmer im "Hotel zur Post". Die Nerven liegen blank. Gerda und Lilli streiten. Pittchen lacht nicht mehr. Herbert und Lilli melden sich in Tetschen-Bodenbach nicht offiziell an, bekommen also keine Lebensmittelmarken. Wovon sollen sie leben? Herbert spricht Kollegen an, fährt einmal bis nach Prag. Dabei gerät er in eine Passkontrolle und wird ins Gestapo-Gefängnis gebracht. Die Deutschen foltern ihn, doch mit einem besonderen Trick überzeugt Herbert sie von seiner Unschuld.

Seit seiner Jugend ist Herbert Michalski ein Meister darin, fremde Dialekte zu imitieren. Den Gestapo-Leuten macht er nun weis, er stamme aus Wien. Sogar eine Adresse nennt er ihnen. Sein Glück: Einer der Verhörer kennt Straße und Hausnummer. Herbert kommt frei.

In Tetschen wartet Lilli ungeduldig auf Herbert. Er sollte längst zurück sein. Sie macht sich Sorgen. Das schlechte Gewissen nagt an ihr. "Immer wenn er weg war", sagt Petra Michalski über ihre Schwiegermutter, "hat sie sich Vorwürfe gemacht. 'Das ist alles nur meinetwegen', hat sie gesagt, 'weil ich Jüdin bin.'" Herbert ist nicht da, um ihre Selbstzweifel zu zerstreuen, wie er es sonst immer tut. Lilli steigert sich in Hysterie und die Angst, Herbert könnte tot sein. Franz, so überlegt sie, könnte allein zurechtkommen. Draußen führt die Elbe Hochwasser. Das Hotel liegt nahe am Fluss. Auf dem Strom schwimmen die Eisschollen und knirschen laut aneinander. Lilli zieht sich und Pittchen am Abend die Mäntel an und rennt aus dem Zimmer. Franz läuft schreiend hinterher. Er ist zehn Jahre alt und ahnt, was die Mutter vorhat.

An der Ufermauer holt er sie ein. Lilli will mit dem kleinen Sohn in die reißende Elbe springen. Sie rangelt mit Franz, der sie davon abhalten will. Lilli ist größer und stärker als Franz. Als er begreift, dass er nicht gegen sie gewinnen kann, will er wenigstens Peter retten. Er zerrt den Jungen aus Lillis Armen. Lilli gibt auf. Stumm kehren sie ins Hotel zurück.

"Franz hat es seinem Vater versprochen", sagt Petra Michalski. "Er hat ihm versprochen, auf die Familie aufzupassen." Peter habe diese Szene verdrängt, sagt sie. "Peter hat nie etwas darüber gesagt", sagt Franz Michalski. Peter Michalski ist 2018 verstorben.

Wehrmachtsoldaten reißen sich die Uniformen vom Leib

Ihre Zuflucht müssen sie aufgeben, als Gerda ihre Schwester und ihren Neffen im Doppelzimmer aufnimmt. Sieben Leute in einem kleinen Hotelzimmer mit viel zu wenig Essen, es geht nicht mehr. Herbert und Lilli mieten sich in einem Hotel in Herrnskretschen ein, einem anderen Örtchen im tschechischen Elbsandsteingebirge. Nur knapp entgeht Herbert den Nazis, die auf den letzten Metern noch einen "Volkssturm" aus Jung und Alt gegen die vorrückende Rote Armee aufstellen wollen.

Die Schrecken des Krieges verblassen in Herrnskretschen ein wenig, Lilli kommt zur Ruhe. Die Familie wandert durch Wälder und Schluchten der malerischen Umgebung. Der 8. Mai 1945 ist ein sommerlicher Tag. Plötzlich strömen Tausende Deutsche in Lastwagen, Autos und Mopeds in den kleinen Ort. SS- und Wehrmachtsangehörige reißen sich die Uniformen vom Leib, in der Hoffnung, die Rotarmisten so über ihren Status täuschen zu können. So schnell es geht, wollen sie ans andere Ufer der Elbe, nach Sachsen. Die, die schwimmen und nicht auf die kleine Fähre warten, werden von der Strömung davongetragen.

Die nachrückenden Tschechen machen, so erinnert sich Franz Michalski daran, keinen Unterschied zwischen Nazis und verfolgten Deutschen. Viele werden gejagt und erschossen. Innerhalb weniger Wochen werden sie alle ausgewiesen. Herbert und Lilli kehren mit den Kindern zurück nach Berlin – nicht aber ohne einen Umweg über Thiemendorf einzulegen. Familie Scharf hat den Krieg überlebt und die Besetzung durch die Russen auch.

Herr Michalski, wie ist es, weiter im Land der Täter zu leben?

"Lilli und Herbert haben sich einen Freundeskreis der Überlebenden aufgebaut", antwortet Petra Michalski für ihren Mann. Außerdem habe die katholische Familie sowie die Firma Schwarzkopf dabei geholfen, dass beide sich wieder etablieren konnten. Die Erwachsenen knüpfen an das an, was sie kannten. An alte Freundschaften, an alte Geschäftserfolge. Antisemiten, die sie noch von früher kennen, meiden sie.

Für den Jungen Franz ist es schwerer. "Franz hat all die schlimmen Dinge durchgestanden", sagt Petra Michalski. "Dann kommt er mit zwölf auf das angesehene Berliner Canisius-Kolleg." Die Jesuiten hätten ihn gemobbt. Etwa wenn der "Kaufmann von Venedig" besprochen wird, hagelt es hämische antisemitische Seitenhiebe. Seine Eltern glauben ihm nicht. "Das verstehst du falsch", sagen sie. Franz nimmt Tabletten, will sich umbringen. Der Versuch geht schief, die Eltern nehmen ihn von der Schule.

Jahrzehnte danach ist es Franz‘ Enkel Ferdinand, der in Berlin am eigenen Leib erfährt, dass der Antisemitismus fortbesteht. In seiner Schule wird er gepiesackt und gemobbt, immer wieder fallen spitze judenfeindliche Bemerkungen. Seine Großeltern schalten sich ein, stellen den Direktor zur Rede. Der gibt sich ahnungslos. Ferdinand wechselt schließlich die Schule. "Ihr Kinder", sagt Petra Michalski auf ihren Vorträgen, "ihr Kinder, seid nicht so schläfrig, wie eure Großeltern es waren."

Verwendete Quellen
  • Franz Michalski: Als die Gestapo an der Haustür klingelte
  • Persönliches Gespräch in Berlin am 22. Januar 2020
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