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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zwei Experten, zwei Prognosen Was im Jahr 2100 besser als heute sein wird
In den letzten achtzig Jahren hat sich die Weltbevölkerung verdreifacht – und sie wächst weiter. Was bedeutet das für die Zukunft? Zwei Experten blicken für t-online.de auf das Jahr 2100.
Rund 7,7 Milliarden Menschen leben heute auf der Erde. Glaubt man den Prognosen der Vereinten Nationen, könnten es im Jahr 2100 mehr als 11 Milliarden sein. Wie sieht das Leben auf der Erde am Ende des Jahrhunderts aus? Wird es eng – oder kann es auch anders laufen?
Das haben wir zwei Experten aus ganz verschiedenen Feldern gefragt: den Wissenschaftler Wolfgang Lutz und die Praktikerin Renate Bähr. Lutz leitet das "Vienna Institute of Demography" und forscht zu der Frage, wie sich die Weltbevölkerung entwickeln wird. Bähr hingegen ist Geschäftsführerin der "Deutschen Stiftung Weltbevölkerung". Die Entwicklungsorganisation setzt sich dafür ein, das Bevölkerungswachstum einzudämmen.
t-online.de hat beiden Experten dieselben sieben Fragen zum Jahr 2100 gestellt. In den Interviews sprechen Lutz und Bähr darüber, was die Welt erwartet – und weshalb sie trotzdem noch Hoffnung haben.
t-online.de: Heute leben 7,7 Milliarden Menschen auf der Erde. Was schätzen Sie: Wie viele werden es im Jahr 2100 sein?
Lutz: Wenn ich mir unsere plausibelste Prognose anschaue, dann leben im Jahr 2100 ungefähr 9,3 Milliarden Menschen auf der Erde. Der Gipfel wird schon überschritten sein: In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, so um 2070 oder 2075, leben demnach ungefähr 9,7 Milliarden Menschen auf der Erde. Danach sinkt die Zahl.
Bähr: Das ist schwer zu sagen. Die UN gehen heute davon aus, dass die Bevölkerung auf fast 11 Milliarden Menschen anwachsen wird. Ob es vielleicht weniger oder sogar noch mehr Menschen werden, hängt entscheidend davon ab, wie sich die Politik heute verhält. Wenn nicht stärker in Aufklärung, Bildung, Gesundheit und Frauenförderung investiert wird, erreichen wir die 11 Milliarden ganz bestimmt!
Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Lutz: Dazu schauen wir uns die weltweiten Geburts- und Sterberaten an. Dabei sind zwei Faktoren wichtig: das Geschlecht und das Alter der Menschen. Damit rechnen auch die Vereinten Nationen, die regelmäßig Prognosen zur Weltbevölkerung herausgeben. Wir machen bei unseren Berechnungen allerdings etwas anders als die Vereinten Nationen: Wir beziehen Bildung als wichtigen Faktor ein, der diese Raten beeinflusst.
Das sieht man beispielsweise in Afrika. Dort bekommen Analphabetinnen häufig sechs, sieben oder acht Kinder, während Frauen, die die Sekundarschule besucht haben, im Schnitt zwei bis drei Kinder auf die Welt bringen. Da junge Frauen in den meisten Ländern gebildeter sind als die älteren, führt dies tendenziell dazu, dass die Geburtenraten in den Entwicklungsländern sinken.
Bähr: Ich bin keine Demografin, ich bin Praktikerin. Ein Beispiel: Bildung kann dazu führen, dass die Geburten zurückgehen, muss es aber nicht. Denn selbst wenn jemand lesen und schreiben kann und weiß, wie man verhütet, reicht das häufig nicht aus. Etwa wenn Mädchen und Frauen ihr Wissen nicht anwenden können, weil sie in Fragen zur Familienplanung keine Entscheidungsgewalt haben.
Wäre diese prognostizierte Entwicklung eine gute oder eine schlechte Nachricht für die Welt? Was für Auswirkungen hätte sie?
Lutz: Die Zahl alleine ist nicht der entscheidende Faktor. Es geht weniger darum, wie viele Menschen auf der Welt leben. Wichtig ist, wer diese Menschen sind, was sie können, wie sie handeln. Wenn es sich um gebildete Menschen handelt, die sich gegen den Klimawandel wehren können, gibt es weniger Probleme, als wenn die Menschen nicht lesen und schreiben können. Subsistenzbauern sind dem Klimawandel viel stärker ausgeliefert als Industriearbeiter. Auch der Einfluss der Weltbevölkerung auf den Klimawandel muss differenziert betrachtet werden. Denn auch hier gilt: Wichtig ist nicht so sehr, wie viele Menschen auf der Welt leben, sondern wie hoch ihr CO2-Ausstoß ist – der ist momentan bei Europäern und Amerikanern viel höher als bei Afrikanern.
Bähr: Das lässt sich so pauschal nicht beantworten. Ich halte auf alle Fälle nichts von dem Begriff "Überbevölkerung", weil er wenig über die wirkliche Situation von einzelnen Ländern aussagt. Wenn wir uns etwa die Niederlande anschauen, wo mehr als 500 Einwohner pro Quadratkilometer leben, dann wird keiner sagen, dass es den Menschen dort generell schlecht geht. In afrikanischen Ländern ist genug Fläche da – und trotzdem stellt die Schnelligkeit der Bevölkerungszunahme viele dieser Länder vor massive Herausforderungen. Und das hat entsprechend negative Auswirkungen für die dort lebenden Menschen.
Welche Probleme werden die Weltbevölkerung im Jahr 2100 beschäftigen?
Lutz: Ich denke nicht, dass es die Nahrungsmittelversorgung sein wird. Die Folgen des Klimawandels werden da schon kritischer, besonders, wenn sie mit sozialen Problemen gekoppelt sind. Auf der ganzen Welt nimmt soziale Ungleichheit zu – global betrachtet, aber auch innerhalb der Länder. Das wird uns am Ende des Jahrhunderts vermutlich weiter beschäftigen. Für böse Überraschungen könnten auch Infektionskrankheiten sorgen – zum Beispiel falls neue Grippeviren entstehen. Gleichzeitig haben wir bei der Gesundheit das Problem des ungesunden Lebensstils vieler Menschen: Die Weltgesundheitsorganisation hat Fettleibigkeit als die größte Seuche unserer Zeit bezeichnet.
Bähr: Da kann ich nur spekulieren. Ich denke, dass die Ressourcenfrage und die Umweltbelastungen immer bedeutsamer werden. Und wenn die Kluft zwischen Arm und Reich weiter auseinanderdriftet, was ich befürchte, werden auch die ohnehin großen sozialen Spannungen drastisch anwachsen und zu mehr Gewalt führen.
Und welche globalen Schwierigkeiten könnte die Weltbevölkerung hinter sich gelassen haben?
Lutz: Ungeplante Geburten werden hoffentlich Geschichte sein. Ich hoffe auch, dass die Probleme der grundlegenden Nahrungs- und Gesundheitsversorgung weltweit gelöst sein werden.
Bähr: Die Gesundheitssituation könnte sich im Jahr 2100 erheblich verbessert haben. Heute hat etwa die Hälfte Menschen auf dieser Welt Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung. Das könnte sich stark erhöhen. Dazu gibt es bereits großartige Initiativen – zum Beispiel die Impfallianz Gavi oder den Globale Fonds, der gegen Krankheiten wie Aids, Tuberkulose und Malaria kämpft. Doch dazu müssen sich auch Länder wie Deutschland stärker finanziell engagieren.
Können wir heute etwas tun, damit es im Jahr 2100 möglichst gut läuft?
Lutz: Da gibt es natürlich vieles. Aber das, was am tiefsten greift, sind die kognitiven Fähigkeiten von Menschen. Vom ersten Tag an müssen Menschen geistig gefördert werden, auch in ihren sozialen Fähigkeiten. Alles, was zu den Fähigkeiten der Menschen beiträgt, bedeutet bessere Möglichkeiten, uns selbst und anderen zu helfen. Unser eigenes Wohlergehen ist von dem Wohlergehen der anderen abhängig, das müssen wir begreifen.
Bähr: Ja! Wir müssen Frauen stärken, besonders in den sogenannten Entwicklungsländern. Dort kann jede vierte Frau nicht verhüten, obwohl sie das möchte – und das liegt nicht nur daran, dass die Verhütungsmittel fehlen, sondern sehr häufig an den gesellschaftlichen Werten und Normen. In den Ländern mit einer hohen durchschnittlichen Kinderzahl sind es meist die Männer, die wollen, dass ihre Frauen viele Kinder bekommen, nicht die Frauen selbst. Deswegen brauchen wir den Dialog innerhalb dieser Gesellschaften. Damit sich die ärmeren Regionen dieser Welt entwickeln können, muss ein Wertewandel stattfinden – und die Stellung der Frauenrechte muss gestärkt werden.
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Alles in allem: Blicken Sie optimistisch oder pessimistisch auf das Jahr 2100?
Lutz: Ich bin Optimist, das ist klar. Aber das heißt nicht, dass wir jetzt die Hände in den Schoß legen dürfen.
Bähr: Ich bin trotz allem optimistisch. Ich glaube an eine Entwicklung, die ein menschenwürdiges Leben auf dieser Erde für alle auch in Zukunft ermöglicht. Doch dafür müssen jetzt sehr schnell die richtigen Weichen gestellt werden – eine Aufgabe für die Politik, aber auch für jeden von uns.
Vielen Dank für das Gespräch!
- Eigene Recherchen