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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Lea aus Berlin-Lichtenberg Wie es sich für eine 16-Jährige anfühlt, arm zu sein
In Deutschland leben 21 Prozent aller Kinder und Jugendlichen dauerhaft in Armut. Die 16-jährige Lea* ist eine von ihnen.
Lea hat einen Traum: Sie würde gerne mal ans Meer fahren. Egal, wohin genau. Hauptsache Meer. Aber Leas Familie ist arm. Einen gemeinsamen Urlaub hat es noch nie gegeben. Leas Vater ist seit 15 Jahren krankgeschrieben. Eine Behandlung könnte ihm vielleicht helfen, aber dafür reicht das Geld nicht.
Lea ist 16 Jahre alt. Ihr neun Jahre älterer Bruder ist körperlich und geistig eingeschränkt. Früher wurde er ganztägig von der Mutter betreut. Die konnte dadurch nicht arbeiten gehen. Seit er ausgezogen ist, arbeitet Leas Mutter 15 Stunden in der Woche. Die restliche Zeit kümmert sie sich um ihren kranken Mann. Die Familie lebt von staatlichen Mitteln. Damit gehört Lea zu den knapp 2,1 Millionen Minderjährigen, die in einer auf Hartz IV angewiesenen Familie aufwachsen.
In der "Magda" sind alle gleich
Es ist ein dunkler Nachmittag im November. Lea ist in der "Magda", einem Caritas-Jugendklub in Berlin-Lichtenberg. Laut dem Einrichtungsleiter Partric Tavanti ist Leas Armut hier nichts Besonderes: Fast jedes Kind, das den Jugendklub besucht, stammt aus prekären Lebensverhältnissen.
In der "Magda" dröhnt Rap-Musik. Der Beat durchdringt die dünnen Wände und ist in jedem Raum zu hören. Am großen Esstisch hocken ein Dutzend Jugendliche. Um die laute Musik zu übertönen, reden sie schreiend miteinander. Mal Deutsch, mal Arabisch. Daumen rasen über zersprungene Smartphone-Displays. Es duftet immer noch nach dem würzigen Mittagessen, das die Teenager mit ihren Betreuern gekocht haben: Reis mit Gemüse aus dem hauseigenen Garten. Auch Lea hat heute hier gegessen.
Lea steht kurz vor dem Abschluss der Mittelschule. Sie hat knallig rosa lackierte Fingernägel und verbringt am liebsten Zeit mit ihrer besten Freundin. Während die anderen Teenager in der "Magda" beschließen, eine Partie Billard zu spielen, unterhält sich Lea mit Patric Tavanti in seinem Büro. Dort setzt sie sich in einen der grünen Sessel.
Lea ist Jugendkapitänin. Das heißt, sie hilft den Betreuern bei kleinen organisatorischen Aufgaben und darf den anderen Jugendlichen heute die Queues zum Billardspielen herausgeben. Lea ist eine Art Brücke zwischen den Betreuern und den Jugendlichen in der "Magda". Wer Probleme hat, kann erst mal zu Lea kommen.
Diese Aufgabe hat Lea gerne übernommen. Sie ist ohnehin häufig in der "Magda" anzutreffen. Seit zehn Jahren kommt sie drei- bis viermal die Woche hierher, an den Ort, den sie ein zweites Zuhause nennt. Weil die Teenager hier unter sich sind, können sie ihre prekäre Lebenssituation vergessen.
Arm sind sie trotzdem
Dennoch hat Lea ihre Armut zu spüren bekommen. "In der Schule habe ich es oft gemerkt", erzählt sie, während sie an ihren Fingernägeln herumspielt. "Weil meine Eltern viele Ausflüge nicht bezahlen konnten."
In Berlin erhalten Bezieher von Hartz IV, Sozialhilfe, Grundsicherung und ähnlichen Leistungen einen Ausweis, den sogenannten Berlin-Pass. Damit bekommen sie vergünstigten Eintritt, beispielsweise bei Kultureinrichtungen, oder eine Monatsbahnkarte für einen reduzierten Abo-Preis. Der Pass soll trotz Armut Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Für Lea wurde dieser Ausweis jedoch mehr zum Stigma der Armut.
"Wenn die Klasse ins Museum gehen wollte, wurden wir immer gefragt, wer einen Berlin-Pass hat. Dann musste ich nach vorne gehen, an allen Mitschülern vorbei zum Pult und bei den Lehrern den Pass vorzeigen." Während sie von dieser Situation erzählt, beginnt Lea leicht zu zittern und streckt die Hände aus, als halte sie darin den unsichtbaren Berlin-Pass.
Kein Urlaub, kein Shopping
Über dem Schreibtisch in Tavantis Büro hängt ein Bild von der Basilika San Francesco in Assisi, Italien. Der Einrichtungschef der "Magda" pilgert hier jedes Jahr in den Urlaub hin. Lea schaut zum Bild empor. Urlaub und Reisen sind eine Sache, durch die sie ihre eigene Armut spürt. Während viele Klassenkameraden nach den Sommer- oder Weihnachtsferien von ihren Erlebnissen erzählen, ist Lea noch nie mit ihrer Familie verreist. "Ich bin dann immer durch 'Magda' bei Ausflügen in den Ferien mitgekommen," fügt sie schnell hinzu. "Das gleicht das eigentlich gut aus."
Das dritte Merkmal der Armut ist Kleidung. Lea trägt eine Daunenjacke. Ihre Familie achtet darauf, dass sie im Winter wärmende Kleidung anziehen kann. Aber regelmäßiges Einkaufen in Malls oder teure Markenkleidung gibt es bei ihr nicht. "Ich habe ein Mädchen in der Klasse, die geht zwei- bis dreimal in der Woche mit ihrer Mutter shoppen. Richtig viel."
Kleine Träume vom Leben
Aber Lea will nicht jammern und auch kein Mitleid, denn sie würde ihre Familie niemals gegen eine mit mehr Geld tauschen. "Wir halten immer zusammen. Sie unterstütze mich bei allem, was ich mache. Die sind immer für mich da. Ich glaube: Wenn man arm ist, hält die Familie mehr zusammen."
Es sei selbstverständlich, dass man sich umeinander kümmere. Früher habe ihr eingeschränkter Bruder sie gefüttert, heute ist Lea für ihn da. Sie besucht ihn regelmäßig in seiner betreuten WG. In der Behindertenwerkstatt, in der er arbeitet, will sie bald ein Praktikum machen. "Das brauche ich für meine Ausbildung." Im nächsten Herbst will Lea die Schule abschließen und eine Ausbildung zur Sozialassistentin, danach zur Erzieherin machen. "Dann will ich in einem Jugendklub arbeiten."
"Magda" hat Lea geprägt. Durch Ausflüge als Urlaubsersatz, durch Mittagessen, durch Betreuer, die zuhören und ihr vertrauen. Sie seien wie Freunde, die aber auch mal hart durchgreifen könnten. Lea wollte schon seit Jahren ebenfalls Jugendlichen helfen, so wie ihr hier geholfen wurde. Und sich selbst ein gutes Leben aufbauen. "Magda" versucht das zu geben, was bei armutsgefährdeten Kindern verloren geht: Sicherheit.
Armut trimmt auf Leistung
Einrichtungsleiter Patric Tavanti sagt über den Jugendklub: "Hier ist ein sicherer Ort in einer unsicheren Welt." Aber auch, wenn die Jugendlichen in "Magda" einen Zufluchtsort haben, könne man damit nicht alles kompensieren, was durch die Armut der Kinder verloren gehe. "Am meisten macht es mich traurig, dass viele Kinder hier keine Träume haben. Sie werden darauf getrimmt, dass alles, was sie tun, Zweck und Leistung dienen muss."
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Auch Leas Träume beschäftigen sich selten mit großen Wünschen für sich selbst. "In einem Jahr kann ich mit dem Führerschein anfangen", erzählt sie. "Und wenn ich mal etwas mehr Geld habe, fahre ich mit meinem Papa nach München. Er ist Bayern-Fan und will sich unbedingt mal ein Spiel in der Arena anschauen." Und natürlich die Operation bezahlen, damit es dem Vater besser geht.
Auf Lea kann man sich verlassen
Tavanti muss los. "Ich habe noch einen Termin, aber du kannst ja gleich alles hier abschließen", sagt er zu Lea. Er schlüpft in eine Lederjacke, nimmt seine Tasche und verabschiedet sich mit einem Händedruck. "Vielleicht bis morgen", sagt er und sie nickt. Dann sitzt Lea noch eine Weile im Büro, erzählt, wie sie ihre Mutter zur "Magda" mitgenommen hat und diese hier seitdem ein paar Stunden die Woche zum Arbeiten kommt.
Die Kinderarmut hat Lea nicht bitter gemacht, im Gegenteil: Sie hat früh gelernt, Verantwortung für sich und ihre Familie zu übernehmen. Ein besseres Leben will sie nicht für sich allein. "Familie ist das Wichtigste."
Als die Uhr im Büro sieben Uhr anzeigt, steht Lea auf, um noch ein paar Runden Billard mitzuspielen. Vorher besorgt sie sich noch den Schlüssel für Tavanits Büro und schließt ab. So, wie er darum gebeten hat. Denn auf Lea kann man sich verlassen.
*Name von der Redaktion geändert
- DKSB: Kinderarmut deutlich höher als gedacht
- Eigene Recherche