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Was aus dem Ärger um die Essener Tafel geworden ist


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Debatte um Essener Tafel
"Wichtig war, dass Armut und Ausgrenzung sichtbar wurden"


24.12.2018Lesedauer: 8 Min.
Kunden in der Essener Tafel: Weil das Verhältnis von deutschen Bedürftigen und welchen mit Migrationshintergrund nicht mehr stimmte, entschlossen sich die Verantwortlichen für den umstrittenen Schritt.Vergrößern des Bildes
Kunden in der Essener Tafel: Weil das Verhältnis von deutschen Bedürftigen und welchen mit Migrationshintergrund nicht mehr stimmte, entschlossen sich die Verantwortlichen für den umstrittenen Schritt. (Quelle: Thomas Berend)

Im Frühjahr machte die Essener Tafel mit ihrem Aufnahmestopp für Ausländer Schlagzeilen. Doch wie geht es der Einrichtung heute? Ein Ortsbesuch zeigt, es ging um viel mehr als nur bedürftige Migranten.

Jörg Sartor liefert Schlagzeilen. "Wer randaliert kriegt lebenslänglich", diktiert der Chef der Essener Tafel aufmerksamen Journalisten ins Notizbuch. Oder: "Wir wollen, dass auch die deutsche Oma weiter zu uns kommt". Er sagt Dinge wie "Wer meint, wir wären rassistisch, hat sie nicht mehr alle" und "Dafür hätte ich dieses Jahr das Bundesverdienstkreuz verdient".

Jeder Satz wie eine Überschrift. Und dazu wurden sie im Frühjahr dieses Jahres auch. In der "Süddeutschen", bei der Wochenzeitung "Die Zeit", auf t-online.de. Doch für die Schlagzeile, die die Essener Tafel zuvor deutschlandweit bekannt gemacht und ihren Chef ins mediale Kreuzfeuer gebracht hatte, konnte Sartor nichts: "Es war einfach falsch, was da stand."

Was da im Februar in einer Lokalzeitung stand, war eigentlich nichts Neues: Bereits Ende des Jahres 2017 hatte sich der Ehrenamtler Sartor zusammen mit den anderen Verantwortlichen der Essener Tafel etwas ausgedacht. Weil der Ausländeranteil in der Einrichtung immer größer geworden war und vermehrt deutsche Rentner geklagt hatten, sich nicht mehr zur Essensausgabe zu trauen, entschied sich der Vorstand der Tafel für eine drastische Lösung: Ab sofort sollten keine Migranten mehr aufgenommen werden, bis sich das Verhältnis zwischen deutschen Bedürftigen und denen mit Migrationshintergrund wieder die Waage halten würde.

Mit einer Überschrift bricht der Sturm los

Im Februar 2018 wollte die Essener Lokalzeitung eigentlich einen Bericht über Sanktionen bei der Tafel machen, doch die Journalisten stolperten bei ihrer Recherche auf der Homepage der Einrichtung über den monatealten Verweis zum Aufnahmestopp. Und berichtet prompt darüber. Die Überschrift: "Essener Tafel nimmt nur noch Deutsche auf". Das "vorübergehend" fehlte – und der Sturm brach los.

Jörg Sartor sitzt an einem regnerischen Dezembermorgen in seinem Büro im alten Essener Wasserturm, in dem die Hauptausgabestelle der hiesigen Tafel ihren Platz gefunden hat. Vor der Tür verpacken ein gutes Dutzend Ehrenamtliche Gemüse, Obst und etwas Weihnachtsschokolade in die Trolleys der Bedürftigen, die sie hier Kunden nennen. Die stehen seit dem Vormittag Schlange, ab 12 Uhr werden sie in kleinen Grüppchen ins Gebäude gelassen. "So ruhig und so geordnet lief das vor einem Jahr nicht ab", sagt Brigitta Brandenburg, 68, Rentnerin und Stammkundin. Da wurde in der Schlange gerempelt, geglaubt, wer als erstes in den Wasserturm kommt, bekommt auch die besten Stücke. Sie habe sich kaum noch zur Tafel getraut, sagt die Essenerin: Dabei sei sie mit ihrer kleinen Rente doch auf das Angebot angewiesen.

"Vielen Migranten war nicht klar, dass wir keine staatliche Einrichtung sind", sagt Sartor. Das habe dazu geführt, dass sie sich schlecht benommen haben. Sie hätten gedacht: Die müssen uns ja eh was geben. "Immerhin: Krawalle wie in anderen Tafeln im Ruhrgebiet hatten wir hier nicht.

Wer heute seinen Blick über die Wartenden schweifen lässt, kann sich nicht einmal mehr beherzten Ellbogeneinsatz vorstellen. Die Menschen halten ein Schwätzchen, rauchen und lachen, trotz des kalten Winterregens und des stürmischen Windes. Viele Rentner und Rentnerinnen stehen hier, dazu ein paar junge Männer und ausländische Familien mit Kinderwagen. Warum jetzt alles so friedlich ist? Sartor weiß es selbst nicht: "Ich stehe ja nicht draußen und kontrolliere die Leute. Vielleicht ist durch den ganzen Ärger einfach bei allen angekommen, dass wir für unsere Arbeit hier kein Geld bekommen."

Nach der fatalen Überschrift der Lokalzeitung dauerte es nicht lang und die Medienhysterie nahm ihren Lauf. "Am nächsten Tag standen acht Übertragungswagen hier" erinnert sich Sartor. Sein Handy steht in dieser Zeit nicht mehr still. Journalisten aus ganz Deutschland wollen wissen, was es mit den Ausländerproblemen auf sich hat. Warum die Tafel so rigoros zwischen Migranten und Deutschen unterschiedet. Ob der Leiter ein Rassist sei? Verstehen konnte Sartor das alles nicht – kann er heute noch nicht. Doch er ist sich sicher: Die Debatte hatte einen wunden Punkt getroffen. Jetzt sagt er: "Es ging ja relativ schnell nicht mehr um die Essener Tafel. Es ging um soziale Probleme. Verlustängste. Darum, Gehör zu finden." Und weil Ausländer dabei eine Rolle spielten, war die Empörung groß.

Auch die Kanzlerin mischt sich ein

Politiker schimpften gegen die Tafel, eine Flüchtlingspartei erstattete Anzeige gegen Sartor. Auch Berlin mischte mit: Erst kritisierte Katharina Barley, damals noch Sozialministerin, die Entscheidung von Sartor, schließlich ließ sich auch Kanzlerin Angela Merkel zitieren: Es sei nicht gut, was die Tafel da mache.


Kritik, die Sartor die ganze Zeit über kalt lässt, wie er sagt: "Es hat mir kaum einer geglaubt, aber mir war das alles egal. Freunde sagten zu mir: Jetzt hast du ja ziemlich auf die Fresse bekommen. Doch auch denen hab ich gesagt: Mir doch egal." Nur einmal sei ihm mulmig zumute gewesen. Als er wenige Tage später einen zugeklebten Brief öffnete und weißes Pulver aus seinen Schoß rieselte. Ein Anschlag? Die Polizei war mit einem Großaufgebot vor Ort. Spezialkräfte, Kampfmittelräumdienst – doch am Ende war es nur ein dummer Scherz. "Da überlegt man sich dann schon, warum man das hier eigentlich macht."

Nicht nur die hohe Politik fiel in den ersten Tagen über Sartor her, auch Weggefährten ließen kein gutes Haar an ihm: Leiter von anderen Tafeln schimpfen über Sartor, sogar welche, die Tage zuvor noch voll des Lobes über die Aufnahmestopp-Idee waren. Vom Dachverband der Tafeln bekommt er zunächst kaum Unterstützung, wie er sagt. Dabei haben doch andere Einrichtungen ähnliche Vorkehrungen wegen Migranten getroffen. "Dorftafel", wie Sartor sie etwas herabwürdigend nennt, präsentieren Vorschläge, wie Essen eigentlich hätte reagieren müssen. "Doch das hatten wir ja vor dem Aufnahmestopp schon alles ausprobiert", wütet Sartor: "Die haben dann vorgeschlagen, wir könnten ja Sicherheitskräfte vor die Tür stellen oder Dolmetscher anstellen: Doch was hat das denn dann noch mit Integration zu tun? Dann lasse ich die Tafel lieber ganz zu."

"Jeder Kindergarten hat eine Quotenregelung"

Sartor sieht auch heute noch keinen Fehler in seinem Aufnahmestopp. Er sagt: "Jeder katholische Kindergarten hat doch eine Quotenregelung." Und an Berlin gerichtet: "Frau Barley fordert eine Frauenquote, beschwert sich aber über uns. Das passt doch nicht zusammen!" Sartor hat Wut im Bauch: Einige werden noch ihr Fett wegbekommen, lässt er anklingen. Er überlegt ein Buch zu schreiben.

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Auch Jochen Brühl muss seit dem Frühjahr mehr Interviews geben als sonst. Er ist Vorsitzender der Tafeln in Deutschland und sagt zum ganzen Trubel: "In Essen brach sich die gesamtgesellschaftliche Überforderung Bahn. Über 940 Tafeln in Deutschland sind seit Jahren an ihren Belastungsgrenzen. Daran hat sich seit der Krise in Essen nichts geändert. Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort leisten Großartiges. Aber sie dürfen nicht länger überstrapaziert werden."

Nicht nur in Essen, sondern überall klagen die Tafeln über zu viele Kunden, zu viel Armut. Und einen Staat, der zu wenig macht. Das führt zu Problemen – und Lösungen, die nicht allen passen. Der Aufnahmestopp in Essen sei nicht einmal eine Besonderheit gewesen. Brühl: "Es gab und gibt immer wieder Aufnahmestopps bei Tafeln. Die Nachfrage übersteigt das Machbare. Generell ist auch nichts auszusetzen. Wichtig ist, dass Herkunft keine Rolle dabei spielen darf und immer auch andere Möglichkeiten geprüft werden. Tafeln können längst nicht allen Menschen helfen."

Doch in Essen spielte die Herkunft ja eine Rolle, zumindest vorübergehend. Sartor ist für einige jetzt der Unmensch, der Rassist, der Typ, der arme Deutsche und armen Migranten gegeneinander ausspielt und die Menschen in die Arme der AfD treibt.

Wer mit ihm, Mitte 60, gelernter Bergmann, spricht, merkt, da ist jemand, der Gefallen daran gefunden hat, gefragt zu werden. Er hat was gegen Herumtreiber, gegen Störenfriede, und wenn das Gepolter nunmal von einem Migranten ausgeht, sagt er eben – typisch Ruhrgebiet, typisch Arbeiter – "der Ausländer war’s". Er beschönigt nichts. Und weil es im Frühjahr nunmal um Migranten ging, nennt er sein Problem auch so.

Das ist nicht differenziert, falsch ist es aber auch nicht. In der heutigen Zeit kann das schnell zu einem Shitstorm führen. Doch Sartor glaubt so reden zu müssen, will er die Probleme in seinem Tafel-Mikrokosmos lösen. Weil er sich dazu ziemlich gekonnt durchs Haifischbecken der medialen Öffentlichkeit bewegt, sind ihm die Schlagzeilen in den folgenden Wochen sicher.

Und nach ein paar Tagen dreht sich der Wind in der Debatte. Plötzlich bekommt Sartor immer mehr Zuspruch. Aus der Politik, aber auch vom einfachen Bürger: "Ich habe in der Zeit über 5.000 E-Mails bekommen. Am Ende waren über 95 Prozent davon positiv". Von seinem Schreibtischregal holt er einen dicken Leitz-Ordner. Darin: fein säuberlich und in Klarsichtfolie verpackte Briefe aus der Zeit. Sartor blättert während die Briefköpfe immer schnörkeliger und die Ehrentitel darauf immer länger werden: ein Botschafter a.D., ein Verfassungsrichter a.D., ein Finanzminister a.D. und ein Kanzlerkandidat der SPD.

Doch Sartor will gar nicht die Post von den Steinbrücks und Konsorten zeigen, sondern hält bei einem Schreiben inne, der ohne Briefkopf und in krakeliger Handschrift daher kommt: Sartor habe Rückgrat bewiesen, wie sonst niemand steht da. Und Charakter gezeigt. „Dieses Schreiben hat mich am meisten gerührt“, sagt Sartor.

Spenden an die Tafel vervielfältigen sich

Die Tafel bekommt in dieser Zeit nicht nur Briefe, sondern auch Geld: Immer mehr Spenden gehen ein, in den zwei Wochen nach der Diskussion fast so viel wie sonst in einem halben Jahr. Sartor: "Alle haben von dem Medienecho profitiert."

Brühl sieht das ähnlich, ergänzt aber: "Ein ehrlicher Umgang mit Armut und Ausgrenzung und das politische Eingeständnis, dass Deutschland ein massives Armutsproblem hat, sind langfristig viel wichtiger als eine kurzfristige Erhöhung von Spenden. Wichtig war, dass die Debatte die Armut und Ausgrenzung in Deutschland sichtbar gemacht hat."

Es ist noch nicht Sommer, da ist der Aufnahmestopp in Essen schon wieder vorbei. Auch das ist einigen Medien noch eine Meldung wert. Die Essener Tafel bevorzugt nach wie vor Rentner, Alleinerziehende und Familien mit kleinen Kindern - und damit mehr Einheimische als Menschen mit Mirgationshintergrund, aber das gewünschten Ziel ist erreicht. Sartor "Wir haben jetzt ein Verhältnis von circa 50 zu 50 zwischen Ausländern und Deutschen. Also genau das, was sich auch bei den rund 100.000 Bedürftigen in Essen widerspiegelt."

Im Büro von Jörg Sartor landet schon länger keine gefährliche Post mehr. Eine Schampusflasche steht auf dem Schreibtisch – ein Geschenk eines regelmäßigen Unterstützers der Einrichtung. "Der hat mir die gegeben und meinte nur: Danke, dass du weiter machst."

Und so macht Sartor weiter: Jetzt wieder ganz ohne die tägliche Medienöffentlichkeit. Draußen vor der Tür ist die Schlange immer noch genauso lang wie am Vormittag. Es wird immer noch geschwatzt, gelacht und geraucht. Nirgendwo ein Ellbogeneinsatz. Trotzdem: ein trauriges Bild.

Und ein Zustand, an den man sich wohl gewöhnen müssen wird. Brühl malt eine dunkle Zukunft: "Was, wenn ab 2032 die Babyboomer in Rente gehen? Ich sehe die Schlangen alter Menschen bei den Tafeln schon buchstäblich vor mir."

"Es gibt tausende Sartors in Deutschland"

Sartor denkt da kurzfristiger, ist froh das er für sein Problem eine Lösung gefunden hat. Und stolz, dass er nicht eingeknickt ist unter der anfänglichen Last der Öffentlichkeit. Das ist sein persönlicher Erfolg. Was er sich jetzt noch wünschen würde, nach dem turbulenten Jahr? Eigentlich nur eins: "Es wäre schön, wenn die Politik nicht immer nur Verbandsfuzzis zu Krisentreffen einladen würde. Denn was wissen die schon von den echten Zuständen vor Ort?" Gehört werden sollten stattdessen die Menschen, die täglich mit den Problemen kämpfen und um pragmatische Lösungen ringen müssen, sagt Sartor. Menschen wie er. Denn: "Es gibt tausende Sartors in Deutschland."

Noch so ein Satz wie eine Überschrift. Vielleicht eine für sein zukünftiges Buch.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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