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Zum journalistischen Leitbild von t-online.50.000 Leute hatten unterschrieben So kontert die Bundesregierung die "Grenzen dicht"-Petition
Scharfe Kritiker der Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Merkel prallen eine Stunde lang im Petitionsausschuss des Bundestags auf Regierung und Abgeordnete: t-online.de fasst in elf Punkten zusammen, wo die Regierung sich verteidigt und wo sie Fehler einräumt.
Im Petitionsausschuss des Bundestags ist öffentlich das Anliegen einer Gruppe von scharfen Kritikern der Migrationspolitik besprochen worden. Mit dem Manifest "Erklärung 2018" hatten sie gefordert, die nach ihrer Ansicht aufgegebene "Rechtmäßigkeit an den deutschen Grenzen wieder herzustellen". Mehr als 50.000 Menschen hatten eine Petition dazu unterschrieben. Die frühere Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld und Publizist Henryk Broder durften deshalb am Montag der Regierung und Abgeordneten erklären, wie sie zur unkontrollierte Einreise stehen.
Die Petition
57.512 Menschen hatten auf der Plattform des Bundestags die "Petition 79822" mitunterzeichnet, die die "sofortige Abkehr von dem bisherigen Zustand des unkontrollierten, ungesteuerten Zustroms nach Deutschland" fordert. Hervorgegangen war sie aus der "Erklärung 2018" mit mehr als 165.000 Unterzeichnern, die aber nicht den Kriterien einer Petition entsprochen hatte. Zu den Initiatoren und Köpfen zählten etwa die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, der Publizist Henryk Broder, Thilo Sarrazin oder auch Michael Klonokovsky, Referent des AfD-Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland.
Dabei konnten Broder und Lengsfeld allerdings nicht sagen, wie illegale Einwanderung verhindert werden soll, ohne eine Mauer ums Land zu ziehen. Aber auch die Regierung blieb manche Antwort schuldig. t-online.de hat elf zentrale Punkte zusammengetragen, über die in dem Streit die Meinungen auseinander gehen.
1 – Die "Grenzöffnung": Es gibt illegale Grenzübertritte, das bestritt Günter Krings (CDU) gar nicht, der als parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium für die Regierung sprach. Das sei aber nicht neu: "Wir haben einen Schengen-Raum, geltendes europäisches Recht, das für nationales Recht bindend ist. Die Grenzen waren schon vorher offen, da kommt es zwangsläufig zu illegalen Grenzübertritten."
Immer wieder drehte sich die Debatte um eine Anweisung von Thomas de Maiziere. Der hatte die Bundespolizei am 4. September 2015 in seiner Zeit als Innenminister mündlich angewiesen, "Drittstaatsangehörigen ohne aufenthaltslegitimierende Dokumente und mit Vorbringen eines Asylbegehrens die Einreise zu gestatten". Es war die Entscheidung, die Grenzen nicht zu schließen. Krings räumte angesichts von mehr als 1,5 Millionen Menschen ein, die danach ins Land gekommen sind: "Das war von der Quantität eine nicht akzeptable Größenordnung." Ein Rechtsbruch sei es aber nicht gewesen, sondern eine humanitäre politische Entscheidung. Krings wollte aber auch auf mehrfache Nachfrage nicht sagen, ob und wann die Minister-Anweisung zurückgenommen wird.
Der Ausschuss
Nach Erreichens der erforderlichen 50.000 Unterschriften hatten die Initiatoren der Petition Anspruch auf die öffentliche Sitzung im Ausschuss. Dort gab es nach der Eingangserklärung Fragen der Abgeordneten an die Petentin und an die Bundesregierung, mit jeweils einer Minute Zeit für diese Antworten. Lengsfeld galt als Petentin. Broder als Beistand übernahm aber das Antworten, wenn es schwierig wurde. Für die Bundesregierung antwortete meist Günter Krings (CDU), Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium von Horst Seehofer.
2 – Der demokratische Prozess: AfD-Sprecher Martin Hebner unterstellte undemokratisches Vorgehen bei dieser Anweisung: Das Parlament sei nicht einbezogen worden. Krings handelte die Kritik schnell ab, las einfach einen AfD-Antrag vom März 2018 zum Thema vor, der mit großer Mehrheit abgelehnt wurde: "Der Bundestag hat sich klar geäußert – nur eben nicht in ihrem Sinn."
3 – Der Stopp illegaler Einwanderung: Wie soll es gehen, das im Europa der offenen Grenzen niemand mehr illegal ins Land kommt, wurden Broder und Lengsfeld mehrfach gefragt. CSU-Abgeordneter Paul Lehrieder sprach von mehr Kontrollen und zusätzlichen Grenzpolizisten in Bayern, hielt Lengsfeld und Broder aber auch vor: "Wollen sie eine undurchdringliche Mauer bauen, wie es sie schon mal zwischen Ost- und Westdeutschland gab? Wie wollen Sie mit Menschen ohne Ausweispapiere umgehen?"
Broder machte es sich leicht, er zitierte einen Satz von Satiriker Karl Kraus: "Ich bin kein Huhn, aber ich weiß, wann ein Ei faul ist." Broder hatte auch kritisiert, es werde diskutiert, wie sich weitere Unfälle dieser Art – gemeint war der große Zustrom von Menschen – verhindern ließen. Dabei sei das Kind schon in den Brunnen gefallen.
Linke beteiligten sich nicht
Eine Fraktion beteiligte sich an der Debatte erst gar nicht: 2015 sind die Grenzen gar nicht geöffnet worden, begann Kerstin Kassner, die für die Linksfraktion im Petitionsausschuss sitzt. Weil es keinen überprüfbaren Gegenstand gebe, sei der Vorstoß auch keine Petition.
Lengsfeld erklärte, sie wolle, "dass die Bundespolizei wieder ihren Job machen darf, wie sie das vor September 2015 gemacht hat und wie sie es bei einem G20-Gipfel oder ähnlichen Anlässen tut." Das würde allerdings intensive Kontrollen an den Grenzen bedeuten, die es schon lange vor dem September 2015 aufgrund des Schengen-Abkommens nicht mehr gab.
4 – Die Sicherheit: Von 500.000 untergetauchten Migranten in Deutschland sprach AfD-Abgeordneter Martin Hebner, FDP-Parlamentarierer Manfred Todtenhausen fragte die Regierung nach einem Zusammenhang von unkontrollierter Zuwanderung und mehr Gewaltkriminalität. Krings bestritt die Zahl von 500.000: "Ich halte sie von der Größenordnung her für sehr unrealistisch. Wir können aber nicht seriös die Zahl der Untergetauchten berechnen, das ist ja das Wesen von Untertauchen." Mit Ankerzentren und Instrumenten wie Flüchtlingsausweis und Kerndatensystem sei man aber insgesamt "sehr, sehr viel weitergekommen, wir haben viele Lücken geschlossen".
Die Kriminalität insgesamt sei zurückgegangen, sagte er mit Verweis auf die Kriminalstatistik. "Es gibt aber in der Tat Deliktgruppen, wo es Anstiege gegeben hat. Da muss man genau schauen, auf was das zurückzuführen ist. Ich kann nicht ausschließen, dass das die von Ihnen angedeuteten Ursachen hat."
5 – Die Überstellung in sichere Drittländer: Menschen kommen aus sicheren Ländern nach Deutschland, hätten also vorher Asyl suchen können. Aber, so Krings: "Wenn sie das Dublin-Abkommen geltend machen [also an die zuständigen Länder verweisen] wollen, reicht es nicht zu sagen, jemand muss irgendwo anders hergekommen sein." Das lasse sich mit gesundem Menschenverstand annehmen. "Sie müssen aber nachweisen, welche Route er genommen hat." Wieder sollen die Ankerzentren Teil der Lösung sein, um schnell die Identität und möglichst auch den Fluchtweg zu klären und die Zuständigkeit gemäß Dublin-Abkommen zu ermitteln.
Bislang ist dafür formal ein halbes Jahr Zeit. Nach verstrichener Frist ist Deutschland automatisch zuständig. Krings setzt Hoffnung in eine mögliche europäische Aufweichung der Frist. "Wir hätten eine viel höhere Erfolgsquote vorzuweisen bei den Rücküberstellungen."
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Die auf Hoffnungen beruhenden Details zu weiteren Plänen überließ der Staatssekretär dem Leiter des Stabes "Rückkehr" im Innenministerium, Christian Klos. Klos sprach vom Verhandlungspaket zur Reform der sogenannten Dublin-III-Verordnung mit Asylgründen, Asylverfahrensfragen, Asylagentur, Fingerabdruckdatei Eurodac und Aufnahmebedingungen für Asylbewerber. "Wir hoffen, das zum Ende der nächsten Ratspräsidentschaft ein Paket geschnürt werden kann." Das wäre bis Mitte 2019. "Das steht und fällt aber natürlich bei der Frage der Solidarität der Verteilung von Schutzsuchenden."
6 – Der Schutz der Außengrenzen: FDP-Abgeordneter Gerald Ulrich verteidigte Freizügigkeit und offene Grenzen als "existenziell für den Fortbestand Europas". Das könne aber nur funktionieren, wenn die Außengrenzen überwacht werden, sagte er und fragte nach den Plänen. Krings selbst sprach 55 Minuten nach Beginn der Diskussion zum ersten Mal von Seehofers "Masterplan", in dem die EU-Außengrenzen ein ganz zentraler Punkt seien. Deutschland unterstütze die von der EU-Kommission vorgeschlagene Aufstockung der Grenzschutzschutzagentur Frontex auf 10.0000 Mitarbeiter, "aus meiner persönlichen Perspektive ist das noch nicht die Endzahl".
Es müsse aber auch darum gehen, dass Frontex "ausreichende rechtliche Befugnisse bekommt, da wird es natürlich noch spannend, mit den Staaten an der Außengrenze im Süden darüber zu sprechen". Um die Bedingungen der Seenotrettung ging es in der Sitzung überhaupt nicht, obwohl dafür unter dem Motto "Seebrücke" wöchentlich Tausende auf die Straße gehen.
7 – Die Kontrollen an und hinter der Grenze: Schleierfahndung oder die von NRW vorgesehene strategische Fahndung seien Instrumente, illegale Einreisen zu senken, sagte Krings. Da wird an Verkehrsknotenpunkten im Hinterland der Grenze kontrolliert. Durch die Kontrollen gebe es "kaum Ausweichbewegungen, das kann man empirisch nicht nachweisen", sagte Krings.
Ob die am 12. November auslaufenden Kontrollen an drei Grenzübergängen zu Österreich von Horst Seehofer verlängert werden, konnte Krings nicht definitiv sagen. "Ich gehe davon aus. Die Entscheidung des Ministers ist noch nicht getroffen. Das muss sie auch noch nicht, weil es noch nicht ansteht."
Broder sagte, als Migrant müsse man schon dämlich sein, von 90 deutschen Grenzübergängen die drei zu wählen, die bewacht werden. Schleierfahndung finde ab und zu statt, "es schlüpfen mehr Leute durch, als geschnappt werden". Josef Oster (CDU) räumte ein, dass Migrationsdruck kein Thema von vorübergehender Natur ist. Zu Broder sagte er: "Sie erwecken den Eindruck, es sei nichts passiert, und das ist falsch."
Rüffel für Broder
Henryk Broder wurde mehrfach vom Ausschussvorsitzenden Marian Wendt (CDU) ermahnt. Er sprach, ohne das Wort zu haben, er konterte die Linken, die die Petition nicht diskutieren wollten, mit dem Satz, er beteilige sich auch an "keiner politischen Debatte mit der SED". Er bekam einen weiteren Rüffel für eine Bemerkung zur Grünen-Abgeordneten Manuela Rottmann. Broder sagte, er könne nicht in zwei Sätzen "den Unsinn widerlegen, den Sie täglich verbreiten". Wendt mahnte, keine Abgeordneten zu beleidigen. Broder war sauer, weil Rottmann ihn wegen der "sehr sehr groben Behauptungen" nach dem Beitrag zum gesellschaftlichen Unfrieden und der Mitverantwortung an Neonazi-Ausschreitungen in Apolda und Chemnitz gefragt hatten.
8 – Die Abweisungen durch Abkommen mit anderen Ländern: Die Zahlen ließ Krings die Abteilungsleiterin Bundespolizei, Dagmar Busch, vortragen: Mit Griechenland und Spanien waren im August unter viel Tam-Tam Abkommen geschlossen worden, wonach diese Länder dort registrierte Asylsuchende umgehend zurücknehmen. Seither wurden drei Menschen zurück nach Griechenland geschickt, niemand nach Spanien, so Busch. Krings ergänzte, dass es aber 2017 an der österreichischen Grenze zu 12.000 Zurückweisungen aus diversen Gründen gekommen sei.
9 – Das BAMF: Das Bundesamt, das für die Erfassung und Prüfung der Asylgesuche zuständig ist, stand lange in der Kritik. "Ich will nicht behaupten, dass wir schon zu hundert Prozent da sind, wo wir sein müssten", räumte Krings ein. Die personelle Aufstellung sei aber jetzt größtenteils angemessen. "Es mag aber sein, dass es an der ein oder anderen Stelle noch sinnvoll ist, einen weiteren Aufwuchs vorzunehmen."
10 – Das Einwanderungsgesetz: FDP-Abgeordneter Manfred Todtenhausen vermisste eine Regelung, per Fachkräftezuwanderungsgesetz einen Rahmen für Migration, der an den Interessen Deutschlands orientiert sei. Deutschland sei schon viele Jahre Zuwanderungsland, erwiderte Krings. Nach Ansicht vieler Experten habe das Land auch schon eines der besten Fachkräftezuwanderungsgesetze, so der Regierungsvertreter. "Das Heil liegt nicht im Gesetz, das Heil liegt darin, das Gesetz gängig zu machen und Arbeitgeber in Deutschland und Arbeitssuchende im fernen Ausland auch zueinander zu bringen."
11 – Alternativen für Flüchtlinge: Von der Bekämpfung der Fluchtgründe war nur am Rande die Rede. Broder und Lengsfeld sprachen über Alternativen, die darauf zielen, die Menschen von Europa fern zu halten: "Das Geld, was hier für einen Migranten ausgegeben wird, würde 139 Menschen in Jordanien helfen", rechnete Lengsfeld vor. "Wir sagen, eine humanitäre Flüchtlingspolitik konzentriert sich auf die 95 Prozent, die Binnenflüchtlinge sind oder in den Nachbarländern sitzen, und nicht auf die fünf Prozent, die das Glück haben, hier in Europa angekommen zu sein."
Broder legte nach: Menschen den Strapazen und Gefahren einer Reise nach Europa auszusetzen sei "nicht human, das ist inhuman und dient nur dem Zweck, dass wir uns für moralisch überlegen erklären können, aber nicht dazu, diesen armen Leuten zu helfen". "Sehr gut", lobte Lengsfeld. Beide sagten nicht, ob das auch alle Menschen so sehen, die sich auf die Reise machen.
- Eigene Beobachtung
- Video der Ausschussitzung in der Mediathek