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28 Jahre nach dem Mauerfall: "Wir leben weitgehend in zwei Gesellschaften"


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28 Jahre nach dem Mauerfall
"Wir leben weitgehend in zwei Gesellschaften"

  • David Ruch
Ein Interview von David Ruch

Aktualisiert am 05.02.2018Lesedauer: 6 Min.
Mauerbau am Brandenburger Tor in Berlin 1961: Auch 28 Jahre nach dem Fall der Mauer gibt es noch immer viel Trennendes zwischen Ost- und Westdeutschland.Vergrößern des Bildes
Mauerbau am Brandenburger Tor in Berlin 1961: Auch 28 Jahre nach dem Fall der Mauer gibt es noch immer viel Trennendes zwischen Ost- und Westdeutschland. (Quelle: Archivbild/Giehr/dpa)

Der Zirkeltag rückt näher: Am Montag ist die Mauer, die Deutschland in Ost und West teilte, genauso lange Geschichte, wie sie stand. Doch auch 28 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Deutschland weiterhin zweigeteilt.

Politikwissenschaftler und Historiker Klaus Schroeder weiß das. Er lehrt an der Freien Universität Berlin, sein Forschungsschwerpunkt: die Geschichte der DDR und die Wiedervereinigung. Im Interview mit t-online.de erklärt Schroeder, warum es die Spaltung zwischen "Ossis" und "Wessis" auch in 20 Jahren noch geben wird und warum die Politik bei der Wiedervereinigung dennoch keine Fehler gemacht hat.

Herr Schroeder, haben wir gut 28 Jahre nach dem Mauerfall die Teilung überwunden?

Klaus Schroeder: Institutionell haben wir die Teilung überwunden, wir leben in einem gemeinsamen Staat. Aber wir leben weitgehend in zwei Gesellschaften. Heißt: Die ostdeutsche und die westdeutsche Gesellschaft unterscheiden sich wesentlich im Selbstverständnis und in der wechselseitigen Abgrenzung.

Was heißt das konkret?

Die Westdeutschen sind nach dem Mauerfall mit sehr viel Überheblichkeit aufgetreten und haben die Ostdeutschen spüren lassen, dass sie die Verlierer der Geschichte sind. Umgekehrt merkten die Ostdeutschen, die so leben wollten wie der Westen, dass sie tatsächlich die Verlierer sind und haben dann mit Trotz reagiert.

Wie äußerte sich dieser Trotz?

Das hat sich politisch erst mit der Wahl der PDS ausgedrückt. Seit es die AfD gibt, ist auch sie im Osten doppelt so stark wie im Westen. Es ist ein Protest gegen die Bedingungen und Modalitäten der Wiedervereinigung. Es ist nicht so, dass sich die Ostdeutschen die Mauer wieder herbeisehnen, aber sie hätten sich gewünscht, dass ihre Lebensleistung stärker anerkannt wird.

Woher kommt das gegenseitige Missverstehen?

Ost- wie Westdeutsche machen den Fehler, dass sie nicht zwischen System und Lebensgeschichte unterscheiden. Die Systeme standen im Wettbewerb und die Menschen mussten sich in den beiden Systemen einrichten und arrangieren, aber sie waren ja nicht in Gänze für das System verantwortlich. Im Osten war es eine kleine Gruppe, die SED-Führung, die die Diktatur gestaltet und die Unterdrückung organisiert hat. Genauso war im Westen nicht der Einzelne dafür verantwortlich, dass das System, die soziale Marktwirtschaft, die Demokratie, erfolgreich waren.

Was ist denn bei der Vereinigung schiefgelaufen?

Es ging wahrscheinlich gar nicht anders: Die Vereinigung erfolgte nicht auf Augenhöhe. Wir hatten auf der einen Seite einen prosperierenden westdeutschen Staat mit der Stadt West-Berlin und einen kollabierenden Staat, der finanziell, mental und politisch am Ende war. Der kleinere hatte sich dem größeren anzupassen. Die Westdeutschen wollten ja nicht so leben wie die Ostdeutschen. Vielleicht hätte man im Osten mehr Betriebe an die Belegschaften geben sollen, aber auch das wäre nur ein kleiner Beitrag gewesen. Im Großen und Ganzen muss man damit leben, dass es eben lange dauert, bis wieder zusammenwächst was zusammengehört.

Was glauben Sie, wie lange?

Ich denke, wir werden noch mindestens zwei Jahrzehnte immer wieder über Ost/West-Unterschiede und -Animositäten diskutieren. Erst wenn die nachfolgenden Generationen nicht mehr so beeinflusst sind von familiären Milieus, werden wir nicht mehr über Ost und West sondern über Nord und Süd oder über dies und jenes reden.

Wo sehen Sie politisch die größten Gegensätze zwischen Ost und West?

Populistische und extremistische Strömungen haben im Osten eine höhere Attraktivität. Zugleich gibt es eine größere Skepsis gegenüber der Demokratie, so wie sie aktuell ausgestaltet ist. Das könnte die Demokratie und das Systems ins Wackeln bringen, falls das auch den Westen ansteckt. Noch besteht kein Anlass zur Sorge. Wir haben ein stabiles politisches und soziales System mit populistischen Strömungen links wie rechts. Wenn ich das mit anderen europäischen Ländern etwa in Osteuropa vergleiche, ist das bei uns noch recht gering ausgeprägt.

Geht der Erfolg des Populismus in Ostdeutschland nur auf die Erfahrungen der Nachwendezeit zurück oder spielt auch die Zeit vor dem Mauerfall eine Rolle?

Natürlich wirkt es nach, dass es in der DDR, was nur wenige wissen, schon eine sehr ausgeprägte Ausländerfeindlichkeit gab. Spätestens seit Mitte der 80er-Jahre hat sich eine rechtsextremistische Szene herausgebildet. Das ist nur nicht veröffentlicht worden, weil es die SED geheim hielt und nicht wahrhaben wollte. Und das hat sich durch die sozialen Turbulenzen der Wendezeit noch verstärkt und verfestigt. Die rechtsextreme Szene ist im Osten deutlich stärker ausgeprägt als im Westen. Man hat Anfang der 90er-Jahre nicht energisch genug reagiert von staatlicher Seite. Man hätte hier Flagge zeigen müssen. Man muss aber bedenken: Nach der Wende fielen für die jungen Leute alle Autoritäten weg. Den Lehrern glaubten sie nicht, den Eltern auch nicht. Und die wenigen Bürgerbewegten spielten ja keine Rolle, was sich in den Wahlergebnissen zeigte.

Die Stereotype über den anderen Landesteil gibt es ja auch im Westen. Warum fremdelt der Westen immer noch so mit dem Osten?

In der Tat. Der Westler hält den Ostler für ängstlich, für wenig selbstbewusst. Das ist schon eine Abwertung. Jüngste Umfragen zeigen ja, dass dieses wechselseitige Abwerten weiter vorhanden ist – Ost gegenüber West, West gegenüber Ost. Der erstaunlichste Befund ist aber nicht, dass sich Ost und West kritisch beäugen, sondern die Selbstbeschreibung der Menschen in den jeweiligen Landesteilen. Der Westler sieht sich und seine Landsleute wesentlich kritischer, während der Ostler mit sich und seinen Landsleuten eigentlich vollauf zufrieden ist.

Woran kann das liegen?

Da kann man nur spekulieren, ob das vielleicht mit mangelnder Kritikfähigkeit oder mit fehlendem Selbstbewusstsein zusammenhängt. Es nagt aber schon am Selbstbewusstsein vieler Ostdeutscher, dass der Osten so kläglich untergegangen ist. Nicht nur wegen der Diktatur und der Unterdrückung, sondern auch ökonomisch. Der Wohlstand war in der DDR nur etwa halb so groß, die Produktivität bei höchstens 20 Prozent des Westniveaus. Hinzu kommt, dass der Wiederaufbau der Städte nach der Wende vom Westen bezahlt wurde. Man war also Zahlungsempfänger.

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Vieles hat man doch aber auch aus eigener Kraft erreicht…

Genau! Die vielen eigenen hervorragenden Leistungen, der Gründerboom nach der Wende, die vielen Firmengründungen. Viele Menschen haben sich selbstständig gemacht. Der Stolz auf diese Aufbauleistung im Osten ist leider wenig ausgeprägt – vielleicht, weil der Westen das nicht so wahrhaben will.

Ist der Trotz bei den Ostdeutschen in den letzten Jahren noch größer geworden?

Nicht bei allen, aber bei einer nennenswerten Minderheit von 30 bis 40 Prozent ist dieser Trotz noch immer da. Diese Haltung: Die da oben machen was sie wollen, und wir hier unten haben nichts zu sagen. Das gibt es auch im Westen, aber eben nur bei zehn bis 15 Prozent.

Und wie kann diese Haltung überwunden werden?

Es braucht mehr Selbstbewusstsein. Meine Hoffnung ist, dass sich das in der jungen Generation auswächst. Bei vielen Ostdeutschen, die in den Westen gegangen sind, ist das ja nicht mehr so. Die haben eher das Problem, dass sie sich zu Hause in der Heimat anhören müssen: ‚Dich haben sie wohl im Westen umgedreht‘. Umgekehrt sind ja viele Westdeutsche, die in den Osten gegangen sind, dort bestens angekommen. Man kann die Wiedervereinigung als Erfolgsgeschichte schreiben oder die Misserfolge in den Fokus rücken.

Wie sehen Sie es persönlich?

Ich halte die deutsche Vereinigung alles in allem für eine Erfolgsgeschichte, glaube aber, dass die Schwierigkeiten des Zusammenlebens noch lange fortdauern werden.

Kann die Politik mehr tun, um die Deutschen näher zusammenzubringen? Es gab zuletzt die Diskussion um Schüleraustausche.

Das bewirkt überhaupt nichts. Der Vorschlag von Herrn Holter [Präsident der Kultusministerkonferenz, Anm. d. Red.] zielte auch nicht darauf ab, dass die Jugendlichen die beiden Landesteile besser kennenlernen. Sondern der will die angebliche Benachteiligung der Ostdeutschen anprangern. Die Westdeutschen sollen lernen, dass die Ostdeutschen eigentlich die Benachteiligten sind.

Was wäre also besser?

Man kann in den Schulen und in den Medien viel mehr Fakten vermitteln über das geteilte Deutschland: Was kennzeichnet eine Diktatur, was eine Demokratie? Wo sind die Gefahren für die Demokratie? Wenn man viel mehr Geschichtswissen vermittelt, dann können junge Menschen viel offener und kritischer mit der Teilung und der Wiedervereinigung umgehen. Aber dazu brauchen sie Wissen und kein Gequatsche von Älteren, die ihre Vorurteile an die Jüngeren weitergeben.

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