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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Querdenker"-Abrechnung gescheitert Jetzt soll Den Haag Lauterbach und Co. zur Rechenschaft ziehen

Aufarbeitung der Corona-Zeit bedeutet für manche Menschen, Politiker wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" hinter Gitter zu bringen. Entsprechende Pläne aus der "Querdenker"-Szene sind ins Stocken geraten. Die neue US-Regierung soll jetzt helfen.
Es war inszeniert als historisches Ereignis zur Aufarbeitung der Corona-Zeit: Mehrere Tausend Menschen demonstrierten in Karlsruhe, als dort beim Generalbundesanwalt Anzeigen gegen Politiker und Richter eingereicht wurden: Sie sollten sich "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" schuldig gemacht haben.
Die Anzeigen richteten sich gegen 568 Bundestagsabgeordnete, die Minister Karl Lauterbach (SPD) und Robert Habeck (Grüne), 16 Mitglieder des Bundesrats, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Stephan Harbarth, Präsident des Bundesverfassungsgerichts. In ihren unterschiedlichen Rollen hätten sie sich bei der Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht für Gesundheits- und Pflegepersonal strafbar gemacht.
Nun haben sich diese Anzeigen vom Dezember 2023 – wie von Experten erwartet – als Nullnummer entpuppt, mit der Spender bei der Stange gehalten werden sollen. Doch die Initiatoren machen weiter: t-online hat nachvollzogen, wie trotz verschwindend geringer Erfolgsaussichten der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag als Hoffnungsträger herhalten soll – und wie der Machtwechsel in den USA der Erzählung neue Nahrung gibt.
Verbitterung bei Corona-Kritikern sitzt tief
Mit den Anzeigen hatte der Jurist Ralf Ludwig, der sich selbst "Querdenken-Anwalt" nennt, bei vielen Impfgegnern und -skeptikern große Hoffnungen geweckt und genährt: Irgendjemand müsse für das empfundene Unrecht und die Ausgrenzungen in der Corona-Zeit büßen. Damals haben Menschen wegen ihrer Corona-Haltung auch ihre Jobs verloren, Partnerschaften und Familien sind darüber zerbrochen. Das Verfahren, das wolkig eine Abrechnung in Aussicht stellte, war ein zentrales Vorhaben des "Zentrums zur Aufarbeitung und Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit" (ZAAVV).
Initiator Ludwig ist kein Unbekannter. In der Coronazeit war er eine der zentralen Figuren der Querdenkerszene und warb mit verschiedenen Vereinen und Aktionen kreativ um Schenkungen. t-online griff das in einer Recherche "Das große Geschäft mit der Corona-Wut" auf. Er gehört zum Anwaltsteam von Michael Ballwag bei dessen Prozess in Stuttgart. Außerdem vertritt er Jürgen Elsässer sowie sein rechtsextremes Magazin "Compact", dessen Verbot durch Bundesinnenministerin Nancy Faeser zunächst gerichtlich gestoppt wurde.
Das Zentrum arbeitete auch der AfD für Untersuchungsausschüsse zum Corona-Komplex zu. Ein Video der Brandenburger AfD sagt viel über den dort vorherrschenden Geist aus: Das mit Künstlicher Intelligenz erstellte Werk zeigt, wie Gesundheitsminister Karl Lauterbach in Handschellen abgeführt wird.
Die Realität ist davon ganz weit entfernt. Die Bundesanwaltschaft hat nach mehrmonatiger Prüfung der Anzeigen vom Dezember 2023 die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen die Spitzenpolitiker und Richter abgelehnt. Das bestätigte ein Sprecher t-online.
Zu t-online sagte Ludwig, die Generalbundesanwaltschaft habe mit "teilweise unerträglichen Argumenten die Ermittlungen eingestellt". So habe sie bei den Parlamentariern auf die Indemnität verwiesen, also den Schutz für Abgeordnete vor Bestrafung für Entscheidungen, die sie in ihrer Funktion als Parlamentarier treffen. Ludwigs Deutung: Der Generalbundesanwalt sage damit, Bundestagsabgeordnete dürften Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen, würden sie diese nur in einem Parlamentsgesetz beschließen.
"Kein hinreichender Tatverdacht"
Tatsächlich hat die Bundesanwaltschaft nach t-online-Informationen nicht nur formal geprüft, sondern auch inhaltlich und legt das in ihrer Begründung auf 60 Seiten auch dar. Ein Sprecher sagte, es gebe keinen hinreichenden Tatverdacht. Zudem gilt: Immunität und Indemnität können nicht allein ausschlaggebend gewesen sein, weil die Regelung für einen Teil der angezeigten Personen gar nicht gilt.
Nach der Anfrage von t-online zum Scheitern der Anzeige veröffentlichte Ludwig ein neues Video, in dem er die Abfuhr in Karlsruhe als nötigen Schritt auf dem weiteren Weg darstellt: Weil Deutschland nun gezeigt habe, nicht "willens zu sein" für Ermittlungen, sei der Weg zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag frei. Was zunächst mit einer Reihe von Anwälten schnell angegangen werden sollte, eilt aber inzwischen doch nicht mehr so.
Im November 2024 hatte Ludwig erklärt, es werde "an verschiedenen Stellen" an der Strafanzeige nach Den Haag gearbeitet, doch Diskretion sei wichtig: Aktuelle Politiker und ranghohe Beamte unternähmen alles, ihre Taten zu verdunkeln. Schon im Dezember erklärte er, die Strategie habe sich geändert. Für die weiteren Verzögerungen nannte er mehrere Gründe.
Da seien zum einen die Ergebnisse der "RKI-Leaks". Diese freigeklagten Protokolle von Sitzungen des RKI-Krisenstabs zum Thema Corona müsse man auswerten. Bereits im Juli 2024 wurde deren ungeschwärzte Version veröffentlicht, die zeigt, dass im RKI mehr über Bedenken und Gegenargumente diskutiert wurde als öffentlich bekannt.
Zum US-Gesundheitsminister Kennedy "sehr guten Kontakt"
Ein weiterer Grund für die Verzögerung klingt zunächst eindrucksvoll: Das ZAAVV wolle die Anzeige aus einer besonderen Funktion heraus formulieren – als Menschenrechtsorganisation, die bei der UN zur Schattenberichterstattung registriert sei. Das heißt aber offenbar nur, dass sich die Organisation beim UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte als Hinweisgeber angemeldet hat. Die Unterzeichnerstaaten des UN-Sozialpakts müssen dort in bestimmten Abständen über dessen Umsetzung berichten – und zivilgesellschaftliche Organisationen können Anmerkungen abgeben. Der insgesamt siebte Bericht Deutschlands wird im Herbst 2025 Thema im Ausschuss sein.
Außerdem, so Ludwig, habe man das Ergebnis der US-Wahl abwarten wollen. Michael Ballweg hatte bei dem inzwischen für das Amt bestätigten Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. für sich und Ludwig Einladungen zu einer Veranstaltung zur Amtseinführung von Donald Trump besorgt. In Smoking waren sie beim Ball der "Make America Healthy Again"-Bewegung. Kennedy war der gefeierte Redner auf einer "Querdenken"-Demo in Berlin im August 2020.
Zu Kennedy gebe es einen "sehr guten Kontakt", sagt Ludwig. "Aus Amerika werden wir viele Informationen und Daten bekommen", so der Anwalt, der offenbar immer noch die Existenz des Coronavirus anzweifelt: "Wir werden dann sicherlich wissen, ob es dieses Virus gibt." Wegen der Verbindungen in die USA sei der Zeitplan geändert.
1.700 Mitglieder zahlen Monatsbeiträge
Das sind einige Argumente, um die Spender und 1.700 Mitglieder weiter zu vertrösten, warum sie für ihre Monatsbeiträge zwischen 10 und 100 Euro nichts zu sehen bekommen. Eine Übersicht über "Meilensteine, Erfolge und auch Rückschläge" endet im Januar 2024 mit dem Eingang des Aktenzeichens der Anzeigen. Ein Transparenzbericht erschien zuletzt im September 2023, im ersten Quartal werde es einen neuen geben, heißt es vom Verein.
Bislang ist auch noch nichts von einer seit September 2021 angekündigten Stiftung zu sehen. Eigentlich sollte das ZAAVV die Aufbauorganisation dafür sein, zunächst war die Schweiz, dann Liechtenstein als Stiftungssitz im Gespräch. Inzwischen ist es Irland, wo eine voll handlungsfähige Stiftung in der Rechtsform einer Private Company Limited By Guarantee für Kosten unter 2.000 Euro innerhalb eines Monats eingerichtet werden kann.
Ludwigs Anwaltskollege Alexander Christ hatte zwar im Dezember 2023 erklärt, andere Aufgaben abgegeben zu haben, um sich um den raschen Aufbau der Stiftungsstruktur zu kümmern. Jetzt erklärte Ludwig t-online, die Satzung sei fertig geschrieben und bei der Stiftungsberatungsgesellschaft eingereicht. Erste Direktoren der Stiftung sollen er und Claudio Zanetti werden. Beide sind auch die Köpfe einer Schweizer AG, die als Dienstleister des ZAAVV die Gelder für die operative Arbeit erhält.
Eine schnelle Entscheidung vom Internationalen Strafgerichtshof (ICC) dürfte auch gar nicht in ihrem Sinne sein – denn sie wird fast sicher nicht zu Ermittlungen führen. Der ICC kann nur in begrenztem Umfang überhaupt einschreiten: "Das setzt in der Regel voraus, dass es im jeweiligen Land keine Ermittlungsbemühungen gibt", sagt die Jura-Professorin Stefanie Bock, Direktorin des Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse an der Universität Marburg. Bedeutet: Wenn nationale Ermittlungen aufgenommen und dann wegen fehlenden Tatverdachts eingestellt werden, mischt der Gerichtshof sich nicht ein. Ausnahme sei, wenn dargelegt werden könne, dass eine Entscheidung nur dazu diene, Verantwortliche zu schützen. Das sehe sie hier nicht.
Expertin: "Anzeige" fällt schon beim Vorfiltern durch
Bocks Vermutung ist nun: "Die 'Anzeige' beim ICC wird nicht über die Vorfilter-Phase hinauskommen." Das ist die erste von drei Stufen: Nur bei einem Bruchteil der Eingaben entscheidet der Strafgerichtshof, überhaupt eine vorläufige Prüfung durchzuführen, die zweite Stufe. Dabei geht es darum, ob die Grundlage zur Einleitung einer vollen Untersuchung besteht, der dritten Stufe.
Im Stadium der vorläufigen Prüfung befinden sich beim Internationalen Strafgerichtshof insgesamt drei Fälle. Hinzugekommen ist im zurückliegenden Jahr einer der drei. Tatsächliche Verfahren des Anklägers werden in zwölf Fällen geführt, das älteste wegen Kriegsverbrechen im Kongo bereits seit mehr als 20 Jahren.
Demgegenüber stehen 15.404 "Mitteilungen nach Artikel 15" an den Strafgerichtshof zwischen Oktober 2023 und Oktober 2024 – den Begriff "Anzeigen", von dem Ludwig spricht, wählt der Gerichtshof nicht. Vier Fünftel davon bezogen sich auf bereits eingeleitete Verfahren und Vorverfahren. Blieben 2.701, die mögliche neue Vorverfahren betreffen würden und individuell geprüft werden. Ob darunter auch die Eingabe aus der deutschen "Querdenker"-Szene war und wie der Stand ist, kommentiert ein Sprecher des Strafgerichtshofs nicht: "Das Büro des Anklägers ist daran gebunden, solche Informationen vertraulich zu behandeln."
Wenn Ludwig ankündigt, eine Reihe von Anwälten daranzusetzen, dürfte das für den Ausgang wenig ändern, so Bock: Generell seien Erfolgsaussichten auch am ICC umso größer, je besser und juristisch fundierter eine Begründung ist. "Ich sehe ich in diesem Fall aber nicht, wie man plausibel die Impfpflicht zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit machen will."
Die Absicht bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht sei nicht ein "Angriff auf die Bevölkerung" gewesen, wie das als Merkmal von Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert ist. Absicht sei der Schutz vulnerabler Gruppen gewesen.
Der Gesetzgeber dürfe auch entscheiden, einem Teil der Bevölkerung ein Sonderopfer abzuverlangen. Und: "Selbst wenn man nachweisen könnte, dass durch den einrichtungsbezogenen Impfzwang jemand gestorben ist, braucht es einen Tötungsvorsatz." Und auch, wenn der Gesetzgeber wisse, dass es ein Risiko gebe, bedeute das nicht, dass er ein Risiko nicht hinnehmen darf. "Nicht jedes Schaffen eines Risikos ist rechtswidrig oder gar strafrechtlich relevant."
Ludwig setzt vielleicht inzwischen auch schon auf ein neues Pferd, "raus aus dem strukturellen Rahmen", wie er sagt. "Wahrheitskommissionen" mit den Opfern nach dem Vorbild der Aufarbeitung der Verbrechen des Apartheidregimes in Afrika brauche es, erklärt er in einem Video mit Michael Ballweg. Kennedys Team habe auf den Vorschlag hin "Daumen hoch" gezeigt, so Ballweg. Und Ludwig sagt: "Die Amerikaner sind bereit, als neutrale Instanz Wahrheitskommissionen zu begleiten."
Er kann also weiter und noch lange von historischen Ereignissen erzählen. Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjährten auch nie.
- Eigene Recherchen