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Bayern | Wahlkampf: "Im Bierzelt hat Markus Söder etwas voraus”


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Historiker über Politik am Stammtisch
"Müsste bereit sein, den Königsmörder zu geben"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 04.10.2023Lesedauer: 7 Min.
Markus Söder: Im Bierzelt habe der bayerische Regierungschef seinen Konkurrenten etwas voraus, sagt Historiker Thomas Schlemmer.Vergrößern des Bildes
Markus Söder: Im Bierzelt habe der bayerische Regierungschef seinen Konkurrenten etwas voraus, sagt Historiker Thomas Schlemmer. (Quelle: Frank Hoermann/SVEN SIMON/imago-images-bilder)
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In Bayern herrscht Wahlkampf, Bierzelt und Stammtisch sind dabei nicht wegzudenken. Allerdings haben beide Orte einen anrüchigen Ruf. Zu Unrecht, sagt der Historiker Thomas Schlemmer.

Bierzelt und Stammtisch sind aus der bayerischen Politik nicht wegzudenken, besonders im Wahlkampf. Im Rest der Republik haben diese Schauplätze der politischen Kommunikation allerdings einen eher zweifelhaften Ruf. Zu Unrecht, sagt der Historiker Thomas Schlemmer. Warum Markus Söder im Bierzelt einen Vorteil genießt, Bayern immer weniger "Bayern" ist und die Freien Wähler trotz der Affäre um ein antisemitisches Flugblatt ihres Chefs Hubert Aiwanger in Umfragen zugelegt haben, erklärt Schlemmer im Gespräch.

t-online: Herr Schlemmer, in Bayern herrscht Wahlkampf, die politischen Kontrahenten zieht es zum Stimmenfang in die Bierzelte. Lässt sich bei Bier und Hendl vernünftig über Politik diskutieren?

Thomas Schlemmer: Im Bierzelt lässt es sich hervorragend über Politik debattieren. Denn dort sind wir im Prinzip alle gleich, im Bierzelt werden Schichten und Klassen überwunden, jeder kann mit jedem ins Gespräch kommen. Wobei ich einschränken muss, dass bei den Preisen für Getränke und Speisen der jeweilige Geldbeutel beim Ausmaß der Gleichheit ein Wörtchen mitzureden hat. Denn nicht jeder kann sich das Bierzelt leisten.

Meist blickt der Rest der Republik despektierlich gen Bayern, wenn dort im Bierzelt aufgetrumpft wird. Kürzlich hat CDU-Chef Friedrich Merz auf dem bayerischen Jahrmarkt Gillamoos behauptet: "Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland." War das Anbiederung oder steckt da mehr dahinter?

Das Bierzelt gilt durchaus als Ort für derlei, mit Alkohol angereichertes populistisches Geschwafel. Merz wollte sich schlichtweg anbiedern. Interessant ist aber die Tatsache, dass viele Events, die im Bierzelt oder ähnlichen Umgebungen stattfinden, mittlerweile im bundesweiten Politikbetrieb fest verankert sind. Dazu gehört der Starkbieranstich auf dem Nockherberg. Früher war das ein Münchner – bestenfalls noch ein bayerisches – Ereignis.

Vor allem zum Politischen Aschermittwoch strömt die Bundespolitik aber gen Bayern. Warum?

Niemand will diesen Platz unbesetzt lassen, das kann sich keiner mehr leisten. Schließlich wird breit darüber berichtet. Andererseits gilt dieses Ambiente wiederum als anrüchig, da spielen Stereotype über Bayern eine Rolle.

Thomas Schlemmer, Jahrgang 1967, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) und Chefredakteur der Fachzeitschrift "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte". Der habilitierte Historiker lehrt am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist Experte für die Geschichte der Christlich-Sozialen Union in Bayern.

Anfang September hat der "Spiegel" eine seiner Ausgaben Bayern gewidmet: Das Cover zeigte Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder mit dem Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger, die auf einer Welle aus Bier dahingleiten, der Titel lautete "Die Maßlosen". Was halten Sie davon?

Es zeigt, welche Klischees über Bayern im Umlauf sind – und wie sich Medien und Politik ihrer bedienen. Zum Klischee gehören Bierzelt wie Stammtisch, die als Brutstätten des Populismus hingestellt werden.

Sind sie das nicht auch bisweilen?

Das ist natürlich möglich, ist aber keineswegs zwangsläufig. Nehmen wir den Stammtisch, der unter zwei Vorurteilen leidet: Einerseits wird ihm vorgeworfen, dass er als eine Einrichtung von Denen-da-unten gegen Die-da-oben fungiert. Andererseits fällt es Eliten leicht, unbequeme Forderungen als Stammtischparolen abzutun. Daraus spricht wiederum eine gewisse Geringschätzung dem Wahlvolk gegenüber, zumal dem Wahlvolk im ländlichen Raum, das als fast schon minderbemittelt wahrgenommen wird. Wer solchen Reflexen folgt, hat sicherlich schon länger kein ländliches Wirtshaus mehr besucht. Der Stammtisch als Ort politischer Kommunikation hat seinen schlechten Ruf nicht verdient, erst recht, wenn man manche Auswüchse des Internets betrachtet.

Sie spielen auf die sozialen Medien an?

Ja. In den berühmt-berüchtigten Echokammern des Internets finden sich vor allem vorgefasste Meinungen, negative Urteile und irrige Stereotype, die weiter verstärkt werden. Am Stammtisch, in der direkten und persönlichen Kommunikation von Mensch zu Mensch, ist das nicht zwingend so. Es gibt Widerspruch, es gibt Debatten. Denn dort kommen Menschen unterschiedlicher Schichten zusammen, um das Tagesgeschehen zu diskutieren. Insofern ist der Stammtisch ein wichtiger Faktor des direkten Austausches an der politischen Basis.

Weil insbesondere im ländlichen Raum auch die Bürgermeister den Stammtischen ihre Aufwartung machen?

Kommunalpolitik wird auch durch die Präsenz am Stammtisch gemacht, der Bürgermeister, der Gemeinderat, die Spitzen der Kommunalpolitik insgesamt lassen sich dort sehen und diskutieren bestimmte Probleme und Entscheidungen. Kommunalpolitik ist in dieser Hinsicht auch Stammtischpolitik. Es geht dort darum, Impulse aufzunehmen, sie ernst zu nehmen und in pragmatische Politik umzusetzen. Das ist keineswegs ein bayerisches Spezifikum, ich denke dabei an die Schützenvereine im Rheinland und in Westfalen, die sich ebenfalls im Wirtshaus treffen. Das Problem ist ein anderes.

Welches?

Wenn derartige Diskussionen an der gesellschaftlichen Basis auf den höheren Ebenen bis hin nach Berlin als Populismus und Polemik angesehen werden, dann ist die politische Kommunikation bis hin nach Berlin zunehmend gestört. Beim Vorwurf der Stammtischpolitik schwingt zudem auch immer das Reizwort einer Hinterzimmerpolitik mit, also einer Vorgehensweise, bei der die parlamentarischen Gremien weitgehend außen vor gelassen werden. Das vermengt aber zwei Dinge, die so nicht unbedingt zueinander gehören.

Hand aufs Herz: Ist da gar nichts dran, dass am Stammtisch und im Hinterzimmer Politik gemacht wird?

An Stammtischen gibt es immerhin noch eine gewisse Öffentlichkeit, die ja notwendig zum politischen Prozess in einer Demokratie gehört. Das Hinterzimmer dient gerade dazu, diese Öffentlichkeit so weit wie möglich draußen zu halten. Man könnte sagen, dass sich gerade dort, wo Parteien lange mit stabilen Mehrheiten regieren, Strukturen herausbilden, die solche Entscheidungsprozesse jenseits von Öffentlichkeit und parlamentarischer Kontrolle begünstigen. In Bayern würde man Filz sagen, in Köln Klüngel. Der Stammtisch als Ort öffentlicher politischer Diskussion kann hier übrigens durchaus als Korrektiv wirken.

Früher erhob die CSU selbstbewusst Anspruch auf die absolute Mehrheit bei bayerischen Landtagswahlen, heute ist ihr Vorsitzender Markus Söder schon froh, wenn er eine stabile Mehrheit zusammenbringt. Hat sich die CSU verändert – oder Bayern?

Beide. Bestimmte Mentalitäten verändern sich, es lösen sich auch langfristig stabile bayerische Selbstverständlichkeiten auf. Wie etwa die von der Notwendigkeit bayerischer Eigenstaatlichkeit, die einst an der Wiege der CSU stand. Wenn aber die Überzeugung der Menschen von der Notwendigkeit eines starken und möglichst selbstständigen Bayerns zerrinnt, dann wird ab einem bestimmten Punkt auch die Notwendigkeit einer Regionalpartei wie der CSU infrage gestellt.

Warum erodiert das so lange vorherrschende Bild Bayerns von sich selbst? Ist es die Migration, die das Land verändert?

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Innerhalb der bayerischen Gesellschaft findet eine Pluralisierung statt, die viel mit Migration zu tun hat. Mittelbar vor allem mit einer deutschen Binnenmigration von Nord nach Süd, aber auch von Ost nach West. Denn die Menschen, die in deren Zuge nach Bayern kommen, dürfen sofort wählen – und machen ihr Kreuz nicht zwangsläufig bei der CSU. Das ist ein Katalysator für Pluralisierung innerhalb Bayerns gewesen, die CSU muss nun damit umgehen. Der Rekurs auf bayerische Geschichte und bayerische Heimat hat lange Jahre sehr gut funktioniert, aber diese Zeiten enden allmählich.

In der Debatte um Migration aus dem Ausland hat Söder wiederum neulich eine bundesweite "Integrationsgrenze" gefordert, eine Neuauflage der einstigen "Obergrenze" seines Parteifreundes Horst Seehofer. Was bezweckt Söder damit?

Das hat mit dem Wahlkampf zu tun, mit der AfD und auch mit dem Umfragehoch der Freien Wähler. Aber nicht nur. Denn kommunale Spitzenverbände beklagen seit Langem, dass es in Gemeinden und Landkreisen immer schwieriger wird, die notwendigen Integrationsleistungen zu erbringen. Gerade im ländlichen Raum mit einer weniger leistungsfähigen Infrastruktur. In dieser Situation ist es wichtig zuzuhören, um diejenigen nicht zu demotivieren oder gar zu verlieren, sie sich seit Jahr und Tag für die Aufnahme und Integration von Migrantinnen und Migranten vor Ort eingesetzt haben.

Der frisch im Amt des CSU-Vorsitzenden bestätigte Söder regiert derzeit mithilfe der Freien Wähler, deren Chef Hubert Aiwanger im Mittelpunkt einer Debatte um ein antisemitisches Flugblatt aus den Achtzigerjahren stand. Den Freien Wählern hat der Skandal nicht geschadet, in Umfragen haben sie zugelegt. Wie ist das möglich?

Wenn die Umfrageergebnisse Wirklichkeit werden sollten, wird man sich in der CSU warm anziehen müssen. Die Demoskopen sahen ja die Freien Wähler schon bei 17 und die CSU bei 36 Prozent, also noch unter ihrem schlechten Wahlergebnis von 2018. Ein solches Ergebnis würde Aiwangers Position stärken, er würde sicher keine kleinen Semmeln bei möglichen Verhandlungen backen. Für den Höhenflug der Freien Wähler bei den Umfragen gibt es wiederum verschiedene Erklärungen: Es entstand, erstens, eine gewisse Solidarität mit Aiwanger, denn nicht wenige halten es für unfair, dass er für Ereignisse aus den Achtzigerjahren haftbar gemacht wird – auch um eine gewisse politische Agenda zu verfolgen, die man der "Süddeutschen Zeitung" unterstellt.

Das erklärt aber doch nicht den plötzlichen Sprung?

Ein weiterer Erklärungsansatz ist, dass Aiwanger durch die Affäre möglicherweise Aufmerksamkeit von bisherigen Nichtwählern gewonnen hat, die mit den etablierten Parteien wenig anfangen können, aber auch der AfD nicht ihre Stimme geben wollen. Der Anteil der Nichtwähler betrug 2018 immerhin fast 30 Prozent, und wenn es Aiwanger gelingt, hier zu mobilisieren, ließe sich der Stimmenanteil der Freien Wähler ausbauen. Nicht zuletzt resultiert die momentane Stärke der Freien Wähler aber auch aus dem Misstrauen gegen Markus Söder.

Wie das?

Eine Koalition zwischen CSU und Grünen war eine Zeit lang in Bayern gar nicht so undenkbar. Söder hat dafür Sympathien gezeigt, allerdings hat ein solches Bündnis viele Feinde. Wenn Söder nun Aiwanger hätte entlassen müssen, dann wäre es auch um die Koalition mit den Freien Wählern geschehen gewesen – und neue Konstellationen wären notwendig geworden. Nun gilt Söder nicht gerade als prinzipientreu, sodass Teile seiner eigenen Partei fürchten, dass er im Zweifelsfall doch etwas mit den Grünen versuchen wird. Die Freien Wähler zu stärken, wäre ein Gegenmittel, um solche Überlegungen im Keim zu ersticken.

Gesetzt den Fall, dass die CSU bei den Wahlen eine krachende Niederlage einfährt: Wäre Söders Position gefährdet?

Markus Söder hat sich bei seinem steilen Aufstieg nicht wenige Feinde gemacht – und die werden jede Schwäche ausnutzen, die er zeigt. Zudem ist die CSU eine Partei, die Wahlniederlagen traditionell nur schwer verzeiht. Aber die CSU bräuchte eine glaubwürdige, zukunftsfähige Alternative an der Spitze – und diese Person müsste auch bereit sein, den Königsmörder zu geben. Bislang hat sich niemand aus der Deckung gewagt, aber das muss bei einem Wahlergebnis, das erheblich schlechter ist als das von 2018, nicht so bleiben.

Eine letzte Frage: Wie schlägt sich Markus Söder denn im Bierzelt?

Im Bierzelt hat Söder seinen Konkurrenten etwas voraus – und zwar verfügt er über durchaus humoristisches, fast kabarettistisches Talent. Manche hauen im Bierzelt einfach nur drauf; Max Streibl, einer von Söders Amtsvorgängern, war so einer. Söder kann natürlich auch draufhauen, aber er zeigt immer wieder auch einen Hang zu Ironie, der selbst dem politischen Gegner bisweilen ein Lachen – oder wenigstens ein Lächeln – abnötigt.

Herr Schlemmer, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Thomas Schlemmer via Telefon
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