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Lauterbach-Entführung: Sie sollte einen Putsch einleiten


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Forscher über Extremismus
"Lauterbachs Entführung sollte einen Putsch einleiten"

InterviewMarc von Lüpke

Aktualisiert am 09.12.2022Lesedauer: 8 Min.
Karl Lauterbach: Der Minister stand im Mittelpunkt von Entführungsplänen.Vergrößern des Bildes
Karl Lauterbach: Der Minister stand im Mittelpunkt von Entführungsplänen. (Quelle: Emmanuele Contini/imago-images-bilder)
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Der Klimaprotest wird radikaler, droht gar eine "Klima-RAF"? Experte Wolfgang Kraushaar warnt vor den Plänen der "Letzten Generation". Die entscheidende Bedrohung unserer Demokratie sei aber eine andere.

Die "Letzte Generation" will die Welt vor dem "Untergang" retten – und greift bei ihrem Protest zu immer radikaleren Maßnahmen. Wie weit sind die Klimaschützer bereit zu gehen? Wolfgang Kraushaar, Chronist der 68er-Bewegung und Experte für Extremismusforschung, schließt eine weitere Radikalisierung der Gruppe nicht aus. Die Verhängung von Vorbeugehaft sei aber genau wie Vergleiche zur RAF weder richtig noch sinnvoll, erklärt Kraushaar im Interview. Stattdessen warnt er vor einer ganz anderen Bedrohung von Rechtsstaat und Demokratie.

t-online: Herr Kraushaar, bislang hatte es die "Letzte Generation" bei ihren Aktionen auf Fahrbahnen und Kunstwerke abgesehen. Nun sind auch Flughäfen nicht mehr vor ihr sicher. Droht eine weitere Radikalisierung der Klimaschützer?

Wolfgang Kraushaar: Die Proteste der "Letzten Generation" könnten durchaus weiter eskalieren. Das entsprechende Potenzial steckt bereits in ihrer Selbstdefinition, diese Leute fühlen sich von apokalyptischen Endzeitängsten angetrieben.

Weil sie durch die fortschreitende Erderwärmung das Ende der Welt befürchten?

Sie begreifen sich als junge Generation, die für die Klima- und Umweltsünden der älteren Generationen büßen muss. Wenn man in derartigen Kategorien der Apokalypse denkt, liegt der Schluss nahe, dass man nichts mehr zu verlieren hat, wenn die Dinge weiter so laufen, wie es bisher der Fall ist. Das dürfte die Quelle ihrer Radikalisierung sein.

Nun sind die Maßnahmen der Aktivistinnen und Aktivisten radikal, aber ihre Forderungen nach der Neuauflage des 9-Euro-Tickets und einem Tempolimit von 100 Kilometern pro Stunde auf den ersten Blick nicht unbedingt.

Das scheint so zu sein, aber die "Letzte Generation" begeht einen Denkfehler. Und zwar den, dass sie mit den Protestaktionen Druck auf einen direkten politischen Akteur ausüben könnte. Tatsächlich ist aber die Politik auf den Ebenen von Kommunen, Ländern und Bund gleichermaßen betroffen. Dass nun diese Politik beispielsweise ihr gerade erst mit Müh und Not beschlossenes 49-Euro-Ticket aufgrund der Klimaproteste in ein 9-Euro-Ticket umwandelt, ist ziemlich zweifelhaft.

Zudem würde dies auch als ein Nachgeben der Politik gegenüber den Klimaprotestlern gewertet werden.

Die Politik – und damit der demokratische Rechtsstaat insgesamt – würde sich dem Verdacht aussetzen, schlicht erpressbar zu sein. Zudem zeigen Umfragen, dass 86 Prozent der Bevölkerung die Aktionen der Klimaaktivisten ablehnen. Für die Demokratie kann insbesondere problematisch werden, dass sie die Einrichtung sogenannter Bürgerräte fordern. Das zu akzeptieren wäre gefährlicher als irgendeine Klimaaktion.

Wolfgang Kraushaar, Jahrgang 1948, ist promovierter Politikwissenschaftler bei der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Kraushaar ist Experte für die Geschichte der Protestbewegungen und des modernen Terrorismus, er gilt als führender Chronist der 68er-Bewegung. Der Politologe veröffentlichte zahlreiche Bücher wie "Die Protest-Chronik 1949 – 1959" oder "Die blinden Flecken der RAF". Gerade erschien sein neues Werk "Keine falsche Toleranz. Warum sich Demokratie stärker als bisher zur Wehr setzen muss".

Weil diese Bürgerräte über keine demokratische Legitimation verfügen würden.

Das ist der entscheidende Punkt. Es kann nicht angehen, dass derartige Klimaproteste darauf hinauslaufen, das demokratische Prozedere auszuhebeln. Die "Letzte Generation" will die Klimakatastrophe zum Wohle aller Menschen abwenden – und leitet daraus das Recht ab, die Mittel zur Erreichung dieses Ziels selbst bestimmen zu können. Damit ermächtigt sie sich aber nur selbst. Die von ihr beschlossenen Maßnahmen sollen dann auch noch exekutiv durchgesetzt werden. Bei einem solchen Verfahren werden die demokratischen Prozesse ausgehebelt, über diese Gefahr wird meines Erachtens viel zu wenig gesprochen. Im Sinne einer wehrhaften Demokratie darf das nicht akzeptiert werden.

Bei Nichterfüllung der Forderungen droht dann wiederum die Eskalation der Klimaproteste wie neulich, als Klimaaktivisten den Flughafen BER lahmlegten.

Derartige Aktionen sind nicht neu, etwas Ähnliches hat die Endzeitgruppierung "Extinction Rebellion" 2019 schon beim Flughafen London Heathrow mittels Drohnen ausprobiert. In Deutschland sucht die "Letzte Generation" ständig nach neuen Terrains für ihre Proteste: Sie befindet sich offenbar in einem Prozess der Eskalation, die Radikalität ihrer Aktionen nimmt deshalb unablässig weiter zu.

In Berlin sorgte kürzlich der Unfalltod einer Radfahrerin für Empörung. Der Vorwurf lautet, dass eine gleichzeitig stattfindende Straßenblockade der "Letzten Generation" die Rettung der Frau möglicherweise verhindert habe.

Dieses Ereignis hat sicherlich mit zu einer verstärkten Ablehnung der Aktionen der "Letzten Generation" seitens der Bevölkerung geführt. Die Klärung des Sachverhalts obliegt aber den Ermittlern.

Bei den Straßenblockaden der "Letzten Generation" kommt es immer wieder zu verbaler bis hin zu körperlicher Gewalt seitens einiger Autofahrer gegen die Aktivisten. Könnte es weiter eskalieren?

Irgendwann wird irgendein Autofahrer Gas geben, anstatt zu bremsen – das ist meine Befürchtung. Die "Letzte Generation" orientiert sich mit ihrem zivilen Ungehorsam bislang eher an Mahatma Gandhi als an Che Guevara. Dass diese Gruppe irgendwann gewalttätiger auftreten wird, lässt sich nicht ganz ausschließen. Sich auf Straßen oder an Kunstwerken festzukleben ist bereits inakzeptabel, das nun aber auch auf den Rollfeldern von Flughäfen zu praktizieren, erst recht.

Nun beschwört der CSU-Politiker Alexander Dobrindt die Gefahr einer "Klima-RAF", die Gewerkschaft der Polizei (GdP) fordert die bundesweite Einführung einer Vorbeugehaft für Klimaaktivisten herauf, wie sie in Bayern bereits angewendet wird. Was halten Sie davon?

Das ist vollkommener Unsinn. Wir brauchen keine Vorbeugehaft gegen Klimaaktivisten, das Strafgesetzbuch bietet ausreichend Möglichkeiten, derartige Verstöße zu ahnden. Die "Letzte Generation" entwickelt sich auch nicht zu einer "Klima-RAF" – dafür sehe ich jedenfalls keine Hinweise. Das sind keine Klimaterroristen, sondern Klimafundamentalisten, wenn man so will.

Sie haben auf das geltende Strafrecht verwiesen, könnte die nun in Bayern eingesetzte Präventivhaft nicht ebenso eine Eskalation bewirken?

Das könnte sich in der Tat als ein großer Fehler erweisen, zumal die Verhängung von Haft gegen Personen, die sich noch gar keiner Straftat schuldig gemacht haben, ohnehin mehr als fragwürdig ist. Auch die Geschichte lehrt, dass unverhältnismäßige Härte seitens des Staates indirekt ungewollte Folgen haben kann.

Sie spielen auf das sogenannte Ebracher Knastcamp vom Sommer 1969 an? Auch damals war Bayern der Schauplatz.

Richtig. Ein linker Jura-Student, der noch nicht volljährig war, ist damals in München zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr ohne Bewährung verurteilt worden, die Anklage lautete auf Aufruhr und Landfriedensbruch. Es war ein überaus hartes Urteil – und eines, das die bereits erwähnten Folgen nach sich ziehen sollte. Die linke Szene nahm dieses Ereignis nämlich zum Anlass für besagtes Knastcamp im eher beschaulichen Ebrach in Franken. Andreas Baader und Gudrun Ensslin reisten an, auch Dieter Kunzelmann und Georg von Rauch. Für die Organisation zeichnete Fritz Teufel verantwortlich.

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Diese Auflistung klingt wie ein Who's who des deutschen Linksterrorismus. Baader und Ensslin wurden Anführer der Rote Armee Fraktion, Fritz Teufel gehörte der "Bewegung 2. Juni" an, Kunzelmann und von Rauch ließen sich bald nach dem "Knastcamp" im Nahen Osten im Bombenbau unterweisen.

Und exakt darin liegt das Problem, wenn der Staat selbst eskalierend eingreift. Es gab übrigens schon in den Sechzigerjahren eine große Debatte über die Vorbeugehaft. Ich halte sie für ein überaus zweischneidiges Schwert des Rechtsstaates – und kann nur an die anderen Bundesländer appellieren, sich nicht darauf einzulassen. In dieser Hinsicht ist Bayern ein ganz schlechtes Vorbild.

Von welcher Seite droht unserer Demokratie derzeit aber die größte Gefahr? Sie haben kürzlich ein Buch mit dem Titel "Keine falsche Toleranz" veröffentlicht, in dem Sie zur Wachsamkeit aufrufen.

Der Feind steht vor allem auf der rechten Seite. Allerdings nicht ausschließlich in der herkömmlichen Form, es hat sich etwas verändert. Erinnern wir uns etwa an die große "Querdenker"-Demonstration am 29. August 2020 in Berlin, die sich gegen die Corona-Maßnahmen richtete. Es kamen mehr als 100.000 Menschen zusammen.

Der dramatische Höhepunkt bestand darin, dass einige Hundert Demonstranten mit schwarz-weiß-roten Reichsflaggen das Reichstagsgebäude stürmen wollten.

Daran erkennt man bereits, aus welcher politischen Ecke der Wind wehte. Drei Polizeibeamten, die sich der Menge in den Weg stellten, haben wir es zu verdanken, dass es nicht zum Ernstfall gekommen ist. Zumindest der symbolische Schaden wäre immens gewesen.

Eine Heilpraktikerin, die bereits wegen der Verbreitung von Verschwörungsmythen aufgefallen ist, hatte die Demonstrierenden zuvor aufgeputscht.

Richtig. Es ist eine vollkommen wirre Geschichte, sie hatte der Menge zuvor erzählt, dass Donald Trump aus den USA eingeflogen sei – und man ihm nun beweisen müsse, dass das Volk seine Souveränität zurückfordern würde. Diese Vorstellung, dass Demonstrierende gewissermaßen die Staatsmacht erobern können, spielt nun auch bei den gegenwärtigen Montagsdemonstrationen eine wichtige Rolle. Diese Leute lehnen die rechtmäßig gewählte Regierung ab und stellen das so hin, als lebten wir in einer Diktatur. Das wird jetzt über den Winter vermutlich weiter zunehmen.

Rekordinflation und Energiekrise, Corona, Russlands Krieg gegen die Ukraine und das abnehmende Vertrauen in Politik und Rechtsstaat: Nicht selten wird unsere Gegenwart mit dem Ende der Republik von Weimar verglichen. Was halten Sie von solchen Behauptungen?

Das ist selbstverständlich Unsinn – von Weimarer Verhältnissen trennt uns doch einiges. Wir müssen aber wachsam sein: Die Krisen, insbesondere die wirtschaftliche Lage, haben zu einer Verschlechterung der Lebensverhältnisse geführt. Die Bundesregierung versucht vieles durch finanzintensive Maßnahmen zu kompensieren, manchen ist aber auch das nicht genug. Unzufriedenheit und Feindschaft gegenüber der Demokratie führen mittlerweile zu einer Verknüpfung verfassungsfeindlicher Strömungen, die sich verdichten können. Möglicherweise wird es in den neuen Bundesländern zukünftig zu einer Koalitionsbildung unter Einbeziehung der AfD kommen. Damit würde die Gefahr heraufbeschworen, dass demokratiefeindliche Kräfte mit an die Hebel der Staatsmacht gelängen.

In ihrem Buch bemängeln Sie, dass unsere Demokratie noch nicht wehrhaft genug sei. Was müsste sich ändern? Etwa gegenüber AfD, den "Reichsbürgern" und Corona-Leugnern?

Wir müssen die beständige Frage aufwerfen, ob unsere Ermittlungs- und Justizbehörden in der sich ändernden Bedrohungslage effizient genug aufgestellt sind. Im Laufe der Jahrzehnte haben wir ja immer wieder erleben müssen, dass der politische Charakter mancher Gewaltverbrechen heruntergespielt worden ist. Das ist eine der zentralen Aussagen meines Buches.

Haben Sie ein Beispiel?

Nehmen wir etwa das Attentat auf das Oktoberfest in München 1980. Lange war die Rede von einem Einzeltäter, dieser hatte jedoch allerbeste Kontakte zur rechtsterroristischen Wehrsportgruppe Hoffmann. Dieser Bezug ist vor allem durch den damaligen Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß auf fahrlässige Weise heruntergespielt worden. Die vielen ausländerfeindlichen Übergriffe, Morde und Brandanschläge während der Neunzigerjahre sind ebenso viel zu lange verharmlost worden. Es ist geradezu ein schlechter Witz, dass Institutionen damals davon sprachen, dass keine fremdenfeindlichen Motive zu erkennen gewesen seien. Von den verheerenden Ermittlungspannen bei der Aufklärung der Untaten des Nationalsozialistischen Untergrunds ganz zu schweigen. Im Falle des 2019 ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke haben die Ermittlungen allerdings zur schnellen Festnahme und Verurteilung des Attentäters geführt. Das lässt hoffen.

Um in Zukunft besser generell gewappnet zu sein, empfehlen Sie eine Neujustierung des Extremismuskonzepts.

Das bisherige Konzept ist eher ein Hindernis als eine Erleichterung. Die Behörden sprechen von einem Rechts- und Linksextremismus, auch vom islamistischen Extremismus. Ich halte das für einen Fehler – weil damit die Vorstellung verknüpft ist, dass wir es ausschließlich mit den Rändern der Gesellschaft zu tun hätten.

Womit ein Extremismus der Mitte gar nicht existieren würde.

Richtig! Wobei ich den Begriff der Radikalisierung bevorzuge, weil er die gesellschaftliche Dynamik besser abbildet und ihm die Tendenz zur Entgrenzung innewohnt. Wir haben es wieder einmal mit einem Radikalisierungsschema zu tun, das sich eben nicht nur auf die Ränder der Gesellschaft beschränkt, sondern die Mitte einbezieht. Im Zuge der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen ist dies überdeutlich geworden. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat deswegen eine neue Kategorie eingeführt: sogenannte Bestrebungen zur Delegitimierung des Staats. Damit sind Anfeindungen gemeint, die sich weder links noch rechts zuordnen lassen.

Ein Ziel, bei dem sich etwa die sogenannten Reichsbürger, die die Bundesrepublik nicht anerkennen, und "Querdenker" treffen.

Darin besteht die Gefahr. Nehmen wir die sogenannten Vereinten Patrioten, die Pläne schmiedeten, den Bundesgesundheitsminister zu kidnappen. Karl Lauterbachs Entführung sollte einen Putsch einleiten. Das muss man sich einmal vorstellen: Die mutmaßliche Anführerin dieser Gruppe war eine 75-jährige Theologin aus dem Erzgebirge. Von einem Extremismus der Ränder lässt sich hier wohl kaum noch sprechen.

Über einen "Rand" haben wir bislang allerdings nicht gesprochen: Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Gefährdung durch den Linksextremismus?

Auf der linken Seite gibt es eine nach wie vor eine anhaltende Gefährdung. Terroristische Ansätze, wie es sie von rechts gibt, kann ich im Augenblick allerdings nicht erkennen.

Vor dem Hintergrund des Scheiterns der Weimarer Republik, die von rechts wie links bekämpft worden ist – wie kann sich unsere heutige Demokratie am besten gegen ihre Feinde wehren?

Der SPD-Politiker Carlo Schmid, einer der Väter des Grundgesetzes, hat 1948 vom "Mut zur Intoleranz" gesprochen. Und zwar denjenigen gegenüber, die die "Demokratie gebrauchen wollen, um sie selbst umzubringen". Wenn wir diese Lehre beherzigen, wäre schon viel gewonnen.

Herr Kraushaar, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Wolfgang Kraushaar via Telefon
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