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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Olaf Scholz Darf er das?
Angela Merkel ist weg, Olaf Scholz ist da. 395 Stimmen, viele Glückwünsche und Blumen und sogar ein paar Äpfel hat er bekommen. Über eine Kanzlerwerdung, die auch ihre absurden Momente hatte.
So ganz sicher ist sich Angela Merkel nicht, was sie jetzt eigentlich machen soll. Was von ihr erwartet wird in dem Moment, ab dem nichts mehr erwartet wird von ihr. Also zumindest nicht mehr von ihr als Bundeskanzlerin, weil sie jetzt nur noch Bundeskanzlerin a. D. ist, außer Dienst, im Kanzlerinnenruhestand.
Klatscht man da für den Nachfolger?
Es ist 10.17 Uhr, als Angela Merkel auf der Ehrentribüne sitzt und hört, wie im Bundestag das Ergebnis der Kanzlerwahl verlesen wird: "Abgegebene Stimmen: 707. Ungültige Stimmzettel: 3. Mit Ja haben gestimmt: 395 Abgeordnete ..."
Applaus brandet auf, die meisten Abgeordneten und Gäste erheben sich. Der Bundestag hat Olaf Scholz zum neuen Kanzler gewählt. Es ist ein historischer Moment, ein friedlicher Machtwechsel nach 16 Jahren, die Kanzlerwerdung des Olaf Scholz, das Ende der Ära Merkel.
Und was macht sie? Sie täuscht kurz an aufzustehen und tut es dann doch nicht, klatscht zweimal langsam in die Hände, schaut irritiert hinüber zu ihrem Sitznachbarn und Parteifreund Norbert Lammert, der sich so gar nicht regt – und steht dann doch auf, auch ohne Lammert.
Man klatscht. Natürlich klatscht man.
Wenig Worte, viele Meter
"Er kann Kanzlerin", hat Olaf Scholz im Wahlkampf auf Plakate schreiben lassen, jetzt ist er Kanzler. Ob er das auch kann, das wird er die nächsten vier Jahre beweisen dürfen.
Olaf Scholz ist der vierte Sozialdemokrat in diesem Amt, nach Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder, der als Einziger noch lebt und im Bundestag dabei ist.
Die Kanzlerschaft des Olaf Scholz ist eine besondere, schon jetzt: Noch nie gab es eine Bundestagswahl, bei der die Amtsinhaberin einfach nicht mehr angetreten ist. Noch nie hatte die Partei eines Bundeskanzlers so wenige Stimmen. Und noch nie haben sich SPD, Grüne und FDP zusammengetan, um ihn trotzdem zu wählen.
Wie beginnt sie, diese besondere Kanzlerschaft? Wie läuft sie ab, diese Kanzlerwerdung des Olaf Scholz?
Nicht gerade sonderlich gesprächig, so viel kann man vorwegnehmen: Olaf Scholz wird nur wenige öffentliche Worte sagen dürfen an diesem Mittwoch. Und mit viel Hin und Her, das darf man auch verraten: Olaf Scholz wird vom Bundestag zum Schloss Bellevue zum Bundestag zum Schloss Bellevue zum Bundestag und dann, endlich, ins Kanzleramt fahren. Puh.
Zum Glück sind das jeweils nur wenige Hundert Meter.
9 Uhr, Bundestag: 395 Stimmen, viele Blumen und ein Korb Äpfel
Es dauert ziemlich genau eine halbe Stunde, 736 Namen vorzulesen. Weil die Abgeordneten im Bundestag am Mittwochvormittag dem Alphabet nach aufgerufen werden, um ihre Stimme für oder gegen den neuen Kanzler abzugeben, darf Olaf Scholz erst nach ungefähr 23 Minuten Olaf Scholz wählen.
Vorher müssen noch unter anderem drei Lehmanns (Jens, Sven und Sylvia), zwei Lindners (Christian und Tobias) und sehr, sehr viele Müllers (Alexander, Axel, Bettina, Carsten, Claudia, Detlef, Florian, Michael, Sascha, Sepp und Stefan) ihre Stimme in die Wahlurne werfen.
Ordnung muss sein.
"Schönen Dank für eure Bereitschaft, mich heute später zu wählen", soll Olaf Scholz um 8.30 Uhr seiner SPD-Fraktion gesagt haben. So zumindest schreibt es ein Abgeordneter auf Twitter. Es sei nur eine kurze Ansprache gewesen, heißt es aus Scholz' Umfeld, eigentlich sollte ja nur durchgezählt werden. Ein besonderer Tag sei das, eine große Freude mit euch gemeinsam, was man eben so sagt.
Ob dann wirklich alle aus der SPD für ihn stimmen, wird wohl ein Rätsel bleiben, die Wahl ist geheim. Alle Abgeordneten der Ampelparteien tun es jedenfalls nicht. 6 fehlen entschuldigt, sie sind krank, doch insgesamt sind es 21 Stimmen, die Scholz aus der Ampel nicht bekommt.
Wenn ihn das ärgert, lässt er sich das zumindest nicht anmerken. Scholz scheint den ganzen Tag durchzulächeln, jedenfalls sind seine Augen immer so klein, wie sie eben sind, wenn er lächelt. Der Mund ist unter einer Maske verborgen, es ist ja leider nicht alles gut, die verflixte Corona-Pandemie.
"Jetzt kommt die entscheidende Frage", sagt die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas um ungefähr 10.20 Uhr. "Herr Abgeordneter Scholz, nehmen Sie die Wahl an?" Und dann ist sein großer Moment gekommen, einer der wenigen, in denen er heute sprechen darf. Und aufstehen, eigentlich. Doch Scholz bleibt sitzen, nimmt die Maske ab, lässt das Mikro links liegen und sagt einfach: "Ja."
Hanseat bleibt eben Hanseat.
Olaf Scholz bekommt anschließend viele Blumen und Glückwünsche und Hände gereicht und sogar einen Korb voller Äpfel. Soll ja gesund sein. Und vielleicht beißt er zwischendurch mal in einen hinein. Denn schon muss er weiter, der Bundespräsident wartet. Also rein in die Limousine und ab ins Schloss Bellevue.
10.40 Uhr, Schloss Bellevue: Eine Minute mit dem Bundespräsidenten
Wenn Sie irgendwann mal in die Verlegenheit kommen, vom Bundespräsidenten eine Ernennungsurkunde zum Bundeskanzler zu erhalten, dann sollten Sie sie anschließend aufklappen und in die Kameras halten.
Hätte Olaf Scholz das vor seinem Kurzbesuch im Schloss Bellevue gewusst, dann wäre alles glatt gelaufen bei seiner offiziellen Ernennung zum Bundeskanzler. Vielleicht ein bisschen zu glatt. Ist ja auch langweilig.
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"Im Namen der Bundesrepublik Deutschland", liest Frank-Walter Steinmeier die Ernennungsurkunde vor, "ernenne ich aufgrund des Artikels 63 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland Herrn Olaf Scholz zum Bundeskanzler. Berlin, den 8. Dezember 2021. Der Bundespräsident und die Unterschrift." (Also Frank-Walter Steinmeier mit schwungvoll-großem F, W und S).
Als Scholz die Urkunde zugeklappt entgegennimmt, sagt FWS: "So, jetzt halten wir die, glaube ich, noch mal aufgeklappt in die Kamera." Auch kein Problem für Scholz, einmal lächeln, und dann geht es nach etwa einer Minute schon wieder zurück in den Bundestag.
Da darf Olaf Scholz dann sein zweites öffentliches Wort sprechen.
12 Uhr, Bundestag: Ein neuer Platz und ein paar mehr Worte
Als Olaf Scholz um 12 Uhr den Bundestag betritt, findet er seinen Platz nicht. Er steuert auf die SPD-Fraktion zu, will sich neben Fraktionschef Rolf Mützenich setzen, wo er schon am Morgen gesessen hat. Doch eine Mitarbeiterin des Bundestags fängt ihn ab.
Nee, nee, Herr Bundeskanzler, könnte sie gesagt haben, das ist jetzt nicht mehr Ihr Platz. Sie weist jedenfalls auf die Regierungsbank, und Olaf Scholz macht sich dann auch auf den Weg dorthin.
Er ist vom Bundespräsidenten zum Bundeskanzler ernannt worden – also darf er da jetzt auch sitzen. Ganz links auf der Regierungsbank im Bundestag, auf dem Stuhl des Kanzlers mit der Lehne, die ein paar Zentimeter höher ist als die der anderen Stühle seiner Ministerinnen und Minister.
Also setzt er sich, faltet die Hände (nicht zur Merkel-Raute) und genießt den Applaus.
Seine Eltern sind im Bundestag mit dabei, Christel und Gerhard Scholz. Eigentlich hält er sie aus der Öffentlichkeit heraus, heute gibt der Vater sogar Interviews. "Es ist schon etwas Erhebendes, ein Glücksgefühl", sagt er. Auch wenn das Glücksgefühl nicht ganz überraschend kommt. "Er hat mir schon mit zwölf gesagt, dass er Bundeskanzler werden will."
Das ist er mit der Ernennung durch den Bundespräsidenten jetzt ganz offiziell. Nur der Amtseid, der fehlt noch.
"Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde", liest der neue Bundeskanzler um kurz nach 12 Uhr aus der Urschrift des Grundgesetzes vor.
Die sogenannte Gottesformel, das "So wahr mir Gott helfe", spricht er nicht mit. Scholz ist zwar protestantisch getauft, aber später aus der Kirche ausgetreten. Und eben Hanseat, da hält man's kurz.
12.30 Uhr, 13.30 Uhr: Weil's so schön war, das Ganze einfach noch einmal
Als Bundeskanzler muss man viel reisen und vielleicht, um das zu üben, reist der Bundeskanzler schon am ersten Tag viel, wir sprachen davon. Bei seiner zweiten Reise zum Schloss Bellevue und wieder zurück zum Bundestag hat das Ganze ein bisschen was von Klassenfahrt.
Denn nun sind die Ministerinnen und Minister dran mit ihren Ernennungsurkunden und ihrem Amtseid. Ein Bus wäre also gar nicht so unpraktisch. Doch es fahren viele Limousinen hin und her. Nur einer kommt mit dem Fahrrad, Cem Özdemir, der neue Landwirtschaftsminister, ein Grüner, was auch sonst.
Im Schloss Bellevue sagt diesmal zumindest der Bundespräsident etwas mehr. Er spricht von der "Verantwortung für unser Land und mehr als 82 Millionen Menschen", "großen Herausforderungen" und sagt noch einige andere Sätze. Dann gibt es ein Klassenfoto und schon geht's wieder zurück.
Im Bundestag angekommen setzt sich die Klasse von Olaf Scholz dann auf die Regierungsbank, mit jeweils einem Platz Abstand wegen Corona, und alle leisten nacheinander ihren Amtseid. Neun Mal mit Gottes Hilfe, sieben Mal ohne (alle Grünen, Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze und Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt, genau wie der Kanzler, passt ja).
Olaf Scholz sitzt auf seinem großen Stuhl und lächelt in seine Maske. Gleich hat er's geschafft.
15 Uhr, Bundeskanzleramt: Endlich angekommen
Etwas mehr als eine Stunde später kommt Olaf Scholz nach den ganzen Umwegen dort an, wo er immer schon hinwollte seit er zwölf ist, zumindest wenn man seinem Vater glaubt. Im Bundeskanzleramt.
Er hat einen Blumenstrauß mitgebracht, für die bisherige Hausherrin, Kanzlerin a. D. Angela Merkel. Die gratuliert ihm erst mal, als sie ans Rednerpult tritt, weil sie das bisher noch nicht konnte von der Ehrentribüne im Bundestag aus. Geklatscht hat sie ja immerhin schon, mit etwas Verspätung zwar, aber das muss er ja nicht wissen, pssst.
"Herzlichen Glückwunsch, Olaf Scholz", sagt Frau Merkel also und wünscht "alles Gute und immer eine glückliche Hand für unser Land". Reimt sich sogar. "Nehmen Sie dieses Haus in Besitz und arbeiten Sie mit ihm zum Besten des Landes."
Auch Olaf Scholz bedankt sich bei der "lieben Frau Merkel, lieben Frau Bundeskanzlerin", und es klingt so, als meine er es durchaus ernst. "Das war eine große Zeit, in der Sie Kanzlerin dieses Landes waren, und Sie haben Großes bewegt", sagt der Neue. "Ich will gerne anknüpfen – wie soll man das sagen – an diese nordostdeutsche Mentalität", sagt er, lächelt und fügt hinzu: "So viel wird sich da nicht ändern."
Ob das eine gute Nachricht ist?
- Eigene Recherchen