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Zum journalistischen Leitbild von t-online.AfD-Chef unter Druck Zündet Meuthen jetzt die "nukleare Option"?
AfD-Chef Jörg Meuthen fremdelt zunehmend mit seiner Partei. Seine Machtbasis schrumpft, seine Gegner mobilisieren schon für seine Nachfolge. Doch noch lässt er sich alle Optionen offen.
Eine Tankstelle im tiefen Südwesten der Republik. Drei Männer in blitzweißen Hemden stehen in einer Parkbucht neben den Zapfsäulen und plaudern. Einer der drei, AfD-Chef Jörg Meuthen, kommt gleich auf das Offensichtliche zu sprechen: die imperialblaue BMW 7er Limousine, die er seit Kurzem seinen Dienstwagen nennen darf.
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"Den habe ich gewissermaßen Chrupalla zu verdanken", sagt er beim Einsteigen, fast entschuldigend. Tino Chrupalla, sein Co-Parteichef, habe die Limo für die oberste Parteiriege angeschafft. "Braucht er zum Arbeiten unterwegs, hat er gesagt." Die Innenausstattung könnte schlechter sein: naturbraune Ledersitze, XXL-Beinfreiheit, eingebaute Monitore, Ambientebeleuchtung. "Ich hätte mich mit weniger zufrieden gegeben, dagegen habe ich aber auch nichts", grinst er.
Partei könnte Stimmen verlieren
Meuthen ist gut drauf. Am Morgen hatte er im Europäischen Parlament EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen eingeheizt. Zumindest sieht er das so: Wetterte gegen den "Moloch Brüssel", "Umverteilungsorgien" und gegen von der Leyens angeblich "unersättliche Gier nach immer mehr Kontrolle über das Leben der Menschen". Die EU-Kommissionschefin saß, wie im Livestream zu beobachten war, zwei Meter daneben und ertrug die Tiraden stoisch. Meuthen fand, dass es gut lief.
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Nicht ganz so gut lief bisher der Wahlkampf: Die AfD steht Umfragen zufolge schlechter da als vor vier Jahren: 2017 mit 12,6 Prozent erstmals in den Bundestag eingezogen, verharrt die Partei seit Monaten auf einem Sockel von rund 11 Prozent. Im Wahlkampf spielte sie eher eine Nebenrolle, auch weil ihr es nicht gelang, ihre Themen zu setzen und Menschen jenseits ihres Stammklientels anzusprechen. Sollten sich die Umfragewerte am Wahlabend bewahrheiten, könnte die AfD von der derzeit drittstärksten Fraktion im Parlament auf die fünftstärkste beziehungsweise die zweitkleinste schrumpfen.
Das Elf-Prozent-Problem
"Wir stoßen schon seit gut zwei Jahren an die gläserne Decke", sagt AfD-Chef Meuthen im Ledersitz auf dem Weg zur "Badner Halle" im baden-württembergischen Rastatt, wo er gleich seinen Auftritt hat. Gründe dafür gebe es viele: Etwa das "aktuelle Bordpersonal" aus Co-Fraktionschefin Alice Weidel und Co-Parteichef Tino Chrupalla, mit denen sich schwerlich enttäuschte Unions- oder FDP-Wähler abwerben ließen. Das Duo wird unterstützt vom offiziell aufgelösten extrem rechten "Flügel" um den Thüringer Landeschef Björn Höcke. Meuthen hält das Netzwerk für "aktiver denn je".
Zum anderen die "toxischen" Punkte im Wahlprogramm, so Meuthen: Forderungen nach einem deutschen EU-Austritt und einem restriktiven Einwanderungsrecht nach japanischem Vorbild erschwerten den Zugriff auf bürgerliche Wählerschichten. Hinzukomme die Anbiederung so mancher AfD-Politiker an die "Querdenker", die zunehmend radikale Rhetorik, eine fehlende Brandmauer nach ultrarechts. Ginge es nach Meuthen, würde vieles anders laufen.
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"Verena wer?"
Wie sehr der AfD-Chef inzwischen mit Teilen seiner Partei fremdelt, zeigt der Auftritt am Abend. Die "Badner Halle" ist viel zu groß für die wenigen Besucher, die es trotz 3G und Maskenpflicht in den Saal geschafft haben. Auf rund 500 Plätze kommen vielleicht 50 Zuhörer – die meisten männlich und Ü40 –, entsprechend gedämpft ist die Stimmung.
Die Vorrednerin, eine chancenlose Direktkandidatin im Wahlkreis Rastatt, ist erklärte Impfskeptikerin und lässt in dieser Funktion einiges vom Stapel: Verena Bäuerle warnt vor den angeblichen Gefahren der Corona-Impfung, vor "medizinischen Versuchen" am Menschen und "impfgeschädigten Kindern, die nur noch zucken". Sie bringt das auf die etwas schiefe Formel: "Lieber Kinderspiel im Dreck als Pharma-Dreck im Kind."
Meuthens Miene verdunkelt sich von Minute zu Minute. Schaute der AfD-Chef zu Beginn von Bäuerles Rede noch ab und an freundlich zu ihr rüber, sitzt er nun in sich gekehrt auf seinem Platz und scheint sich in sein Handy zu flüchten.
Kurz vorher, beim Smalltalk im Backstage-Bereich, herrschte noch Unklarheit, wer überhaupt vor Meuthen spricht. "Verena wer?" fragte einer aus Meuthens Entourage. Erst eine Internetrecherche gab Aufschluss. "Ah, Bäuerle". Jetzt kennt jeder ihren Namen.
Der AfD-Chef hat schon vor langer Zeit gefordert, die Partei solle sich von den "Querdenkern" fernhalten – zum Unmut vieler Parteikollegen, die sich als parlamentarischer Arm der Corona-Leugner verstehen. Bei seiner Rede distanziert er sich auf offener Bühne von Bäuerles Impf-Äußerungen, nennt diese "krass", schiebt aber beschwichtigend hinterher, es sei legitim, das so zu sehen.
"Gender-Gaga" noch immer im Programm
Meuthen verzichtet auf allzu schrille Rhetorik, wirkt im Vergleich zum eben Gehörten weitgehend sachlich: Kritisiert die Corona-Krisenkommunikation der Regierung, wirbt aber zugleich für Verständnis für die Fehler der Anfangszeit; trommelt gegen unkontrollierte Masseneinwanderung, nennt aber die Aufnahme (eines limitierten Kreises) afghanischer Ortskräfte eine moralische Pflicht.
Nur gelegentlich peitscht er hoch: "Wer grün wählt, kann nicht bei Sinnen sein!", sagt er dann. Oder poltert gegen das "Gender-Gaga" der Meinungseliten. Es sind wenige gezielte Polemiken, die wie auf Knopfdruck Beifall im Saal auslösen. Die Knöpfchen, mit denen man ein AfD-Herzen erwärmt, kennt Meuthen noch gut. Doch er scheint sie nicht mehr alle drücken zu wollen.
Photoshop-Philipp in fies
"Ich will mich nicht verbiegen", sagt Meuthen nach der Veranstaltung, mittlerweile zurück auf den saubequemen Ledersitzen der Luxuslimo. Die zehrenden Machtkämpfe in der Partei, die persönlichen Animositäten, die Intrigen: Sie haben Spuren hinterlassen. Meuthen erzählt von Photoshop-Kampagnen gegen ihn, die ihn an absurden Orten zeigen sollen, um ihn zu diffamieren. "Wir tun immer so, als seien wir besser als die etablierten Parteien. Viele sind aber leider genauso."
Doch je stärker der interne Druck auf Meuthen wächst, desto kompromissloser scheint er zu werden, desto mehr schießt er mit offenem Visier. Den Parteitag in Kalkar Ende 2020 begann er mit einer Kampfansage gegen "immer aggressiver auftretende" Radikale und Provokateure in der Partei. Ein halbes Jahr zuvor überraschte er selbst Unterstützer mit der Idee, die AfD in zwei Teile zu spalten: in einen "freiheitlich-konservativen" und in einen radikalen.
"Das hat letztlich zu einer empfindlichen Abkühlung des Verhältnisses zu Alexander Gauland geführt: Gaulands Konzept, die Partei zu führen, lautet 'einig, einig’ – um scheinbar jeden Preis. Ich sehe das absolut nicht so. Ich bin zum Beispiel froh, wenn einige AfD-Kandidaten nicht in den Bundestag kommen."
Das "freundliche Gesicht des NS" darf in der Partei bleiben
Doch im immer offeneren Streit zwischen dem sogenannten gemäßigten Lager um Meuthen und den Radikalen musste der Parteichef zuletzt einige Niederlagen einstecken: Meuthens Versuch im Mai, seine Vertraute Joana Cotar und den Generalleutnant a.D. Joachim Wundrak als Spitzenduo für die Bundestagswahl zu installieren – gescheitert. Das Parteiausschlussverfahren gegen NRW-Landesvize Matthias Helferich, der sich in Chats als "das freundliche Gesicht des NS" ("NS" steht für Nationalsozialismus) bezeichnet hatte – vom Bundesvorstand mehrheitlich abgelehnt.
Hinzu kommt Meuthens Spendenaffäre, die längst nicht ausgestanden ist. Erst im Juni hatte die Staatsanwaltschaft die Aufhebung der Immunität Meuthens im Europäischen Parlament beantragt. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Solche tektonischen Verschiebungen im Machtverhältnis zwischen Gemäßigteren und Radikalen fördern die Fliehkräfte in der Partei. Uwe Junge, früherer AfD-Landeschef in Rheinland-Pfalz, verließ infolge der Causa Helferich im August die Partei. Das "Projekt AfD" erklärte er hinterher in einer Generalabrechnung auf Facebook für gescheitert. Das radikale Lager habe die Gemäßigten endgültig besiegt.
Ein Wahlkampf wie eine verkorkste Ehe
Die parteiinterne Dauerfehde führt zu einer eigentümlichen Wahlkampf-Choreographie der AfD: Die beiden Bundessprecher Meuthen und Chrupalla machen getrennten Wahlkampf. Wie in einer verkorksten Ehe, wo man in unterschiedlichen Schlafzimmern schläft, und der eine Partner nicht weiß, was der andere gerade treibt.
Um den Osten Deutschlands macht Meuthen weitgehend einen Bogen. In Sachsen hatte er eine Veranstaltung, in Mecklenburg-Vorpommern auch eine. In Thüringen? "Das ist Höckes kleines Reich."
Meuthen kandidiert wie schon im Jahr 2017 nicht für den Bundestag. Er geht dorthin, wo er eingeladen wird und wo ihm der örtliche Kreisverband wohl gesonnen ist. Parallel muss er sich als Europaabgeordneter um sein Mandat kümmern.
Zukunft an der Parteispitze unklar
Er habe "etliche" Wahltermine absolviert, sagt er. "Wenn Sie das jetzt schreiben, werden Leute sagen: 'Bei mir war er nicht'." Doch er habe sich nichts vorzuwerfen. Er reiße sich den Allerwertesten auf für die Partei. Hinterher soll niemand sagen können, er habe sich nicht voll eingesetzt. Hinterher?
Es sind diese Momente, in denen Meuthen die Tür einen Spalt breit öffnet, hin zur Frage, die Freunde wie Gegner seit Monaten umtreibt: Tritt er nochmal an als Parteichef?
Solche Hinweise gibt es zuhauf, sie schleichen sich wie U-Boote in seine Sätze und tauchen ab und an auf, etwa wenn er über das womöglich straffere Programm anderer Wahlkämpfer sagt: "Ich bin ja eh nicht der Spitzenkandidat." Oder wenn er über eine ausgefallene Veranstaltung nicht traurig ist, weil er dann mehr Zeit mit der Familie verbringen kann. Oder wenn er sagt: Als "oberster Parteisoldat" gebiete ihm sein Pflichtgefühl, alles zu geben im Wahlkampf. Sein Pflichtgefühl, nicht sein Wille zur Macht.
"Ach, der Bernd!"
Der BMW fährt am "Kehler Hof" vor. Ein familiengeführtes Restaurant in vierter Generation mit rustikalem Ambiente. Meuthen bestellt ein Pils und die "Gemeinderatspfanne": Schweinemedaillons in Rahmsauce, hausgemachte Spätzle, Gemüse vom Markt. "Fotografieren Sie das nicht. Sonst denken alle, jetzt wüssten sie, woher die Wampe kommt!", sagt er, lacht und lässt es dann doch geschehen.
Nochmal: Bleiben oder gehen?
"Es ist keine Frage des Könnens, sondern des Wollens", sagt er. "Entweder ich bereinige den Laden und die Leute ziehen mit oder ich lasse es. Als bürgerliches Feigenblatt gebe ich mich nicht her." Er ist überzeugt: Egal, wer im Dezember nach dem Parteivorsitz greifen wird: "Ich würde das gewinnen, gegen jeden." Auch gegen Höcke? "Ach, der Bernd!", Meuthen lacht laut. Der habe sich trotz mehrfacher Aufforderung nie aus seiner kleinen thüringischen Trutzburg herausgewagt.
Meuthens drei Optionen
Angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse in der AfD scheint Meuthen drei Optionen zu haben:
1. Er kandidiert erneut als Parteichef und geht damit auf volle Konfrontation mit dem radikalen Lager.
2. Er lässt es bleiben und konzentriert sich auf sein Mandat als Europaabgeordneter.
3. Die "nukleare Option": Er verlässt die Partei, aber nicht im Frauke-Petry-Style, sondern planvoll, abgesprochen und gemeinsam mit anderen.
Variante zwei scheint am wahrscheinlichsten. Konkret äußern zu solchen Planspielen wolle er sich nicht. "Ich habe keine Eile."
Noch wird er gebraucht
Was Meuthen zugutekommt: Selbst seine Gegner brauchen ihn, noch. Siegbert Droese vom sächsischen Landesverband bringt das Tage später in einem Telefonat etwas verklausuliert auf den Punkt: Er bedaure zwar die "Entfremdung" zwischen ihm und "Herrn Professor Meuthen". Gleichwohl verdanke die AfD ihm viel. Meuthen könnte sich künftig gerne weiter in der Partei einbringen, nur eben nicht mehr an der Spitze. "Wir wollen niemanden vom Hof jagen."
Die Medaillons und Spätzle auf Meuthens Teller haben sich mittlerweile verabschiedet. Der Wirt bringt ein zweites Bier für den Parteichef und den Reporter. "Danach ist aber Schluss!", gelobt Meuthen. Er sagt das auch ein bisschen zu sich selbst, denn der Tag war lang und das frisch gezapfte Pils schmeckt.
"De Masi, guter Mann"
Bei einer Zigarettenpause vor dem "Kehler Hof" kommt das Gespräch auf Fabio De Masi. Der Linken-Politiker, der eine prominente Rolle bei der Aufklärung des Wirecard-Skandals spielte und parteiübergreifend Respekt genießt, hatte im Frühjahr seinen Rückzug aus der Politik verkündet. Parteiinterne Machtkämpfe, Postengeschachere, ein Beruf, der das Privatleben verschlingt – der Finanzexperte hatte genug.
"De Masi, guter Mann", sagt Meuthen und bläst Rauch in die Dunkelheit. Aus der Politik auszusteigen, bevor man zum sozialen Wrack wird – Meuthen gefällt der Gedanke. "Ich gehöre nicht zu denen, die ohne Politik nicht leben können." Der 60-Jährige überlegt noch kurz und geht zurück in den Gasthof. Drinnen wartet noch ein halbes Bier.
Aufhören, wenn es am schönsten ist
Eine gute Woche später, am 24. September, steht Meuthen vor dem Schloss Charlottenburg in Berlin auf einer Bühne. Seine Vorredner: Alice Weidel und Tino Chrupalla. Es ist Wahlkampfabschluss der AfD, die einzige gemeinsame Veranstaltung mit Meuthen und dem Spitzenduo.
Vor einigen hundert Anhängern zündet Meuthen nochmal ein paar Raketen. Er hat Energie, nicht wie in Rastatt. Wieder geht es gegen EU-Zentralismus und die "sozialistische Zwangsbeglückung" durch Brüssel. "Nicht nur Merkel muss weg, auch von der Leyen muss weg!" donnert er durch das Mikro. Großer Beifall.
Meuthens Pitch an diesem Freitagabend ist simpel: Brüssel scheint fern, aber bestimmt den Alltag der Deutschen jeden Tag. Umso wichtiger ist es, dass jemand wie er vor Ort ist und dagegen hält. Es klingt wie das "Vergesst mich nicht" der Politikerreden.
Am Ende steht Meuthen noch ein paar Sekunden neben dem Pult und genießt den Applaus. Er winkt zum Abschied, kostet den Moment aus. Dann wird er von der Bühne gebeten, der nächste ist dran.
- Eigene Recherche