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Schriftstellerin Ines Geipel: "Wir leben im Osten in einer Kampfzone"


"Der Westen hat die Nase voll von der Abgehängten-Saga des Ostens"

Von Marc von Lüpke und Florian Harms

Aktualisiert am 22.09.2021Lesedauer: 8 Min.
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AfD-Wahlkampfveranstaltung in Königs-Wusterhausen (Archivbild): Die AfD ist in Ostdeutschland zu einer dominierenden Kraft geworden, sagt Ines Geipel.Vergrößern des Bildes
AfD-Wahlkampfveranstaltung in Königs-Wusterhausen (Archivbild): Die AfD ist in Ostdeutschland zu einer dominierenden Kraft geworden, sagt Ines Geipel. (Quelle: Christian Mang/imago-images-bilder)

Der Wahlausgang im Osten wird gefürchtet, denn dort ist die AfD stark. Aber warum? Weil sich viele Ostdeutsche an die falschen Demütigungen erinnern, erklärt die Schriftstellerin Ines Geipel im t-online-Interview.

Deutschland wählt in wenigen Tagen einen neuen Bundestag – und der Westen des Landes blickt ängstlich gen Osten. Denn in Ostdeutschland ist ein großer Erfolg der AfD zu befürchten. Daran sind auch die anderen Parteien nicht unschuldig, sagt die Schriftstellerin Ines Geipel. Im Wahlkampf habe der Osten keine Bedeutung.

Warum aber ist Deutschland mehr als 30 Jahre nach der Einheit immer noch nicht wirklich vereint? Warum empfinden sich viele Menschen im Osten als Opfer, warum gibt es dort so viel Zorn? Weil die DDR zwar als Staat vergangen ist – die Wunden, die sie in den Seelen der Menschen hinterlassen hat, aber noch lange nicht, erklärt die gebürtige Sächsin Geipel. Ein Gespräch über die mentale Abwehrhaltung der Ostdeutschen gegenüber dem Westen, warum in Dresden ein neuer König recht willkommen wäre – und den Extremismus, der nun das ganze Land gefährdet.

t-online: Frau Geipel, in wenigen Tagen wählen die Deutschen ein neues Parlament. Im Westen sind die Befürchtungen groß, dass die AfD im Osten erneut gut abschneidet. Zu Recht?

Ines Geipel: Ich war letzte Woche in Schwerin. Da ist auf den Wahlplakaten natürlich viel Manuela Schwesig von der SPD, ein bisschen die Linkspartei, CDU und FDP kommen fast gar nicht vor. Ansonsten hängt an den Ausfallstraßen in fünf Etagen AfD, AfD, AfD. So mau deren Wahlkampf auch war, die aggressive Abwehr der Gegenwart und des Westens wird der Partei erneut viele Stimmen einbringen.

Was meinen Sie mit Abwehr des Westens?

Vielen im Osten geht es mittlerweile ganz passabel. Da stehen zwei, mitunter drei Autos vorm Haus. Im Norden kommt des Öfteren noch ein Boot dazu. Zugleich gibt es diese Mainstream-Blase, die uns seit Jahren erzählt, dass die Menschen im Osten alles Abgehängte, Übernommene, Bürger zweiter Klasse sind. Schuld daran sei freilich der Westen.

Woher kommt diese Unzufriedenheit?

Es wird verteidigt, was man sich in den letzten 30 Jahren erarbeitet hat. Wieso auch nicht? Allerdings führt das zunehmend zu einer Mythologisierung von Wut als vermeintlich Benachteiligte. Dabei muss das "Fremde" und "Westliche" heftig abgewehrt werden.

Ines Geipel, 1960 in Dresden geboren, ist Schriftstellerin und Professorin an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch". 1989 floh die frühere Leistungssportlerin aus der DDR in den Westen. Sie hat viel diskutierte Bücher zur Geschichte des Ostens veröffentlicht, über seine Gewaltgeschichte, verfemte Literatur, Zwangsdoping und über die Transformationen nach 1989. Zuletzt erschien 2019 ihr Bestseller "Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass".

Sie meinen also, in Wahrheit fühlen sich die Menschen im Osten gar nicht abgehängt, sondern wollen nur alles, was sie an materiellem Wohlstand erworben haben, gegen imaginäre "Fremde" verteidigen?

Eine Erzählung, die für Ost wie West auch ganz bequem ist. So muss man nichts ändern. Ja, es gab sie, die Demütigungen und Ungerechtigkeiten nach 1989, keine Frage. Aber wollen wir jetzt noch 30 Jahre darauf hocken bleiben? Auffällig ist doch, dass die vielen Demütigungen, die die Ostdeutschen vor 1989 erlitten haben, völlig außen vor bleiben. Von der doppelten Diktaturgeschichte – erst Nationalsozialismus, dann Kommunismus – ganz zu schweigen. Die Aufarbeitung von mehr als 50 Jahren Diktaturerfahrung wird im Osten aversiv abgewehrt.

Aber warum haben immer noch viele Menschen ein positives Bild vom Unrechtsstaat DDR?

Das Heute muss funktionieren. Das geht nur, indem das, was im Osten schmerzt, weggehalten wird. Das wiederum spielt politischen Interessen in die Hände. Die PDS, die sich heute Linkspartei nennt, hat das Ost-Kollektiv nach 1989 erfolgreich gepampert. Dann kam 2015, und die AfD hatte leichtes Spiel, sich das zu kapern. Die vermeintlich guten Erinnerungen – das ist am Ende die Sehnsucht nach Unschuld, nach Märchen, nach politischem Biedermeier. Das bei drei Millionen Opfern von DDR-Unrecht.

Viele Beobachter sind immer wieder erstaunt, wie stark die AfD in Ostdeutschland geworden ist. Ursprünglich stammte die Partei ja aus Westdeutschland.

Der Kern des Erfolgs sowohl der Linken als auch der AfD heißt runtergebrochen DDR. Das ist emotional noch der stabilste gemeinsame Nenner. Wut wird so zur Verneinungsstrategie.

Sie selbst stammen aus Sachsen, wo sich die AfD einen großen Erfolg bei der Bundestagswahl erhofft. Warum ist die Partei gerade dort so stark geworden?

Sachsen ist intensiv und strategisch von AfD-Leuten aus dem Westen bespielt worden. Dazu kommt: Sachsen hat ein ziemlich barockes Verhältnis zur Demokratie. Schaut man genauer hin, steckt da allerhand Antidemokratisches drin.

Inwiefern?

Nicht wenige Dresdner würden lieber ihren alten König wiederhaben als eine Frau Merkel. Wie oft ich auf Dresdner Veranstaltungen gehört habe: Wir leben hier längst in der dritten Diktatur. Heute wird Sachsen immer wieder für seine Widerspenstigkeit gegen "die da oben" gefeiert. Das ist ein Grad an Realitätsverleugnung, der nur schwer erträglich ist.

Aber Sie können doch nicht abstreiten, dass auch sehr viele Sachsen überzeugte Demokraten sind.

Gerade weil Sachsen zum politischen Experimentierfeld der Rechten geworden ist, hat sich da enorm viel getan, ja, viel tun müssen. Das Dresden von 2021 etwa ist nicht das Dresden von 2013 oder 2014. Es gibt echten Bürgersinn und viel Initiative. Trotzdem ist diese kollektive Ostalgie nicht gerade inspirierend.

Was lässt sich gegen diese Mentalität tun?

Politische Analyse, Ostkompetenz in den Parteien und Institutionen, viel politische Bildung in den Schulen und der Gesellschaft, dazu starke Bücher und Filme, alles in allem ein New Deal zwischen Ost und West, der auf ein deutsch-deutsches Gedächtnis setzt und die bequemen Medienblasen, etwa von den ewig Abgehängten, nicht mehr bereit ist hinzunehmen. Das ist längst kein ostdeutsches Ding mehr!

War der Umgang westdeutscher Politiker mit den neuen Bundesländern ab 1990 naiv?

Letztlich waren wir alle naiv und haben uns die Zeit nach 1989 leichter vorgestellt. Aber was wussten wir vom Traumaland Ost, von der Erfahrungswucht einer Doppeldiktatur? Der Westen ging davon aus, es brauche mit 1989 vor allem Geld. Die Infrastruktur der Seelen war kein Thema. Man wollte die schöne Einheitserzählung. Nun gibt es drei Generationen im Osten, die zwar keine Diktaturerfahrung mehr haben, aber von denen viele eine rechtsautoritäre Diktatur wollen. In der Alterskohorte zwischen 15 und 30 liegt das Verhältnis bei 16,6 Prozent im Osten zu 2,2 Prozent im Westen. So jedenfalls die letzte Studie dazu. Und nun?

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Dabei haben junge Leute die DDR doch gar nicht selbst erlebt.

Es geht ja auch nicht um Realitäten, sondern um Bilder, Klischees, um hartnäckige Generationsweitergaben. Die 68er im Westen sind irgendwann in die Gegenidentifikation zu ihren Eltern gegangen. Viele der Jungen im Osten jedoch verteidigen ihre Eltern und Großeltern. Sie stecken in der Überidentifikation und damit in der Schuldschlaufe. Das müssten wir endlich entkoppelt kriegen.

Sind diese Jungen für die Demokratie verloren?

Niemand ist jemals unwiderruflich verloren. Die Jungen sind die Antwort auf die große Amnesie im Osten. Sie sprechen ja nur aus, was die Älteren in sie hineinerzählt haben: "Merkel muss weg!", "Hängt die Grünen!", "Der Westen ist schlimm!" Das sind die Sätze der Alten, während die in ihren schicken Häusern sitzen oder im SUV rumfahren.

Könnte das nicht auch daran liegen, dass die Befindlichkeiten der Ostdeutschen von Politikern abseits der AfD und der Linkspartei nur wenig aufgegriffen werden, etwa jetzt im Bundestagswahlkampf?

Der Osten spielt im aktuellen Wahlkampf keine Rolle, das ist richtig. Mein Eindruck ist, der Westen hat die Nase ziemlich voll von der Abgehängten-Saga des Ostens. Und im Osten wird sofort dagegengehalten, wenn es mal um was Problematisches geht. Besprochen werden kann letztlich nur noch, was pünktlich mit 1990 beginnt. In diesem Milieu kann die AfD auf bürgerliche Mitte mimen und setzt strategisch auf Normalität. Kurzum: Der Osten baumelt im historischen Niemandsland. Ein Grund mehr, sich nach der Wahl erneut als Opfer aufzustellen.

In einem Ihrer Texte schreiben Sie sogar, die Ostdeutschen würden sich selbst als "Super-Opfer" sehen. Was meinen Sie damit?

Diese Opfererzählung hat historisch einen langen Faden und insbesondere mit dem Roten Antifaschismus und dem inneren Ost-Kollektiv zu tun. Diktaturen sind ja auch immer Entlastungserzählungen. Egal wie, man ist immer unschuldig an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen. Das hat bei Lichte besehen etwas Unversorgtes, ist letztlich eine Traumaerzählung. Und das meine ich mit "Super-Opfer". Menschen in Belarus oder der Ukraine würden sich die Augen reiben, was es in Deutschland alles so zu meckern gibt.

Sind Menschen vielleicht einfach zu vergesslich?

Wir vergessen in einem fort. Aber es gibt ein paar Dinge, die sollten uns nicht wegrutschen. Ich war kürzlich auf einer Lesung in Leverkusen. Danach sprach mich eine Frau an. Es war die Schwester von Manfred Smolka. Sein Schicksal ist leicht zu googeln. Eins der furchtbarsten Schicksale in der DDR. Kennen wir ihn, ist er in unseren Herzen? 1989 wollten die Ostdeutschen zuallererst eine Diktatur loswerden. Wir wollten raus, wir wollten zur Welt gehören. Aber bedeutet uns das noch was?

Immer wieder wird aber die fehlende Würdigung für die Lebensleistungen der Ostdeutschen beklagt.

Die Leistung des anderen zu würdigen ist immer eine gute Sache. Aber das hier sieht nach politischem Patt aus. Gesetzt den Fall, die Westdeutschen würdigen die Ostdeutschen. Und dann? Nicken wir uns dann freundlich zu und alles ist paletti? Diese Forderung hat in meinen Augen etwas Apolitisches und will vor allem eins: aufhalten.

Also sollten Ihrer Ansicht nach die Ostdeutschen erst einmal intensiv ihre eigene Geschichte aufarbeiten?

Zumindest macht das vielbesungene Empowerment Ost nicht wirklich Sinn, wenn das Historische demonstrativ außen vor bleiben muss. Mich erinnert die Geschichte Ostdeutschlands an einen ewig vor sich hinköchelnden Eintopf, bei dem unten am Boden ein dicker Bast brodelt, den man nicht mehr abgelöst, geschweige denn sortiert bekommt. Wir haben noch immer kein Referenzsystem, in das hinein wir uns den Osten erzählen können. Wer war Opfer, wer Täter? Was müssen wir wirklich klären? Die Jahrzehnte gehen ins Land. Aber sind wir über die Zeit klarer geworden?

Finden Sie eigentlich, dass die Wiedervereinigung 1990 zu früh kam? Hätte die DDR lieber eine Zeit lang als demokratischer Staat neben der Bundesrepublik weiterexistieren sollen?

1990 stießen zwei völlig konträre Systeme aufeinander. Natürlich wurden da auch Fehler gemacht. Das war im Grunde unumgänglich. Aber wäre eine verschobene Einheit die Lösung gewesen? Hätte die DDR weiterbestanden, hätten sich die Netzwerke aus Stasi- und Parteileuten noch mehr sichern können, als sie sich eh schon gesichert haben.

Welche Rolle spielen diese Netzwerke heute noch?

Sie sind da und nach wie vor bestens organisiert, natürlich subtiler und camouflierter als zu DDR-Zeiten. Ich habe mein letztes Buch aus gutem Grund "Umkämpfte Zone" genannt, denn wir leben im Osten tatsächlich in einer Kampfzone. Da gibt es viel Untergründiges, das mitunter aufplatzt wie ein Eiterpickel. Die alte Machtspitze ist zwar gekappt, aber die innere Logik des Systems besteht weiterhin. Der neue Osten hat in vielen Regionen bestenfalls oberflächlich demokratische Strukturen. Nein, lassen Sie es mich so sagen: Ostdeutschland leistet sich seine Art Sonder-Demokratie.

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Puh, das klingt hart.

Es wird immer die Diskussion geführt, warum wir keine Dax-Konzerne in Ostdeutschland haben. Wir sollten darüber sprechen, wer in den Stadträten, in den Behörden, wer unterhalb der Spitze sitzt und wie sich das Alte erhalten konnte. Es sieht vieles äußerlich ganz passabel aus. Dabei haben wir weiter schwer mit dem Identitätsverlust des Ostens zu kämpfen. Es ist unheilvoll, das auf Dauer wegzuschweigen.

Welche Folgen hat das?

Ob Sachsen, Brandenburg oder Thüringen: In jedem dieser Bundesländer war bei den Landtagswahlen rund ein Viertel der Wähler bereit, einen Rechtsextremisten zum Regierungschef zu wählen. In dieser Verfassung wird Ostdeutschland immer eine Einflugschneise für Extremismus aller Art sein. Es geht dabei vor allem um die breite Schar derer, die das abnicken. Es geht um unseren Umgang damit.

Nun kandidiert der ehemalige Bundesverfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen in Thüringen für die CDU. Was halten Sie davon?

Diese westdeutsche Politikklientel kommt in den Osten, weil sie nur da noch was werden kann. Ob sie nun Maaßen oder Andreas Kalbitz heißen. Das hat was Unanständiges, eine traumatisierte Gesellschaft derart zu missbrauchen.

Wir haben nun viel über die Vergangenheit gesprochen. Blicken wir einmal in die Zukunft: Wann wird Deutschland wirklich wiedervereint sein?

Wir sind doch vereint, seit über 30 Jahren! Aber Ost und West verhalten sich mittlerweile wie ein Ehepaar, das sich erschöpft aufgibt. Dabei ist so viel da. Erfahrung, Geschichte, Kultur, Brüche. Wieso soll das alles nicht gelten?

Frau Geipel, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Ines Geipel via Telefon
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