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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Streit über Waffenpaket eskaliert Riskantes Manöver
Im Streit über zusätzliches Geld für die Ukraine bezichtigt Kanzler Scholz seine Gegner der Lüge. Hat er recht? Oder ist er derjenige, der die Unwahrheit verbreitet?
Der Zoff um die Ukraine-Hilfen wird zur Schlammschlacht. Am Montag verschärfte Kanzler Olaf Scholz (SPD) den Ton deutlich und warf seinen Kritikern vor, Lügen zu verbreiten. Bei einer Veranstaltung der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" sagte Scholz, im Augenblick werde "mit größter Intensität, großer Umsicht das deutsche Volk belogen". Auf Nachfrage, auf wen er damit abziele, sagte Scholz, gemeint seien all jene, die in der Ukraine-Debatte die Frage ausklammerten, wie man die Hilfen finanzieren soll.
Den politischen Gegner der Lüge zu bezichtigen, ist problematisch: Man kann in der Regel nicht beweisen, dass der Gemeinte absichtlich die Unwahrheit sagt. In der politischen Kultur der demokratischen Mitte fällt der Vorwurf daher selten. Dass Scholz diese Konvention bricht, insbesondere bei einer durchaus umstrittenen Frage, ist darum bemerkenswert. Bedeuten könnte es zweierlei: Entweder er fühlt sich in der Defensive – oder er meint, die Debatte durch zusätzliche Schärfe für sich gewinnen zu können.
Für das drei Milliarden Euro schwere Waffenpaket für Kiew ist es letztlich unerheblich: Stand jetzt wird es wahrscheinlich nicht kommen. Mit den Geldern sollte die Ukraine Iris-T-Luftverteidigungssysteme, Lenkflugkörper für Patriot-Systeme, Radhaubitzen und Munition kaufen. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hatten das Vorhaben monatelang vorbereitet. Ziel war es, das Paket noch vor der Wahl am 23. Februar auf den Weg zu bringen – auch als Signal an den neuen US-Präsidenten Donald Trump, dass Europa an seiner Unterstützung festhält.
Eine (fast) unerfüllbare Bedingung
Doch gerade jetzt, da die Vorbereitungen laut Pistorius abgeschlossen sind, schiebt das Kanzleramt den Riegel vor. Die Begründung des SPD-Kanzlerkandidaten: Es sei kein Geld da. Nur über neue Kredite ließen sich die Schecks für neue Waffenkäufe finanzieren, und dafür müsste die Schuldenbremse ausgesetzt werden, so die Scholz-Linie. Das Problem: Ein sogenannter Überschreitungsbeschluss, der höhere Schulden erlauben würde, erfordert eine Mehrheit im Bundestag, also die Zustimmung der Unions- oder FDP-Abgeordneten im Bundestag. Und die machen nicht mit.
Scholz weiß das natürlich. Was wiederum den Schluss nahelegt, dass der Kanzler das Scheitern des Ukraine-Pakets bewusst in Kauf nimmt.
Die Kanzlerpartei hat das Waffenpaket damit de facto auf Eis gelegt. Für den Architekten Pistorius ist das doppelt peinlich, da er einerseits stets für eine kontinuierliche Unterstützung der Ukraine warb und andererseits gerade in Kiew war, wo man – vergeblich – auf die finale Zusage des Ministers gehofft hatte.
Harte Kritik von allen Seiten
Aus der Opposition gibt es heftige Kritik, doch auch Scholz' letzter verbliebener Koalitionspartner ist sauer. Der Haushaltspolitiker der Grünen, Sebastian Schäfer, sagt t-online: "Während Putin seinen Raketenterror gegen die Ukraine fortsetzt, blockiert der Kanzler mit fadenscheinigen Argumenten ein wichtiges, dringliches Hilfspaket." Es sei "schlicht falsch", dass man die Schuldenbremse aussetzen müsse, um die drei Milliarden zu stemmen. Der Haushaltsabschluss für 2024, der eine Rücklage von über zehn Milliarden ergab, eröffne "ausreichende Finanzierungsspielräume", so Schäfer.
Die SPD hält dagegen. In einem Papier, das der Parteivorstand am Dienstag verschickte und das t-online vorliegt, bekräftigt die Partei ihre Haltung in der Ukraine-Frage. "Bei der Bundestagswahl geht es zentral um die Frage, wer die Zeche zahlt. Aktuell wird über zusätzliche drei Milliarden Euro für die Ukraine gesprochen", heißt es in dem Dokument.
Die SPD wirft beiden Parteien vor, "Einsparungen bei den Sozialausgaben" zu planen (Union) oder Milliarden bei der Rente und den Kommunen kürzen zu wollen (FDP). Auch die drei Milliarden Euro für das Ukraine-Paket würden, so der implizite Vorwurf, die Union und die FDP aus dem Sozialstaat schneiden. Belege gibt es dafür nicht, aber die Botschaft ist auch hier: Wenn die Schuldenbremse nicht ausgesetzt wird, werden die Ukraine-Gelder zulasten von Rentnern und Kommunen gehen.
Das Gift des "Entweder-oder-Denkens"
Die SPD und ihr Kanzlerkandidat sind im Wahlkampf an einem Punkt angekommen, den sie eigentlich stets ausgeschlossen hatten: nämlich die Hilfen für Kiew als Widerspruch zu Geld für Sozialleistungen in Deutschland darzustellen. Der Kanzler hat eine Neiddebatte vom Zaun gebrochen, die den Bürgern noch lange in den Köpfen hängen wird.
Zwar sagt Scholz, dass er das gegenseitige Aufrechnen – das "Nullsummendenken", wie er es nennt – gerade verhindern wolle. Daher auch sein Plädoyer für die Aussetzung der Schuldenbremse, damit niemand zu kurz komme.
Doch zugleich lässt die SPD derzeit kaum eine Gelegenheit aus, die Befürchtung von Rentnern zu nähren, die Ukraine-Hilfe könnte auf ihre Kosten gehen. SPD-Generalsekretär Matthias Miersch sagt das inzwischen so deutlich wie kein zweiter Sozialdemokrat: "Wir können der Ukraine nichts geben, was wir unseren Rentnern oder den Kommunen wegnehmen müssten." Eine Aussetzung der Schuldenbremse sei nötig, "damit sich der Staat die zusätzlichen drei Milliarden Euro für die Ukraine leihen kann", so Miersch.
Riskantes Manöver
Noch vor Kurzem klang das anders. Im November, kurz nach Scholz' Rauswurf von Finanzminister Christian Lindner (FDP), sagte der Kanzler: "Dieses 'Entweder-oder' ist Gift. Entweder Sicherheit oder Zusammenhalt, entweder die Ukraine unterstützen oder in Deutschlands Zukunft investieren." Diesen Gegensatz aufzumachen, sei "falsch und gefährlich" und "Wasser auf die Mühlen der Feinde unserer Demokratie".
Nun muss sich die SPD selbst den Vorwurf gefallen lassen, sie agiere in der Ukraine-Frage populistisch. Der CDU-Europapolitiker Dennis Radtke attestierte der SPD, mit den Miersch-Aussagen nun "auf dem Niveau von AfD und BSW angekommen" zu sein. "Rentner und Soziales gegen Ukraine-Unterstützung auszuspielen ist falsch, dumm und brandgefährlich", schrieb er auf X.
Auch in der eigenen Partei erntete Miersch Widerspruch. Der SPD-Außenpolitiker Michael Roth schrieb auf X: "Keine Rentnerin und kein Rentner müssen Angst davor haben, dass wegen unserer Solidarität mit der Ukraine Renten gekürzt werden."
Widerspruch aus der Wissenschaft
Das Hauptproblem der SPD bleibt bei alldem: Sie kann ihre Behauptung nicht belegen. Neue Schulden sind zwar eine Möglichkeit, das Ukraine-Paket zu finanzieren, aber eben nicht die einzige. Und so stellen nicht nur Haushaltspolitiker der Grünen, Union, FDP und selbst der SPD die Äußerungen des Kanzlers infrage.
Auch Henning Tappe, Experte für Haushaltsrecht an der Uni Trier, widerspricht. Tappe, der nach dem Karlsruher Haushaltsurteil 2023 als Sachverständiger in den Bundestag geladen wurde, verweist auf die Möglichkeit außer- oder überplanmäßiger Ausgaben im Grundgesetz. Laut Artikel 112 könne der Bund bei Vorliegen eines "unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses" eine Ausgabe tätigen, ohne sofort Einsparungen an anderer Stelle zu spezifizieren.
Eine "außerplanmäßige Ausgabe" sei auch möglich, wenn es, wie aktuell, gar keinen "Plan" – also einen beschlossenen Haushalt – gebe, so der Rechtswissenschaftler. Das sei "vom Bundesverfassungsgericht geklärt". Tappe sagt aber auch: "Natürlich stellt sich irgendwann die Frage der Deckung. Spätestens, wenn die nächste Bundesregierung den Haushalt 2025 aufstellt, müssen die drei Milliarden für die Ukraine gegenfinanziert werden." Das sei dann Sache der Bundesregierung und vor allem des Haushaltsgesetzgebers, des Bundestages, zu entscheiden, woher das Geld kommt.
Kritik aus der Ukraine
Unklar bleibt bislang auch, was die SPD mit ihrem Kurswechsel bezweckt. Bislang setzten die Sozialdemokraten im Ukraine-Wahlkampf auf direkte Attacken gegen Friedrich Merz. Sie versuchten, ihn als gefährlichen Eskalationstreiber darzustellen, insbesondere wegen dessen Taurus-Ultimatums. Doch Merz hält sich seitdem bedeckt, gibt den Genossen keine Angriffsfläche mehr.
Ist die neue Ukraine-Schuldenbremsen-Erzählung also eine neue Strategie aus dem Willy-Brandt-Haus? Gut möglich. Wie sehr sie bei den Wählern verfängt, werden die nächsten Wochen zeigen.
Auf ukrainischer Seite ist der Frust über das Agieren der deutschen Sozialdemokraten jedenfalls deutlich erkennbar. Auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos kritisierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Dienstag Scholz auf offener Bühne: "Man darf nicht mit den Emotionen der Menschen spielen und sagen, dass die Verteidigung auf Kosten der Medizin oder der Renten oder was auf immer geht." Ob Scholz sich davon beeindrucken lässt, ist fraglich.
- Eigene Beobachtungen