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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Land in Angst vor Putin Diesmal soll es anders kommen
In Moldau gab es ein Gipfeltreffen der besonderen Art: Fast alle Staatschefs Europas schworen der kleinen Ex-Sowjetrepublik ihre Solidarität im Kampf gegen die russische Bedrohung – nicht nur aus selbstlosen Motiven.
Diese Bilder sollen um die Welt gehen. Vor allem aber sollen sie in Moskau gesehen werden. Fast 50 Staats- und Regierungschefs aus europäischen Ländern haben sich zu einem "Familienbild" vor Schloss Mimi im moldauischen Bulboaca versammelt. Mit dabei: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im olivfarbenen Feldhemd, der allenthalben geherzt und dem die Schulter geklopft wird.
Nicht nur die Gesten sind symbolisch, auch der Ort ist es: Von hier aus sind es nur etwa 40 Kilometer bis zur ukrainischen Grenze. Die Botschaft ist klar: Wir stehen gemeinsam gegen den Aggressor Russland. Mehr politischer Mittelfinger in Richtung Moskau geht nicht.
Offiziell heißt das eintägige Treffen am Donnerstag "Europäische Politische Gemeinschaft" (EPC) und ist eine Art erweiterte EU. Eingeladen waren 44 europäische Länderchefs. Fast alle sind gekommen – bis auf Wladimir Putin und den belarussischen Präsidenten Lukaschenko, die nicht erwünscht waren, sowie den gerade wiedergewählten türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der ganz kurzfristig abgesagt hat. Dies sei kein Treffen "EU und andere", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz. Es sei vielmehr eine gesamteuropäische Antwort auf Putin.
Die Idee stammt vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Ein erstes Treffen fand im vergangenen Oktober in Prag statt. Nicht alle sind vom Format überzeugt. Einige fürchten, die EU könne es als "Trostpreis" anstelle eines EU-Beitritts missbrauchen. So mahnte der albanische Premierminister Edi Rama, die Beitrittsverhandlungen müssten ohne Zögern fortgesetzt werden. Unter den "älteren" Beitrittskandidaten wie Albanien, Serbien, Nordmazedonien und Montenegro ist die Sorge groß, die "Neuen", Moldau und vor allem die Ukraine, könnten beim Beitritt den Vorzug bekommen, während sie in die Röhre gucken.
Für Moldau ist der Gipfel eine Überlebensgarantie
Aber für die moldauische Präsidentin Maia Sandu und ihre Regierung bedeutet das Gipfeltreffen viel mehr als schöne Bilder, warme Worte und die Demonstration, dass selbst ein kleines Land wie Moldau ein solch großes Treffen unter strengsten Sicherheitsauflagen gestemmt bekommt.
Es ist ihre Überlebensgarantie, die die Gäste aus Eigennutz geben.
Denn auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung noch hinter Sandus proeuropäischem Kurs steht, so ist das Land zerrissen. Davon zeugen die seit Monaten andauernden Massenproteste, die von der Opposition organisiert und die von Moskau mitgesteuert werden. Eine Inflation von über 40 Prozent und hohe Energiepreise bei stagnierenden Löhnen haben den Menschen zugesetzt. Viele müssen sogar am Essen sparen, um es durch den Monat zu schaffen.
Schlimmer noch: die kleine Republik (rund 34.000 Quadratkilometern, etwa 2,5 Millionen Einwohner), die im Westen an Rumänien – und damit an die Europäische Union – und im Norden, Süden und Osten an die Ukraine grenzt, wird als Putins nächstes Angriffsziel gehandelt.
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Im Februar erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow Moldau zum "antirussischen Projekt" des Westens. Im März wurde ein Papier öffentlich, das aus dem Kreml stammen soll und beschreibt, wie die frühere Sowjetrepublik mithilfe von prorussischen Strömungen wieder auf kremltreuen Kurs gebracht werden soll: indem die Regierung gestürzt und durch Kreml-Getreue ersetzt wird.
In Nato-Kreisen hält man auch ein militärisches Vorgehen Russlands trotz des unvermindert tobenden Krieges in der Ukraine für nicht unrealistisch. Wenn Putin zu sehr unter Druck gerate, könne er Moldau angreifen lassen, um "auf andere Weise die Eskalationsoberhand zu behalten", sagt ein Nato-Experte. Zumal russische Soldaten schon vor Ort sind: Rund 1.500 von ihnen sind seit Jahren als "Friedenstruppe" in der abtrünnigen Region Transnistrien stationiert, die sich 1992 als unabhängig erklärte, aber von Moskau wirtschaftlich und politisch gelenkt wird.
Die Gegenbotschaft des Gipfels hatten Olaf Scholz und die anderen europäischen Staatslenker bereits in den vergangenen Tagen in Form von Videobotschaften in den sozialen Netzwerken verbreitet. In allen fiel ein Satz: "Moldova is not alone". Moldau ist nicht alleine.
Wie weit diese Solidarität trägt? Das weiß keiner. Fakt ist: Seit Juni 2022 ist die Republik wie die Ukraine EU-Beitrittskandidat und rechnet fest mit einem Beitritt bis 2030. Fakt ist auch: In der EU halten das viele für sehr ambitioniert, zumal einige Westbalkanländer schon viel länger auf die Aufnahme in die EU warten.
Wie gefährlich es wäre, sie zu verprellen, zeigte sich ebenfalls in Moldau. Am Rande des Gipfels versuchten Scholz und Macron, zwischen Serbien und Kosovo zu vermitteln. Im Kosovo war es in den vergangenen Tagen wieder einmal zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Kosovaren und Serben gekommen, bei denen auch mehrere KFOR-Soldaten, die vermittelnd eingriffen, teils schwer verletzt wurden. Serbien ist EU-Beitrittskandidat seit 2012, was Präsident Aleksandar Vučić nicht davon abhält, immer wieder auch die Nähe zu Russland zu suchen.
Die Mahnung des ukrainischen Präsidenten Selenskyj auf Schloss Mimi an die Adresse der anwesenden EU-Chefs und -Chefinnen, keine "Zweifel" an der Unterstützung für die Ukraine aufkommen zu lassen und stattdessen die schnelle Aufnahme seines Landes in EU und Nato voranzutreiben, dürfte deshalb bei einigen Teilnehmern gemischte Gefühle ausgelöst haben. Auf die Frage, welche Sicherheitsgarantien die Nato auf ihrem Juli-Gipfel in Vilnius der Ukraine geben werde, blieb Kanzler Scholz denn auch vage.
Neben der großen Botschaft sind es vor allem die scheinbar nebensächlichen Momente, die von diesem Gipfel in Erinnerung bleiben werden. Momente wie dieser: Als ausgerechnet die italienische Premierministerin Giorgia Meloni, die einst als Postfaschistin antrat, die europäische Solidarität mit der Ukraine gegen den russischen Aggressor pries und sagte, es gehe "nicht darum, die Europäische Union zu erweitern, sondern darum, alle wieder zusammenzubringen".
Den entscheidenden Satz sagt ein anderer
Oder jener, als Selenskyj bei der Abschluss-Pressekonferenz einer moldauischen Journalistin, die ihn nach der Bedrohung durch Russland für ihr Land fragte, mit den Worten Mut zusprach: "Wir sind normale Menschen. Wir haben überlebt. Habt keine Angst."
Oder jener Moment, als der niederländische Premier Mark Rutte stellvertretend für die EU zwei Sätze sagte, die Olaf Scholz so schwer über die Lippen kommen: "Die Ukraine muss gewinnen. Und wir müssen alles tun, um es möglich zu machen."
Die Ukraine muss gewinnen. Und Moldau darf nicht verloren gehen. Das ist das Signal des Tages. Dabei geht es den Europäern nicht nur um Solidarität, sondern auch um Eigennutz. Brigitta Triebel ist Leiterin des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Moldau, war zuvor zwei Jahre in der Ukraine. Sie sagt: "Wenn in Moldau eine prorussische Regierung an die Macht kommen sollte, bedeutet das für die Ukraine eine neue Front." Für die EU hieße es, dass der russische Arm bis an die EU heranreichte – an die Grenze Rumäniens, das eng mit Moldau verbunden ist. Rund die Hälfte der Moldauer hat auch einen rumänischen Pass.
Für die EU ist Moldau eine zweite Chance
KAS-Expertin Triebel hält allerdings ein anderes Szenario für wahrscheinlicher: "Die neue russische Strategie ist, in Moldau auf Zeit zu spielen. Moskau tut alles, um Unruhe im Land zu schüren, damit dringend notwendige Reformen zu erschweren und so das Land von seinem Weg in Richtung Europa abzubringen."
Im Gipfel sieht Triebel einen "großen Erfolg für Moldau": "Er ist sicher und ohne Zwischenfälle verlaufen, das ist ohne Zweifel ein großer Imagegewinn für das kleine Land. Die Symbolik des Ortes wurden in vielen Statements der Regierungschefs noch einmal aufgegriffen, Selenskyj hat dabei explizit auf die Gefahren des ungelösten Transnistrien-Konfliktes verwiesen."
Für die Europäische Union ist Moldau eine zweite Chance. Die Gefahr für die Ukraine haben viele erst sehen wollen, als es schon zu spät war. Auch die deutsche Regierung. Diesmal glaubt keiner, dass Putin nicht bereit wäre, mit Moldau weiterzumachen.
Der Verlust dieser Illusion – für die kleine Republik könnte es das sein, was sie am Ende rettet. Wenn es die Europäer tatsächlich ernst meinen.
- Eigene Recherche vor Ort in Moldau